2015년 1월 27일 화요일

Stille Welten 3

Stille Welten 3

Nun spielt sich’s aus einer, ich mochte sagen, gleichsam mathematischen
inneren Anschauung ins Menschliche, Organische, in den Bereich des
Geformt-Korperlichen, kommt es naher, kommt Er naher, oder Es --, ein
doppeltes in einer Einheit, eine zwiefache Einheit, das Widerspiel und
Ineinanderspiel des Mannlichen und Weiblichen in Einem. -- --

Das Denken der Menschheit hat durch Milliarden von Generationen Gott
gesucht, um immer deutlicher zu erkennen, daß sein Ziel nur die
Menschheit selbst ist, und im letzten Grunde wieder das Individuum,
aber nicht bloß das menschliche, sondern das Individuum uberhaupt, und
der Mensch als Individuum.

Und was ist das, dieses Individuum? Ein sich Bildendes, Wandelndes,
dunkel Wollendes; eine -- _causa movens_? Ein... das letzte Ratsel! --
Das Unenthullbare!...

       *       *       *       *       *

Staatsaktionen, Herrscher, tagliches Lebensspiel ...

Wie denn nur? -- Alles hat seine Wurde, und alles ist doch ein
Gleitendes, Fließendes.

Ich sitze immer nur vor diesem einen Strudel und sehe immer nur dieses
sein Kreisen...

Ich sehe ein ungeheures Netz. Worte und Werte seine Knoten. Die ewigen
dunklen festen Runen, das Geistige... Und alles, alles wird Wort, und
ist...

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das
Wort“...

       *       *       *       *       *

Da ist ein Bild in meinem „~Graphic~“.

Unterschrift: „_The expulsion of the Jesuits from France. -- Inside
the convent. -- The Commissary of police reading the decree of
expulsion before breaking open the inner door._“

Die gehalten-bestimmte, hoflich-liebenswurdige Haltung der Beamten;
das finstere, murrisch-erstaunte und betroffene und doch haltungsvolle
Gesicht der Patres. Die Beamten fragen und machen ihre Notizen.

Man respektiert sich und vollbringt moglichst gelassen das --
Notwendige...

Fertige, alte, kluge Zeit.




Ruhe.


Wie man sich immer wieder balanciert. --

Ich war heute sehr unruhig; irgend ein Zustand von grauester, fadester
Blasiertheit. -- Bloß, irgend etwas fangt an, ihn zu betrachten. Mit
einer so mystischen, eisigen Gelassenheit...

Und plotzlich beginnt mich eine Erinnerung wieder fur das
Gegenstandliche, fur die „Welt der Erscheinungen“ um mich herum zu
erwarmen ...

Es ist doch sonderbar! -- Man ist wie ein Kind... Die Kinder haben oft
solche Anfalle von Flauheit, wo sie nicht wissen, was sie wollen, --
ich erinnere mich zuverlassig --; man schwingt ihnen dann meinetwegen
eine Klapper vor dem Gesicht umher, bis... &c. &c.

Hm! -- Na ja! --

Es war in einem Hotelzimmer.

Eine fieberwache Nacht. Halbschlummer. Qualende Traume. Zahnschmerzen.

Nein! Das kann der Satan noch aushalten! --

Ruhe! Ruhe! Ruhe! -- Aufstehen! --

Ich steige aus dem Bett, kleide mich notdurftig an, entfache das
elektrische Licht und laufe, die Shagpfeife im Mundwinkel, auf und ab.

Das Winterzwielicht frostelt im Zimmer, mit Muhe ein wenig von der
Helle des elektrischen Drahtes erwarmt. Die Uhr tickert auf dem
Nachttischchen. Mein Gott, erst halb acht! --...

Ah! Ruhe! --

Ah! --

Dieses Bild, nur dieses Bild! Dieses einzige Bild, von den Ruten des
hohen Fensters umrahmt, in seiner zarten alabasternen Schonheit und
doch in der Tiefe seiner ganzen Mystik!...

Halb unbewußt und nebenbei hat es in mir fur den Bruchteil eines
Augenblickes konstatiert, daß sie durch den Gegensatz der elektrischen
Helle im Zimmer und der Dammerung des beginnenden Morgengrauens
hervorgebracht wird: aber nun gehor’ ich ihr ganz und vollig. -- Und
physischer Schmerz, Unruhe und alles, alles wird Auge und halt und
umfaßt, versteht, versinkt in diesen Anblick, in die gedankenlose, so
kostlich unrastfreie Stille dieses Anblicks. --

       *       *       *       *       *

Ja, und es ist doch nun weiter gar nichts Besonderes dabei; es ist bloß
dieses Land unten vorm Fenster. -- Es ist nichts, als der Gegensatz
und das Zueinander dieser leise verhullten, weich zarten Himmelsblaue,
dieser Blaue, die eigentlich eine graue Schicht von Schneegewolk ist,
das uber Nacht den Himmel uberzogen, und die nur dem Gegensatz des
erhellten Zimmers ihr Vorhandensein verdankt, dieser Blaue und dieser
weiten graugrunen Rasenflachen.

