Nun spielt sich’s aus einer, ich mochte sagen, gleichsam mathematischen inneren Anschauung ins Menschliche, Organische, in den Bereich des Geformt-Korperlichen, kommt es naher, kommt Er naher, oder Es --, ein doppeltes in einer Einheit, eine zwiefache Einheit, das Widerspiel und Ineinanderspiel des Mannlichen und Weiblichen in Einem. -- --
Das Denken der Menschheit hat durch Milliarden von Generationen Gott gesucht, um immer deutlicher zu erkennen, daß sein Ziel nur die Menschheit selbst ist, und im letzten Grunde wieder das Individuum, aber nicht bloß das menschliche, sondern das Individuum uberhaupt, und der Mensch als Individuum.
Und was ist das, dieses Individuum? Ein sich Bildendes, Wandelndes, dunkel Wollendes; eine -- _causa movens_? Ein... das letzte Ratsel! -- Das Unenthullbare!...
* * * * *
Staatsaktionen, Herrscher, tagliches Lebensspiel ...
Wie denn nur? -- Alles hat seine Wurde, und alles ist doch ein Gleitendes, Fließendes.
Ich sitze immer nur vor diesem einen Strudel und sehe immer nur dieses sein Kreisen...
Ich sehe ein ungeheures Netz. Worte und Werte seine Knoten. Die ewigen dunklen festen Runen, das Geistige... Und alles, alles wird Wort, und ist...
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“...
* * * * *
Da ist ein Bild in meinem „~Graphic~“.
Unterschrift: „_The expulsion of the Jesuits from France. -- Inside the convent. -- The Commissary of police reading the decree of expulsion before breaking open the inner door._“
Die gehalten-bestimmte, hoflich-liebenswurdige Haltung der Beamten; das finstere, murrisch-erstaunte und betroffene und doch haltungsvolle Gesicht der Patres. Die Beamten fragen und machen ihre Notizen.
Man respektiert sich und vollbringt moglichst gelassen das -- Notwendige...
Fertige, alte, kluge Zeit.
Ruhe.
Wie man sich immer wieder balanciert. --
Ich war heute sehr unruhig; irgend ein Zustand von grauester, fadester Blasiertheit. -- Bloß, irgend etwas fangt an, ihn zu betrachten. Mit einer so mystischen, eisigen Gelassenheit...
Und plotzlich beginnt mich eine Erinnerung wieder fur das Gegenstandliche, fur die „Welt der Erscheinungen“ um mich herum zu erwarmen ...
Es ist doch sonderbar! -- Man ist wie ein Kind... Die Kinder haben oft solche Anfalle von Flauheit, wo sie nicht wissen, was sie wollen, -- ich erinnere mich zuverlassig --; man schwingt ihnen dann meinetwegen eine Klapper vor dem Gesicht umher, bis... &c. &c.
Hm! -- Na ja! --
Es war in einem Hotelzimmer.
Eine fieberwache Nacht. Halbschlummer. Qualende Traume. Zahnschmerzen.
Nein! Das kann der Satan noch aushalten! --
Ruhe! Ruhe! Ruhe! -- Aufstehen! --
Ich steige aus dem Bett, kleide mich notdurftig an, entfache das elektrische Licht und laufe, die Shagpfeife im Mundwinkel, auf und ab.
Das Winterzwielicht frostelt im Zimmer, mit Muhe ein wenig von der Helle des elektrischen Drahtes erwarmt. Die Uhr tickert auf dem Nachttischchen. Mein Gott, erst halb acht! --...
Ah! Ruhe! --
Ah! --
Dieses Bild, nur dieses Bild! Dieses einzige Bild, von den Ruten des hohen Fensters umrahmt, in seiner zarten alabasternen Schonheit und doch in der Tiefe seiner ganzen Mystik!...