Aber da druben, an der Grenze, dieses stille Kleinspiel. Der Strich
der Chaussee mit den Silhouetten ihrer Telegraphenstangen und dem
nackten schwarzen Geastel ihrer Kirschbaume. Und die Laternen, die,
soweit die Chaussee Fortsetzung der Vorstadtstraße bedeutet, in
weiten Abstanden ragend, noch brennen. Druben, auf der anderen Seite,
jenseits der Chaussee dehnt sich die Vorstadt; dunkel, schwarz, mit
den pittoresken Umrissen ihrer Hausermasse in dieses tiefe Himmelsblau
einer italienischen Sommernacht hinein. -- Ein paar mude Lichtpunkte
dazwischen: erhellte Fenster. Einige grellere; drei, vier, funf in
einer Reihe: Straßenlaternen. -- Links die vier Schornsteine des
Eisenwerkes, von denen sich feine dunne Rauchsaulen seitab krauseln.
Die Fenster der Fabrikraume sind schon erhellt; aber dieser Schimmer
ihrer Vierecke, die matt wie große Perlmutterfourniere aus dem
Halblicht dieses ersten Morgengrauens hervordammern, erinnert noch mit
nichts an menschliche Thatigkeit. --

       *       *       *       *       *

Daß es nie Tag wurde und immer diese Stille bliebe und die bestandige
Moglichkeit dieses schmerz- und wunschlosen Versunkenseins, dieser
ruhigen leidfreien Einheit von Innen und Außen! --

Denn hier ist keine Bewegung, stort keine Bewegung, nicht die leiseste.
-- Nur diese eine, einzige, unbeschreibliche Stille, in der selbst
dieses leiseste Krauseln des Schlotdampfes stockt...

Ah! -- Wie ein leiser feiner Schreck! -- Eine Fahlheit hat sich uber
die tief-satte Fulle der Farben gezogen, und dort, von rechts her,
mit ihr, eine erste Bewegung. Kleine, schwarze Schattenrisse kriechen
langsam uber das weite Graugrun. Die Karrenschieber, die den Tag uber
braunen Humus auf den Rasen fahren. --

Aus!...




Beim Turmer.


Es ist so wunderbar klares, sonnig-mildes Wetter, und das liebe
Himmelsblau ist so frisch und atherisch: man mochte ein Vogel sein! --
Aber ich besinne mich, daß ich wenigstens wieder mal in die Stadt gehen
und auf den Rathausturm hinaufsteigen kann, zu meinem alten Freund, dem
Turmer. --

Der Rathausturm, der noch dazu erhoht liegt, ist reichlich so hoch
wie der Stadtkirchturm. Er hat auch dieselbe mit schwarzem Schiefer
gedeckte Zwiebelkuppel der alten Jesuitenkirchen, wie man sie von
gleicher Art gegen die Alpen hin im Bayerischen Oberland uberall
finden kann. -- Dicht unter der Kuppel hat Meister Schwalbe, der
Turmer, seine Wohnung. Vier Fenster geben den Blick nach allen vier
Himmelsrichtungen hinaus. Auf der einen Seite giebt es einen kleinen
Balkon. -- Man nimmt ein paar Flaschen Bier mit hinauf, wird sich mit
Meister Schwalbe auf den Balkon setzen und was plaudern, indes man den
wunderschonen Ausblick genießt, oder, wenn der Meister gerade Stuhle zu
flechten hat, nun! dann kann man sich auch solo hinaussetzen und sich
an der Luft und der Aussicht freuen...

Ich finde Meister Schwalbe zu Hause. Er sitzt in seiner behaglichen
Wohnstube und flechtet Stuhle. An der Wand neben dem Kachelofen hangt
das machtige Tuthorn, mit dem er nach allen vier Himmelsrichtungen die
Feuersbrunste signalisiert.

Kostlich! Das sonnige Zimmer mit seinem kleinburgerlich sauberen
Hausrat ist ein Idyll! --

Meister Schwalbe, der sein Sechzigstes hinter sich hat, sitzt neben dem
großen Tisch, auf dessen grun auf schwarz geblumtem Wachstuchuberzug
noch das Geschirr und die Uberreste des Vesperkaffees stehen. Er hat
seine Hauskappe auf und die Kurzpfeife in seinem graumelierten halb
schalkhaften, halb gelassen-wurdevollen Altschafergesicht und pafft
bedachtig vor sich hin. Im ubrigen ist er in seinem Arbeitsornat und
hat die blaue Leinenschurze uber die blaugestrickte Wolljacke geknupft.
Um ihn herum krauselt sich ein graugelbes Gewolle von Stuhlrohr und vor
sich hat er einen Stuhlsitz, den er neu uberflechtet. -- Sein steifes
Genick dabei! Diese behaglich langsamen aber zwecksicheren Bewegungen!
Diese tiefe, ruhige Kehlbaßstimme, vom Paffen unterbrochen und hin und
wieder ein wenig zischend und brodelnd, weil ihm seine Rauchthatigkeit
den Speichel zusammenzieht ...

Kurz und gut: der prachtige brave alte Meister Schwalbe, Turmwachter,
Stuhlflechter und untruglicher Wetterprophet! --

Aber mit hinaus kommen wird er erst nachher, wenn er seinen Stuhl
fertig hat. Ich mache mich auf den Balkon...

       *       *       *       *       *

Da haben wir das ganze Nest, halb Stadt, halb Dorf...

Die Straßenzeilen mit dem Gewinkel ihrer Hauserchen. Die paar Menschen
dazwischen. Schlafriges Geratter von ein paar Lastwagen. Der friedliche
Larm spielender Kinder, Hundegebell und Gansegekreisch.

Der Marktplatz unter mir mit seinem Brunnen und seinem hockerigen
grasdurchwachsenen Pflaster. Die alten Honoratiorenhauser. -- Liebe
Zeit! wie ist das alles so klein, so still, so mollig, so unpathetisch!
--

Das Gelande draußen mit seinen Feldern, Chausseen, Obstbaumwegen und
glitzernden Gewassern; die Berge mit ihren Waldern; das Schloß mit
seinen Turmen und Umwallungen aus den dichten herbstlichen Laubmassen
heraus. --

Vogelschaugedanken! --

Sie lenken sich heute mal auf die „Profession“, auf die liebe „Kunst“.
-- Die „_paysage intime_“ von Meister Sommerfeld, des Buchbinders, Hof,
in den ich gerade so recht schon hineingucken kann, giebt ihnen ihre
Richtung.

Naturlich so ein richtiger kleinstadtischer Hof mit dem Idyll seines
ganzen romantisch-pittoresken Kleinkrams. -- Die getunchten Wande
des Wohnhauses und der Stallgebaude mit einem unendlich verzwickten
Gewinkel, mit ihrem narrischen verwitterten Ziegeldachwerke, mit ihren
blaugrauen Holzgallerien, mitgenommen von Wind, Luft, Sonne und Regen.
Der Dungerhaufen, das bunte Huhnervolk, allerlei wunderliches Gerumpel,
Gott! und so weiter.

Ja, wie so allmahlich das Pathos stirbt und das _al fresco_ und die
„Hohenkunst“ heutzutage! -- Wie alles intim wird, Farbe, Nuance,
Seele, sich differenziert! -- Wie die liebe Kunst immer heimischer
wird, irdischer, wirklicher! -- Und doch, wie bei allem selbst die
Wurde und Bedeutung des „Geringfugigen“ und „Haßlichen“ mehr und mehr
empfunden wird, zu Tage tritt und die Asthetik immer siegreicher
revolutioniert! -- Wie unsre Kunst aus sich selbst heraus immer
asiatischer, ostlicher, fertiger wird! -- Ich denke an einige
japanische Gesichtsmasken, die ich zu Hause habe, und an unsre heutige
Vorliebe fur dergleichen Kunstprodukte, und wie wir diese Weise
von Kunstbethatigung immer mehr verstehen lernen. -- Diese Kunst
mit dem ganzen mystischen Zauber ihrer Realistik, ihres fertigen,
alles erraffenden, alles erfuhlenden Naturalismus, und wie seine,
des verachteten, identische Wirkung immer eindringlicher wird, denn
alle Entwicklung fuhrt zur Identitat. -- Die lyrische Emphase eines
jahrtausendelangen Kulturkampfes laßt nach, wie er sich nach den
letzten Entwicklungssturmen des Mittelalters immer mehr gefriedigt hat
und seiner Fruchte und Erfullungen froh zu werden beginnt...

       *       *       *       *       *

Ich sitze und spure nur so, wie kostlich frisch die Luft geht, wie
klar und blau der tiefe Himmel, und fuhle den Pulsschlag des Lebens
rings unter meiner Hohe und sehe die Seele dieses kleinen Nestes, die
im Kleinen und Malerisch-Krausen doch so mystisch intim und mannigfach
ist. -- Denn was besagt Alltaglichkeit? Alles ist ratselhaft, alles das
gleiche Problem und dies Problematische ist auch der Untergrund und die
heimliche, schlichte, tiefe Seele moderner Kunstwirkungen...

       *       *       *       *       *

Aber Philosophieren ist uns so uber geworden. Es ist ja nun auch
nachgerade seit Jahrhunderten und Jahrtausenden alles, aber auch
geradezu alles zusammenphilosophiert worden. Es kommt einem alles so
rund und so fertig vor. --

Mein lieber Lynkeus, Meister Schwalbe, setzt sich zu mir mit
seiner Pfeife und seinem weisen gelassenen Gesicht, in dem so viel
still-kluger Humor ist, und es ist uber alles Philosophieren, wenn wir
vom Wetter sprechen, oder von den lieben Nachbarn, oder was hier und
dort so alles in der Welt passiert. -- Lieber Gott ja: aller Weisheit
Schluß und Anfang ist eben, daß die Leute sich verheiraten, Kinder
kriegen, wirken und sterben von Urbeginn zu Urbeginn...




Die Hyacinthe.


In einem eigens dazu hergerichteten Glas habe ich eine
Hyacinthenzwiebel.

Wie kostlich zu beobachten, wie sich hier die Natur gestaltet! So
schlicht, so still, mit so kraftigem wohligen Behagen.

Zuerst ist es nur die Zwiebel. Aber wie viel Freude, sie zu betrachten,
wie sie da vor mir auf dem Schreibtisch steht, zwischen allerlei
Kleinkram und Erinnerungen, selbst eine liebe Erinnerung.

Das zartfrische Farbenspiel ihrer Schale: in allen feinen und feinsten
Nuancen spielend zwischen Braun, Blaulich, Weiß, Violett und Lila.
Oben ist ein hellgrunes gelbliches Spitzchen, mit der der innerlich
schlummernde treibende Lebenskeim zu erwachen beginnt. Unten viele
feine, lichtweiße Wurzelfaserchen, die sich munter in das Wasser
hinabschlingen.

Die Lust, das unbandige Behagen in diesen Windungen! Das Spreizen
dieser Formen!

Man muß unwillkurlich druber lachen.

Ich hore ein Kind lallen und gurgeln, sehe es mit seinen Zehchen
spielen, mit seinen dicken Handchen vor sich hingrappsen im sußen
Dammer seines ersten Seins.

Diese Lust, zu beobachten, Tag fur Tag, wie es mehr und mehr erwacht
und wird und wird, seitdem ich es aus der dunklen Schublade hier in
sein Lebenselement gebracht.

Jetzt sind es schon ziemlich lange Blatter. Unten, wo die Kraft
des ersten Keimes die Schale zur Seite gespellt hat, sind sie
hell-gelblich-grun, nach oben ist das Grun blaulicher.

Es sind -- eins, zwei, drei, vier, funf Blatter.

In ihrer Mitte drangt sich die lichtgrune Blutendolde keck und
lichtbegierig herauf, zwangt zur Seite, dehnt sich in die Breite und
Hohe mit ihren wasser- und saftstrotzenden Zellen. Und wenn ich genau,
ganz genau hinsehe, dann merke ich, wie leise, leise ihre grunen
Hullenblattchen sich zu spreizen und zu losen beginnen, wie es sich
ungeduldig drunter regt und bunt und prachtig hinaus will ins freie,
frohliche Licht.

Ab und zu hemm’ ich das allzu uppige Wachstum der Blatter, und schneide
ihre Spitzen ab, damit die Blute an Kraft und Freiheit gewinne.

O, hochstens noch eine Woche: dann jubelt es mir in bunter junger
Herrlichkeit entgegen und mein Zimmer ist des sußen Duftes voll...