Halb unbewußt und nebenbei hat es in mir fur den Bruchteil eines Augenblickes konstatiert, daß sie durch den Gegensatz der elektrischen Helle im Zimmer und der Dammerung des beginnenden Morgengrauens hervorgebracht wird: aber nun gehor’ ich ihr ganz und vollig. -- Und physischer Schmerz, Unruhe und alles, alles wird Auge und halt und umfaßt, versteht, versinkt in diesen Anblick, in die gedankenlose, so kostlich unrastfreie Stille dieses Anblicks. --
* * * * *
Ja, und es ist doch nun weiter gar nichts Besonderes dabei; es ist bloß dieses Land unten vorm Fenster. -- Es ist nichts, als der Gegensatz und das Zueinander dieser leise verhullten, weich zarten Himmelsblaue, dieser Blaue, die eigentlich eine graue Schicht von Schneegewolk ist, das uber Nacht den Himmel uberzogen, und die nur dem Gegensatz des erhellten Zimmers ihr Vorhandensein verdankt, dieser Blaue und dieser weiten graugrunen Rasenflachen.
Aber da druben, an der Grenze, dieses stille Kleinspiel. Der Strich der Chaussee mit den Silhouetten ihrer Telegraphenstangen und dem nackten schwarzen Geastel ihrer Kirschbaume. Und die Laternen, die, soweit die Chaussee Fortsetzung der Vorstadtstraße bedeutet, in weiten Abstanden ragend, noch brennen. Druben, auf der anderen Seite, jenseits der Chaussee dehnt sich die Vorstadt; dunkel, schwarz, mit den pittoresken Umrissen ihrer Hausermasse in dieses tiefe Himmelsblau einer italienischen Sommernacht hinein. -- Ein paar mude Lichtpunkte dazwischen: erhellte Fenster. Einige grellere; drei, vier, funf in einer Reihe: Straßenlaternen. -- Links die vier Schornsteine des Eisenwerkes, von denen sich feine dunne Rauchsaulen seitab krauseln. Die Fenster der Fabrikraume sind schon erhellt; aber dieser Schimmer ihrer Vierecke, die matt wie große Perlmutterfourniere aus dem Halblicht dieses ersten Morgengrauens hervordammern, erinnert noch mit nichts an menschliche Thatigkeit. --
* * * * *
Daß es nie Tag wurde und immer diese Stille bliebe und die bestandige Moglichkeit dieses schmerz- und wunschlosen Versunkenseins, dieser ruhigen leidfreien Einheit von Innen und Außen! --
Denn hier ist keine Bewegung, stort keine Bewegung, nicht die leiseste. -- Nur diese eine, einzige, unbeschreibliche Stille, in der selbst dieses leiseste Krauseln des Schlotdampfes stockt...
Ah! -- Wie ein leiser feiner Schreck! -- Eine Fahlheit hat sich uber die tief-satte Fulle der Farben gezogen, und dort, von rechts her, mit ihr, eine erste Bewegung. Kleine, schwarze Schattenrisse kriechen langsam uber das weite Graugrun. Die Karrenschieber, die den Tag uber braunen Humus auf den Rasen fahren. --
Aus!...
Beim Turmer.
Es ist so wunderbar klares, sonnig-mildes Wetter, und das liebe Himmelsblau ist so frisch und atherisch: man mochte ein Vogel sein! -- Aber ich besinne mich, daß ich wenigstens wieder mal in die Stadt gehen und auf den Rathausturm hinaufsteigen kann, zu meinem alten Freund, dem Turmer. --
Der Rathausturm, der noch dazu erhoht liegt, ist reichlich so hoch wie der Stadtkirchturm. Er hat auch dieselbe mit schwarzem Schiefer gedeckte Zwiebelkuppel der alten Jesuitenkirchen, wie man sie von gleicher Art gegen die Alpen hin im Bayerischen Oberland uberall finden kann. -- Dicht unter der Kuppel hat Meister Schwalbe, der Turmer, seine Wohnung. Vier Fenster geben den Blick nach allen vier Himmelsrichtungen hinaus. Auf der einen Seite giebt es einen kleinen Balkon. -- Man nimmt ein paar Flaschen Bier mit hinauf, wird sich mit Meister Schwalbe auf den Balkon setzen und was plaudern, indes man den wunderschonen Ausblick genießt, oder, wenn der Meister gerade Stuhle zu flechten hat, nun! dann kann man sich auch solo hinaussetzen und sich an der Luft und der Aussicht freuen...
Ich finde Meister Schwalbe zu Hause. Er sitzt in seiner behaglichen Wohnstube und flechtet Stuhle. An der Wand neben dem Kachelofen hangt das machtige Tuthorn, mit dem er nach allen vier Himmelsrichtungen die Feuersbrunste signalisiert.
Kostlich! Das sonnige Zimmer mit seinem kleinburgerlich sauberen Hausrat ist ein Idyll! --
Meister Schwalbe, der sein Sechzigstes hinter sich hat, sitzt neben dem großen Tisch, auf dessen grun auf schwarz geblumtem Wachstuchuberzug noch das Geschirr und die Uberreste des Vesperkaffees stehen. Er hat seine Hauskappe auf und die Kurzpfeife in seinem graumelierten halb schalkhaften, halb gelassen-wurdevollen Altschafergesicht und pafft bedachtig vor sich hin. Im ubrigen ist er in seinem Arbeitsornat und hat die blaue Leinenschurze uber die blaugestrickte Wolljacke geknupft. Um ihn herum krauselt sich ein graugelbes Gewolle von Stuhlrohr und vor sich hat er einen Stuhlsitz, den er neu uberflechtet. -- Sein steifes Genick dabei! Diese behaglich langsamen aber zwecksicheren Bewegungen! Diese tiefe, ruhige Kehlbaßstimme, vom Paffen unterbrochen und hin und wieder ein wenig zischend und brodelnd, weil ihm seine Rauchthatigkeit den Speichel zusammenzieht ...
Kurz und gut: der prachtige brave alte Meister Schwalbe, Turmwachter, Stuhlflechter und untruglicher Wetterprophet! --
Aber mit hinaus kommen wird er erst nachher, wenn er seinen Stuhl fertig hat. Ich mache mich auf den Balkon...
* * * * *
Da haben wir das ganze Nest, halb Stadt, halb Dorf...
Die Straßenzeilen mit dem Gewinkel ihrer Hauserchen. Die paar Menschen dazwischen. Schlafriges Geratter von ein paar Lastwagen. Der friedliche Larm spielender Kinder, Hundegebell und Gansegekreisch.
Der Marktplatz unter mir mit seinem Brunnen und seinem hockerigen grasdurchwachsenen Pflaster. Die alten Honoratiorenhauser. -- Liebe Zeit! wie ist das alles so klein, so still, so mollig, so unpathetisch! --
Das Gelande draußen mit seinen Feldern, Chausseen, Obstbaumwegen und glitzernden Gewassern; die Berge mit ihren Waldern; das Schloß mit seinen Turmen und Umwallungen aus den dichten herbstlichen Laubmassen heraus. --
Vogelschaugedanken! --
Sie lenken sich heute mal auf die „Profession“, auf die liebe „Kunst“. -- Die „_paysage intime_“ von Meister Sommerfeld, des Buchbinders, Hof, in den ich gerade so recht schon hineingucken kann, giebt ihnen ihre Richtung.
Naturlich so ein richtiger kleinstadtischer Hof mit dem Idyll seines ganzen romantisch-pittoresken Kleinkrams. -- Die getunchten Wande des Wohnhauses und der Stallgebaude mit einem unendlich verzwickten Gewinkel, mit ihrem narrischen verwitterten Ziegeldachwerke, mit ihren blaugrauen Holzgallerien, mitgenommen von Wind, Luft, Sonne und Regen. Der Dungerhaufen, das bunte Huhnervolk, allerlei wunderliches Gerumpel, Gott! und so weiter.