Die Fliegen.


Die gute Sonne!

Vor mir auf dem Fensterbrett haben die Fliegen ihr Treiben. Sie
trippeln durcheinander, reiben sich den Hinterleib, fliegen gegen die
Fensterscheibe auf.

Plotzlich kommt mir, ich weiß nicht wie? eine Erinnerung.

Ich sehe den Kirchhof wieder.

Es ist wieder der graue Tag, der mit Regen droht. Im fahlen Licht
stehen die Leidtragenden um das offene Grab herum. Uber sie erhoht, auf
der aufgewuhlten Lehmerde, hat der Prediger seinen Stand, der Prediger
mit seinen Baffchen, seinem Talar und seiner hohen Mutze, und spricht
den Segen uber den Sarg, der eben mit einem dumpfen Schollern in die
Tiefe verschwunden ist.

Einer nach dem andern tritt heran und laßt seine Handvoll Erde
hinunterplumpen.

Aber das Weib!

Mit einem winselnden Weinen hat sie dagestanden und im verhaltenen
Wahnsinn ihres Leides das Taschentuch zerrissen. Und nun ist sie nicht
mehr zu halten, in diesem letzten, so erbarmungslosen Augenblick.

Mit lautgellender Wehklage ist sie auf das Grab zugesturzt, ist
hineingesprungen und umklammert nun den Sarg.

Es war zum Nievergessen! --

... Mir kommt ein Gedanke.

Behutsam hebe ich die Hand, schlage zu und wage einen Mord.

Gegluckt! -- Eine von den Fliegen liegt tot.

Fur den ersten Augenblick sind die andern gegen die Fensterscheibe
aufgeflogen; aber bald sind sie wieder zuruck. Geschaftig trippeln sie
umher, als wenn nichts geschehen ware.

Nur eine von ihnen ist auf die tote Spielkameradin gestiegen und hat
fur einen Augenblick den Saugrussel in den Blutstropfen gesenkt, der
aus dem zerquetschten Korperchen gequollen ist, und saugt...




Bornschein.


Druben an der Mauer liegt Bornschein, der Bottcher, wieder einmal
stockbetrunken. Der Lange nach liegt er unter dem Fliederbusch und die
Nachmittagssonne brennt auf seine Kleider.

Die Nachbarn stehen im Kreis um ihn herum, schutteln die Kopfe,
schwatzen, lachen, haben ihre Unterhaltung und machen ihre
Glossen. Reger ist die liebe Jugend. Sie haben Kiesel und Steine
zusammengetragen und werfen nach seinem Bauch und seinen Beinen. Die
ganze sonnenstille Gasse schallt von ihrem Eifer.

O Phantasie!

Ich bin Bornschein. Mein Gesicht ist breit und gedunsen, mit borstigem
Bart und Kopfhaar, und gluht von Sonne und Alkoholdunst. Und Sonne und
Alkohol gluhen durch den seligen Dusel meines Rausches und lallen aus
mir heraus mit dumpfen dunklen Worten in eine wogende flimmernde Welt
von wunderlich verworrenen Gestalten und Lauten.

Meine armen thorichten Atome lechzen nach Kuhlung. Langsam, automatisch
regt sich ein Arm, zuckt ein Bein, von einem Kiesel getroffen.

Kuhlung! Wie ein fernes Bedurfnis ist es in mir, ein Bedurfnis meiner
klugen Sinne, meines Lebenswillens, von dem meine Seele doch fern ist.
Ein Bedurfnis und keins...

Aber wie ich hier oben zwischen den roten Geranien hindurch zu mir da
druben hinuberluge, schreit meine arme Seele nach Wasser, nach Wasser...

O ewige Vernunft!

Druben offnet sich die Thur, schadenfroh und flachshaarig tritt ein
lachendes Mitleid mit einem vollen, triefenden Wassereimer auf die
Straße. Friedrich, der Hausknecht vom „goldenen Adler“.

Und nun: den Eimerring in der Linken! Die breite, braune Rechte packt
den Boden, kippt... Brrr!...

Gottseidank!

Bornschein trieft und zuckt wohlig wie ein Aal in der Fischwanne und --
schimpft. -- Undank ist der Welt Lohn! -- Aber die „Welt“ ist diesmal
uber Undank erhaben. Die Nachbarn lachen und die liebe Jugend brullt
Halloh.

Ich atme auf, hier in meinem Blumenwinkel, und denke in meinem lieben
Herzen, wie alles in dieser herrlichen Welt, selbst Bornscheins Atome,
bis in meine liebe verwunschte Einbildung hinein, hat, was es bedarf.
--




Bibellekture.


1. Incarnation.

Seit einigen Tagen les’ ich die Bibel. Das Exemplar, das Frau Haberland
in ihrem Glasschrank hat. Es ist eine schone alte Familienbibel, in
Quartformat, aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, ein wahrer
Koloß, solid in braunes Leder gebunden, mit zwei Messingverschlussen,
jeder eine Figur, ein Apostel wohl oder so etwas. -- Dieser Duft,
dieses dicke vergilbte Papier, diese großen fetten Lettern und die
Familienchronik mit ihrer altfrankischen Schnorkelschrift gaben
mir wieder mal den Geschmack fur diese Lekture. -- Die Madame war
so liebenswurdig, mir das ehrwurdige Monstrum anzuvertrauen, und
nun vergeht selten ein Tag, an dem ich nicht uber diesen braven
altvaterlichen Holzschnitten und diesen kostlichen Drucktypen saße und
mein Pensum erledigte.

Wenn’s das Wetter irgend erlaubt, sitz’ ich dabei am liebsten hinten
im Garten, in der Pfeifenkrautlaube. Vornehmlich bei der Lekture
der Patriarchenhistorien war es die beste Umgebung. Man sieht uber
die Rotdornhecke hinweg auf die Hugel, und da hat denn wohl die
große Schafherde von der Schloßdomane ihr Wesen; man hort die gelben
Wolfshunde klaffen, man hort das Trappeln und Rauschen der erschreckten
Tiere, die von ihnen beieinander gehalten werden. Man gewahrt die
Gestalt des Schafers in seinem langen blauen Schoßrock mit den blanken
Knopfen und dem breiten Lederriemen, mit seinem altfrankischen Filzhut
und seinem langen Schlenderstock, man hort seine Zurufe und wie er
auf die Hunde schilt. Laban und Jakob, Joseph und David. -- Oder man
hort die Laute des Geflugels, der Haustiere, Pferdewiehern aus der
Nachbarschaft oder das Brullen der Kuhe...

       *       *       *       *       *

Gegenwartig bin ich bei den Propheten, und da kommen mir so allerlei
Gedanken und Betrachtungen; Gedanken und Betrachtungen, mit denen
ich mich meinem goldenen Freigeist, dem Herrn Aktuarius Nerrlich,
nicht anvertrauen konnte, ohne befurchten zu mussen, wegen einer
bedenklich reaktionaren Rechtsschwenkung seiner mir so werten
Freundschaft verlustig zu gehen; denn es sind nicht nur diese ersten
Kindheitserinnerungen, die da in diesen Lesestunden mit lebendig
werden, auch nicht bloß und lediglich so etwas wie Feinschmeckerei
und „historischer Standpunkt“, obgleich das alles naturlich mit
unterlauft: nein, es ist auch noch etwas Anderes. Denn das ist nun so:
jedes gute und bedeutsame Buch hat seine ewig frische und lebendige
Wirkung, und die bedeutendsten variieren ja nur immer wieder den einen
ewigen und gleichen Text. -- So will mir zum Beispiel auch keinerlei
rationalistische Exegese an die alten Sagen und Wundermarchen heran.
Ein feinerer Sinn spurt das Wunder der Wunder hinter ihrer ehrwurdigen
Symbolik und staunt aus einem modern-differenzierten Verstandnis der
Lebens- und Naturvorgange heraus, das uns gerade wieder die Ergebnisse
der neuzeitigen Wissenschaften, und nicht zum wenigsten der exakten,
gebracht, uber die tiefe Lebensweisheit, welche sich in diese Symbole
verdichtet hat.

Ich komme von der Lekture psychophysiologischer Bucher; man hat
als Mensch der Neuzeit neben allen geistigen Zuflussen seine
Nervenerfahrungen, und weiter hat der ringende Geist Alterfahrenes
und Fruhvertrautes, Einflusse und Eindrucke erster Jugendzeit und
ihren unverwustlichen Gehalt, der sich allen Ansturmen einer
materialistisch-kritischen Durchgangsperiode zum Trotz aus all ihren
Entwicklungswehen heraus behauptet hat, mit den neuen Ergebnissen
vereinbart: wie eigen mutet einen da diese Lekture an! -- Und um so
fuhlbarer und eindringlicher ist ihre Ehrwurdigkeit, je tiefer man
spurt, wie die eine und gleiche Wahrheit immer nur wieder in Symbole
sich fassen laßt...

       *       *       *       *       *

Ja, diese Propheten!

Es fallt einem so ein, was die alten Kirchenlehrer von Erwahlung,
Berufung, Pradestination geschrieben, oder etwa Platon von den Ideen,
von der Annamnese, man gedenkt der Lehren der Veden und des Buddhismus,
was bei den Pythagoraern als Metempsychose wieder auftauchte, und
wie diese bereits bei den Egyptern gelehrt war, man berucksichtigt
etwa den Zusammenhang von alledem, sieht sich etwa auch mit genauen
Augen und mit so einem stillen Ahnen die neue Wissenschaft und die
Entwicklungslehre des Darwinismus an, in der so unendlich viel
Moglichkeiten und Urwurzeln von Ideenverbindungen schlummern, die
einen, wie sie in ungewissen Umrissen auftauchen, so verwunderlich an
uralte Weisheits- und Weltbetrachtungsergebnisse erinnern und einen
mystischen und urnotwendigen Zusammenhang menschlicher Weisheit neu
bezeugen: mit alledem betrachtet man diese Propheten.

Man gewahrt ihr Pathos, in dem in ewig staunenswerter Mystik
unterbewußte geheime Gedankenverknupfungen und wohlverwahrte
ewige Erfahrungen sich dichten, in dem sie mit ekstatischer Macht
hervorbrechen; und nun will man das Geheimnis nicht erklaren -- man
kann das in seinem letzten Grund Unerklarliche nicht erklaren -- man
fuhlt es und fuhlend besitzt man, weiß man, mit einem geheimen,
unmittelbaren, identischen Wissen. -- Denn was heißt das, wenn ich
mir etwa diese Gewaltigen und ihr Wirken zu einem Teil pathologisch
erklare? -- Erklare! -- Was heißt das, wenn ich sage, Mohamed war
ein Epileptiker? Wohl, aber wenn ich mir jene ehrfurchtigen Begriffe
der Alten in ihrer schlichten und doch so tiefen und sinnreichen
Bescheidenheit vergegenwartige, etwa die Begriffe der Erwahlung oder
der Incarnation, so verstehe ich mit einem so machtig konzentrischen
Verstandnis. ---