Ja, wie so allmahlich das Pathos stirbt und das _al fresco_ und die „Hohenkunst“ heutzutage! -- Wie alles intim wird, Farbe, Nuance, Seele, sich differenziert! -- Wie die liebe Kunst immer heimischer wird, irdischer, wirklicher! -- Und doch, wie bei allem selbst die Wurde und Bedeutung des „Geringfugigen“ und „Haßlichen“ mehr und mehr empfunden wird, zu Tage tritt und die Asthetik immer siegreicher revolutioniert! -- Wie unsre Kunst aus sich selbst heraus immer asiatischer, ostlicher, fertiger wird! -- Ich denke an einige japanische Gesichtsmasken, die ich zu Hause habe, und an unsre heutige Vorliebe fur dergleichen Kunstprodukte, und wie wir diese Weise von Kunstbethatigung immer mehr verstehen lernen. -- Diese Kunst mit dem ganzen mystischen Zauber ihrer Realistik, ihres fertigen, alles erraffenden, alles erfuhlenden Naturalismus, und wie seine, des verachteten, identische Wirkung immer eindringlicher wird, denn alle Entwicklung fuhrt zur Identitat. -- Die lyrische Emphase eines jahrtausendelangen Kulturkampfes laßt nach, wie er sich nach den letzten Entwicklungssturmen des Mittelalters immer mehr gefriedigt hat und seiner Fruchte und Erfullungen froh zu werden beginnt...
* * * * *
Ich sitze und spure nur so, wie kostlich frisch die Luft geht, wie klar und blau der tiefe Himmel, und fuhle den Pulsschlag des Lebens rings unter meiner Hohe und sehe die Seele dieses kleinen Nestes, die im Kleinen und Malerisch-Krausen doch so mystisch intim und mannigfach ist. -- Denn was besagt Alltaglichkeit? Alles ist ratselhaft, alles das gleiche Problem und dies Problematische ist auch der Untergrund und die heimliche, schlichte, tiefe Seele moderner Kunstwirkungen...
* * * * *
Aber Philosophieren ist uns so uber geworden. Es ist ja nun auch nachgerade seit Jahrhunderten und Jahrtausenden alles, aber auch geradezu alles zusammenphilosophiert worden. Es kommt einem alles so rund und so fertig vor. --
Mein lieber Lynkeus, Meister Schwalbe, setzt sich zu mir mit seiner Pfeife und seinem weisen gelassenen Gesicht, in dem so viel still-kluger Humor ist, und es ist uber alles Philosophieren, wenn wir vom Wetter sprechen, oder von den lieben Nachbarn, oder was hier und dort so alles in der Welt passiert. -- Lieber Gott ja: aller Weisheit Schluß und Anfang ist eben, daß die Leute sich verheiraten, Kinder kriegen, wirken und sterben von Urbeginn zu Urbeginn...
Die Hyacinthe.
In einem eigens dazu hergerichteten Glas habe ich eine Hyacinthenzwiebel.
Wie kostlich zu beobachten, wie sich hier die Natur gestaltet! So schlicht, so still, mit so kraftigem wohligen Behagen.
Zuerst ist es nur die Zwiebel. Aber wie viel Freude, sie zu betrachten, wie sie da vor mir auf dem Schreibtisch steht, zwischen allerlei Kleinkram und Erinnerungen, selbst eine liebe Erinnerung.
Das zartfrische Farbenspiel ihrer Schale: in allen feinen und feinsten Nuancen spielend zwischen Braun, Blaulich, Weiß, Violett und Lila. Oben ist ein hellgrunes gelbliches Spitzchen, mit der der innerlich schlummernde treibende Lebenskeim zu erwachen beginnt. Unten viele feine, lichtweiße Wurzelfaserchen, die sich munter in das Wasser hinabschlingen.
Die Lust, das unbandige Behagen in diesen Windungen! Das Spreizen dieser Formen!
Man muß unwillkurlich druber lachen.
Ich hore ein Kind lallen und gurgeln, sehe es mit seinen Zehchen spielen, mit seinen dicken Handchen vor sich hingrappsen im sußen Dammer seines ersten Seins.
Diese Lust, zu beobachten, Tag fur Tag, wie es mehr und mehr erwacht und wird und wird, seitdem ich es aus der dunklen Schublade hier in sein Lebenselement gebracht.