       *       *       *       *       *

Incarnation! --

Es ist ein frischer Herbstvormittag. Ein gleißendes Sonnengold leuchtet
uber den Hugeln. Mit einer machtigen Energie, in gewaltigen Linien,
mit breiten Flachen, in gigantisch-majestatischen Wolbungen ballt
sich, schiebt sich, schießt ein weißes Gewolk vom Horizont auf uber
das klare Blau. Luftstromungen mit ihrem unaufhorlichen Rauschen
und Sausen gehen durch die Feiertagsstille der Fruhe. Innerlichst
belebt und hingenommen von dem Rhythmus dieser gewaltigen Perioden
mit der eindringlichen, schlichten und doch so machtigen Energie
ihres Gefuges, dieses _Parallelismus membrorum_ althebraischer Poesie,
wend’ ich uberwaltigt mein Gesicht von den Zeilen in die Hohe, und
meine Sinne richten sich unter dem Zwang dieser Lekture uber das
kunterbunte Kleinleben meiner Umgebung hinweg wie unter dem Einfluß
einer heimlichen magischen Gewalt, die Gleiches dem Gleichen eint,
unwillkurlich hinuber zu den weiten freien Linien des Berglandes, den
gewaltigen des Gewolkes, zu diesem monotonen großen Akkord der bewegten
Lufte. -- Der Sturm! „Du weißt nicht, von wannen er kommt, noch wohin
er geht, aber du horest sein Sausen wohl.“ --

Und wie ich sehe und hore, unwillkurlich, hingenommen, ganz ein
einziges, großes, gesteigertes Empfinden, in dem meine Nerven feiner
und subtiler aufnehmen und reagieren, beleben und vertiefen sich so
eigen meine Wahrnehmungen, und fast wie in einer undefinierbaren
Raumdimension, die in irgend einem Punkt, in irgend einer Weise
eine mystische Einheit ist von drinnen und draußen, -- mein
Personlichkeitsbewußtsein ist in ihr halb entschlummert -- regt es
sich in einer unsagbaren Weise und flustert einem Verstandnis in mir,
das versteht, ohne Worte zu horen. Und irgendwie ist Wolkengebilde,
Windstromung, Berglinie, Farbe und Form, auf die mein dammerndes
Bewußtsein nicht achtet und die es doch hat, gleich und eins mit
Blutwallung, Vibrieren des Nervenfluidums, Muskelbewegung und
irgendwie Offenbarung und Mitteilung, Werden. -- Und in einem stillen
Zeugungsakt dieser geheimsten Bewegung, die irgendwie in unmeßbaren,
millionenfachen Vibrationen flirrt, gebiert sich, ringt sich dunkel ein
Wort los, ein Wort, ein Ur-Keim- und Kernwort, das sich zu entfalten
beginnt, in Ideen- und Gedankenfolgen sich entfaltet zu einer ganzen
Dichtung...

Incarnation! --

       *       *       *       *       *

Und nun versteh’ ich aus dem Eigensten und vergegenwartige mir und sehe.

Jene Großen gewahrten eine Not ihres Volkes, spurten sie wohl in
eigensten und individuellsten Schicksalen. Sie bemachtigte sich
ihrer schauenden reflektierenden Seele, und aus dem Getriebe des
sie umgebenden Kleinlebens begaben sie sich wohl in die Einsamkeit
der Wuste, die Stimme des Einen zu horen, und rangen in der zahen
Willensenergie ihres Volkes nach dem Wort und Willen Jehovahs, rangen
nach dem Urwort, das Licht bringt. Und sie gingen auf in ~Ihm~,
waren in ihren Ekstasen, in Fasten und Entbehrungen, in den Krampfen
ihres machtig ringenden Willens eins mit ~Ihm~; und ~Er~ war die
große Natur in der gewaltigen Monotonie ihrer Ode, die sie umgab
und auf sie wirkte, Er war die Schicksale ihres Volkes, die sich
jenen außeren Naturerscheinungen wieder innig verknupften und eins
ihrer differenzierteren Ergebnisse waren, Er war ihre individuellen
Schicksale, Erlebnisse und Fahigkeiten, die wieder eins in jenen
und eins im Einen und Gleichen, und Er war ihr Korper mit der
Thatigkeit der Muskeln, Eingeweide, Nerven, seines machtigen Gehirns,
dieser Korper, dieses Gehirn ein Willens- und Kraftcentrum der
Volksgemeinschaft, die sie erzeugt, und das alles in diesen Stunden Er
in seiner einen und einzigen Einheit! Und in dieser Einheit, in ihnen,
zeugte ~Er~ als in Sich, zeugte die Einheit das Wort, das fruchtbare
Wort, das diesem Volk not that, schuf ~Er~ sie zu seinen Helden,
Gewaltigen und Verkundern in Mose, Jeremia und wie sie alle hießen,
verkorperte ~Er~ sich in ihnen zum Helfer und Ermahner seines Volkes...

Incarnation. --

       *       *       *       *       *

Incarnation. --

Diese bestimmte judische Volksgenossenschaft; eine Gemeinschaft sie
wieder von so und so viel Sondergenossenschaften, die sich gegen
einander abgrenzen durch ganz bestimmte und besondere Interessen,
bedingt durch die Verschiedenheiten der einzelnen Landschaften,
durch den jeweiligen Charakter der Natur, der sie unter bestimmten
Bedingungen ihren Lebensunterhalt verdanken, durch Familien- und
andere soziale Interessen. -- In einer dieser Gemeinschaften, in
der sich vielleicht offenbar oder geheim alle Interessenfaden der
Gesamtgenossenschaft als in einem offenbaren oder geheimen Centrum am
intimsten verknupften, wurde in einer ganz bestimmten sozialen Lage
einer dieser Erwahlten geboren.

Wie wunderbar dieses Emportauchen eines derartigen Individuums! --
Wie ratselhaft stellt es sich dar! -- Vielleicht waren alle, die ihm
zunachst standen, seine Eltern, seine Geschwister, Verwandte Menschen,
die dem Leben einen entschiedenen praktischen Thatigkeitstrieb
entgegensetzten, vielleicht als Ackerbauer. Ganz anders dieses
Individuum! -- Vielleicht ein schwachliches Kind, mit vorwiegend
nervoser Disposition, vielleicht auch ohne eine solche beschaulichen
Charakters, aber doch dieser stille, mit so machtiger Energie nach
innen raffende Wille. Still, wohl gar scheu er in seinem Gebahren, aber
lebhaft sein Interesse jeder Erscheinung im Bereich seiner Umgebung
zuwendend, und dann wieder das Wahrgenommene in sich verarbeitend,
zuruckgezogen von der Thatigkeit der Seinen, den Spielen und
Zerstreuungen der Altersgenossen.

Und dieses Insichverarbeiten! -- Dieses Versunkensein! Diese
stille, so rastlose Thatigkeit des Gehirns! -- Dieser sonderbare
Assimilationsprozeß! -- Zuruckzuleiten auf physiologische, zu
begreifen als physiologische, ja im letzten Grunde chemische
Vorgange und Prozesse, im ~letzten Grunde solche bedeutend~ und
dennoch -- ~denken~!... Im Cirkel der lebhaften, den außeren
Dingen zugewandten, praktisch nach außen gerichteten Betriebsamkeit
der Menschen seiner Umgebung, dieses Individuum wie ein stiller,
stillhaltender, ruhender Punkt, in einer heimlichen, wie magnetischen
Affinitat mit den Lebensvorgangen ringsum, dieses Individuum mit seinem
mystischen Erraffen! -- Er, der Schwachste, Passivste vielleicht, der
Stillste unter seinen Genossen, mit dieser mystischen Disposition
innerlich ihrer der Lebendigste, mit seinem großen, geistigen
Korper, mit diesem amorphen Korper heimlicher Blutstrome, heimlicher
Nervenvibrationen, deren zustromende Energie das Gefuge seines
sichtbaren individuellen Korpers erleidet, unter der er erschauert
wie eine Sensitive, diese Energie, die dieses sichtbare, zarte und
durch die Macht seiner Disposition doch so zahe Gefuge schuttelt,
erbeben macht, durchkrampft, und doch die unerhorte Gewalt seines
erraffenden, erprobenden Willens nicht zu vernichten vermag, so sehr
sie’s erschuttert, bis dieser schwache Korper gestahlt ist und in
ihm sich aus den Seinen der Eine konzentriert und geboren hat, der
ihnen notthut, Jehovah in ihm vermoge eines mystischen Zeugungsaktes
sich incarniert hat: Er, zuvor der Schwachste, Unscheinbarste, wohl
gar Mißachtete, wenn nicht Verspottete mit dieser Disposition die
Seele, der stille Wachter seines Volkes. ~Er~, die nach innen
konzentrierte Energie der Seinen und sie in irgend einer mystischen
Verknupfung Seine nach außen gewandte Energie. --

Incarnation! --

Und ich gedenke im Sonntagsfrieden dieser Morgenstunde des biblischen
Wortes: „Die Cherubim und Seraphim, seine Gewaltigen und Helden, die
vor seinem Throne stehen“, und es bekommt einen so besonderen Sinn, und
ich bedenke, wer Gott und seine Helden nicht aus der Welt geschafft,
sondern ins Deutliche, Vertraute, Menschliche geruckt und offenbar
geworden sind, thronend doch in einem Lichte, da niemand hinzukann...


2. Gethsemane.

Die Nacht brach an. Der Rabbi verließ das Haus, wo er mit den Zwolfen
das Passahlamm gegessen nach dem Brauch und den Lobgesang gesungen.

Als er mit den Jungern auf die Gasse trat, stand die helle Scheibe des
Vollmonds groß und rund uber Moriah und legte ihren weißen Schimmer
auf die Tempelgebaude. Wie fur eine Ewigkeit aufeinander gequadert
dehnten sich die dunklen Steinmassen mit ihren gewaltigen Saulengangen
in duster-heiliger Pracht, mit massiven Mauerkranzen und dem mystischen
Flechtwerk ihrer Ornamente.

Der Rabbi verweilte in den Anblick verloren. Und dann wandten sich
seine Blicke uber die palmenuberragten Hauser des Tyropoion-Thales
hinuber zum Berge Zion, wo sich mit steilem Mauerwerk das Massiv der
alten Konigsburg und der Palast des Vierfursten erhob. Dort bereitete
sich jetzt sein Endgeschick. Dort wurde es sich in wenigen Tagen
entscheiden. Und da druben weilte jetzt der Junger, der ihn verraten
hatte, und wartete mit den Knechten des Hohenpriesters.

Nach Gethsemane! Dort wurde ihn Judas zu finden hoffen. Dort wollte er
sich ihnen uberliefern.

Ein versonnenes mudes Lacheln um die Lippen, wandte er sich endlich und
wanderte, Judas Ischarioth im Herzen, durch die stillen, mondtraumenden
Gassen der Bezetha und wandte sich hinab, wo der Weg in das stille Thal
seines geliebten Kidron fuhrte.

Schweigend wandelt er vor den Elfen her, die ihm in Gruppen folgen,
mit zagen Meinungen die bedeutsamen Vorfalle erwagend, die sich
soeben beim Mahl abgespielt haben: Simon Petrus und Andreas sein
Bruder, Jacobus und Johannes, des Zebedaus Sohne, alle Fischer vom See
Genezareth, Philippus, Bartholomaus, Matthaus der Zollner, Jacobus,
Lebbaus, Thomas und Simon von Kana, der Zelot.

Gesenkten Hauptes schreitet Jesus vor ihnen her in seinem langen,
glatten Gewand. Lassig und mude hangt die Linke mit dem Hut hernieder,
und die hagre, feine Rechte streicht den dunklen Kinnbart. Ihm zur
Seite schreitet scheu der Junger, den er lieb hat. In stiller ratloser
Teilnahme hangen seine Blicke an dem geliebten Meister, denn Jesus hat
zu ihnen von seiner Gefangennahme und seinem nahebevorstehenden Tod
gesprochen. Wenn das Passah voruber ist, und die Volksmengen die Stadt
geraumt haben, werden sie ihm das Gericht machen.