Jetzt sind es schon ziemlich lange Blatter. Unten, wo die Kraft des ersten Keimes die Schale zur Seite gespellt hat, sind sie hell-gelblich-grun, nach oben ist das Grun blaulicher.
Es sind -- eins, zwei, drei, vier, funf Blatter.
In ihrer Mitte drangt sich die lichtgrune Blutendolde keck und lichtbegierig herauf, zwangt zur Seite, dehnt sich in die Breite und Hohe mit ihren wasser- und saftstrotzenden Zellen. Und wenn ich genau, ganz genau hinsehe, dann merke ich, wie leise, leise ihre grunen Hullenblattchen sich zu spreizen und zu losen beginnen, wie es sich ungeduldig drunter regt und bunt und prachtig hinaus will ins freie, frohliche Licht.
Ab und zu hemm’ ich das allzu uppige Wachstum der Blatter, und schneide ihre Spitzen ab, damit die Blute an Kraft und Freiheit gewinne.
O, hochstens noch eine Woche: dann jubelt es mir in bunter junger Herrlichkeit entgegen und mein Zimmer ist des sußen Duftes voll...
Die Fliegen.
Die gute Sonne!
Vor mir auf dem Fensterbrett haben die Fliegen ihr Treiben. Sie trippeln durcheinander, reiben sich den Hinterleib, fliegen gegen die Fensterscheibe auf.
Plotzlich kommt mir, ich weiß nicht wie? eine Erinnerung.
Ich sehe den Kirchhof wieder.
Es ist wieder der graue Tag, der mit Regen droht. Im fahlen Licht stehen die Leidtragenden um das offene Grab herum. Uber sie erhoht, auf der aufgewuhlten Lehmerde, hat der Prediger seinen Stand, der Prediger mit seinen Baffchen, seinem Talar und seiner hohen Mutze, und spricht den Segen uber den Sarg, der eben mit einem dumpfen Schollern in die Tiefe verschwunden ist.
Einer nach dem andern tritt heran und laßt seine Handvoll Erde hinunterplumpen.
Aber das Weib!
Mit einem winselnden Weinen hat sie dagestanden und im verhaltenen Wahnsinn ihres Leides das Taschentuch zerrissen. Und nun ist sie nicht mehr zu halten, in diesem letzten, so erbarmungslosen Augenblick.
Mit lautgellender Wehklage ist sie auf das Grab zugesturzt, ist hineingesprungen und umklammert nun den Sarg.
Es war zum Nievergessen! --
... Mir kommt ein Gedanke.
Behutsam hebe ich die Hand, schlage zu und wage einen Mord.
Gegluckt! -- Eine von den Fliegen liegt tot.
Fur den ersten Augenblick sind die andern gegen die Fensterscheibe aufgeflogen; aber bald sind sie wieder zuruck. Geschaftig trippeln sie umher, als wenn nichts geschehen ware.
Nur eine von ihnen ist auf die tote Spielkameradin gestiegen und hat fur einen Augenblick den Saugrussel in den Blutstropfen gesenkt, der aus dem zerquetschten Korperchen gequollen ist, und saugt...
Bornschein.
Druben an der Mauer liegt Bornschein, der Bottcher, wieder einmal stockbetrunken. Der Lange nach liegt er unter dem Fliederbusch und die Nachmittagssonne brennt auf seine Kleider.
Die Nachbarn stehen im Kreis um ihn herum, schutteln die Kopfe, schwatzen, lachen, haben ihre Unterhaltung und machen ihre Glossen. Reger ist die liebe Jugend. Sie haben Kiesel und Steine zusammengetragen und werfen nach seinem Bauch und seinen Beinen. Die ganze sonnenstille Gasse schallt von ihrem Eifer.
O Phantasie!
Ich bin Bornschein. Mein Gesicht ist breit und gedunsen, mit borstigem Bart und Kopfhaar, und gluht von Sonne und Alkoholdunst. Und Sonne und Alkohol gluhen durch den seligen Dusel meines Rausches und lallen aus mir heraus mit dumpfen dunklen Worten in eine wogende flimmernde Welt von wunderlich verworrenen Gestalten und Lauten.