Das ist nicht mehr sein gewaltiger Rabbi aus Isais altem Konigsstamm,
der herrlich die Bergrede gehalten oben im galilaischen Land, als
ihm die Volker zugestromt waren aus Syrien, aus Galilaa und den zehn
Stadten, aus Juda und von jenseits des Jordan. -- Eine tiefe Furche
grabt sich ihm in die breite braune Stirn, von der die Haare, die ihm
neulich erst das Weib von Bethanien gesalbt, lang und schlicht auf die
hageren Schultern fallen. Die tiefen Augen verfolgen starr und trube
verborgene Gedanken, die kein Ahnen streift, und zwei tiefe Falten
graben sich von den Wangen herab.

„Herr, das widerfahre dir nur nicht!“

Leise, mit innerlichst verzagendem Herzen, hat es Johannes endlich uber
die Lippen gebracht, aber der Rabbi hat es nicht gehort. Einsam und
verschlossen wandert er mit seinen geheimsten Gedanken, die je und je
nur Er kannte, neben dem Junger her. Nichts von der sußen Milde ist in
diesem Gesicht, die ihnen sonst die Herzen warm machte zu dem geliebten
Meister hin.

Nein, kein armer Trost reicht an dieses Geheimste des Meisters heran.
Und Johannes verstummt vor diesem Ratselgesicht unenthullbarer
Einsamkeit. --

       *       *       *       *       *

Um die Kalkhange von Moriah herum, tief unter den hohen Tempelzinnen
oben auf dem Hugel, von dem die Woge der weißen Dacher herabflutet,
biegt der Meister zwischen den letzten Hausern hervor in den Fußpfad
ein, der in weiter Biegung zum Ufer des Kidron hinabfuhrt.

Totenstill weitet sich die ahnungsvoll dammernde Mondnacht mit ihren
wenigen großen Sternen. Nur fern von der Vorstadt her tragt die
Nachtluft das Geklaff der Schakale heruber. Unten vor ihnen platschern
die hellgleißenden Wellen des Kidronbaches und murmeln und rauschen
im eiligen Gefalle zwischen den Laubmassen der Olivenhaine hin, die
sich druben von den sanften Hohen des Olbergs anmutig in das liebliche
Thal hinabziehen. Palmengruppen ragen daraus hervor mit ihren hohen,
schlanken, mondschimmernden Schaften und tauchen mit ihren breiten,
hangenden Kronen hinein in die strahlende Klarheit der Hohen.

Nach kurzer Wanderung stehen sie vor dem Hof Gethsemane, des Meisters
stillem Lieblingsort.

Vor dem Hain hemmt er seine Schritte und heißt die kleine Schar
verweilen und seiner warten. Nur seinen lieben Brausekopf Petrus, den
stilltreuherzigen Jacobus und den jungen Johannes wahlt er sich, daß
sie ihm folgen und tritt mit ihnen in die heilige Dammerung des Haines.
Bald aber laßt er auch sie zuruck und ist ihnen im Dunkel seiner
heimlichen Einsamkeiten verschwunden...

Allein!...

Mit wankenden Knieen bricht er zusammen. Und der Menschensohn hebt an
zu trauern und zu klagen.

Und er sieht seinen schimpflichen Tod. Er sieht die Richtstatte, den
kahlen oden Kalkhugel mit seiner Schadelform draußen vor der Stadt, wo
die Verworfensten der Verworfenen ihren schmachvollen Tod sterben.

„Herr, ist es moglich, so laß’ diesen Kelch an mir vorubergehn!“

Lange liegt er im Gebet; aber kein Frieden will uber ihn kommen.
Erloschen ist die Fulle der Visionen, versiegt die Macht
leidentruckender Ekstase, die ihn an das Herz des Vaters hebt. Ein
muder, verzagter Mann windet sich hier in der Tiefe menschlicher
Ohnmacht und vergeht im Vorgefuhl einer schmachbeladenen Agonie.

Was bedeutet dies Bangen? Ist er nicht, Herr uber Leben und Tod und
ihr machtiger Uberwinder, gekommen, um zu sterben, daß aus seinem
Tode unvergangliches Leben fur die Jahrtausende sprieße? War er nicht
gekommen, des vaterlichen Geistes voll, daß die Urmacht des gottlichen
Wortes sich uber die Geschlechter der Jahrtausende spanne?

Judas...

Und wieder sieht er sich auf dem Fullen der lastbaren Eselin, und
das Volk vor ihm her, Palmen breitend und Gewander, und der freudige
Jubelruf der Scharen umbraust ihn: „Gelobt sei, der da kommt im Namen
des Herrn! Hosianna dem Sohne Davids, einem Konig in Israel!“ Und
wieder hort er den Messiasruf und die Sehnsucht seines geknechteten
Volkes.

Judas...

Und wieder, wie vor Jahren, da er die vierzig Tage in der Felsenwuste
durchfastete, will sich in ihm das heiße Thatenblut der alten
Volkskonige regen, und der Gedanke an die Macht und die Herrlichkeit
dieser Welt gleißt vor seiner Seele, und er denkt an die Verheißungen
und Hindeutungen der Propheten. Wieder, wie einstmals in der Einode,
der heißen Ideeenamme der Erhabensten seines Volkes.

Judas...

Und er gedenkt der Zuversicht seines Jungers zu ihm, dem Sproß der
Konige. Und noch einmal erheben sich die beiden Seelen seiner Brust
gegen einander im heißen Ringen. Er sieht, wie die Scharen kommen,
aus Galilaa, von Syrien her und die am Gestade des Meeres wohnen,
aus Samaria und uber den Jordan heruber, druben aus Peraa, seinem
machtvollen Wort zu lauschen. Und wie Meereswogen sieht er die Volker
erschauern unter der Gewalt seiner Rede. Und sein Konigsblut braust auf
und sein gewaltiges Messiasgehirn fuhrt sein Volk zum Sieg.

Ha, Judas!...

Seine Augen leuchten auf in einer beginnenden Ekstase.Macht! Konigspriester seines einigen weltmachtigen Volkes! --Seines~ Volkes! -- Nein, welches Volkes?! --


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