Meine armen thorichten Atome lechzen nach Kuhlung. Langsam, automatisch regt sich ein Arm, zuckt ein Bein, von einem Kiesel getroffen.
Kuhlung! Wie ein fernes Bedurfnis ist es in mir, ein Bedurfnis meiner klugen Sinne, meines Lebenswillens, von dem meine Seele doch fern ist. Ein Bedurfnis und keins...
Aber wie ich hier oben zwischen den roten Geranien hindurch zu mir da druben hinuberluge, schreit meine arme Seele nach Wasser, nach Wasser...
O ewige Vernunft!
Druben offnet sich die Thur, schadenfroh und flachshaarig tritt ein lachendes Mitleid mit einem vollen, triefenden Wassereimer auf die Straße. Friedrich, der Hausknecht vom „goldenen Adler“.
Und nun: den Eimerring in der Linken! Die breite, braune Rechte packt den Boden, kippt... Brrr!...
Gottseidank!
Bornschein trieft und zuckt wohlig wie ein Aal in der Fischwanne und -- schimpft. -- Undank ist der Welt Lohn! -- Aber die „Welt“ ist diesmal uber Undank erhaben. Die Nachbarn lachen und die liebe Jugend brullt Halloh.
Ich atme auf, hier in meinem Blumenwinkel, und denke in meinem lieben Herzen, wie alles in dieser herrlichen Welt, selbst Bornscheins Atome, bis in meine liebe verwunschte Einbildung hinein, hat, was es bedarf. --
Bibellekture.
1. Incarnation.
Seit einigen Tagen les’ ich die Bibel. Das Exemplar, das Frau Haberland in ihrem Glasschrank hat. Es ist eine schone alte Familienbibel, in Quartformat, aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, ein wahrer Koloß, solid in braunes Leder gebunden, mit zwei Messingverschlussen, jeder eine Figur, ein Apostel wohl oder so etwas. -- Dieser Duft, dieses dicke vergilbte Papier, diese großen fetten Lettern und die Familienchronik mit ihrer altfrankischen Schnorkelschrift gaben mir wieder mal den Geschmack fur diese Lekture. -- Die Madame war so liebenswurdig, mir das ehrwurdige Monstrum anzuvertrauen, und nun vergeht selten ein Tag, an dem ich nicht uber diesen braven altvaterlichen Holzschnitten und diesen kostlichen Drucktypen saße und mein Pensum erledigte.
Wenn’s das Wetter irgend erlaubt, sitz’ ich dabei am liebsten hinten im Garten, in der Pfeifenkrautlaube. Vornehmlich bei der Lekture der Patriarchenhistorien war es die beste Umgebung. Man sieht uber die Rotdornhecke hinweg auf die Hugel, und da hat denn wohl die große Schafherde von der Schloßdomane ihr Wesen; man hort die gelben Wolfshunde klaffen, man hort das Trappeln und Rauschen der erschreckten Tiere, die von ihnen beieinander gehalten werden. Man gewahrt die Gestalt des Schafers in seinem langen blauen Schoßrock mit den blanken Knopfen und dem breiten Lederriemen, mit seinem altfrankischen Filzhut und seinem langen Schlenderstock, man hort seine Zurufe und wie er auf die Hunde schilt. Laban und Jakob, Joseph und David. -- Oder man hort die Laute des Geflugels, der Haustiere, Pferdewiehern aus der Nachbarschaft oder das Brullen der Kuhe...
* * * * *
Gegenwartig bin ich bei den Propheten, und da kommen mir so allerlei Gedanken und Betrachtungen; Gedanken und Betrachtungen, mit denen ich mich meinem goldenen Freigeist, dem Herrn Aktuarius Nerrlich, nicht anvertrauen konnte, ohne befurchten zu mussen, wegen einer bedenklich reaktionaren Rechtsschwenkung seiner mir so werten Freundschaft verlustig zu gehen; denn es sind nicht nur diese ersten Kindheitserinnerungen, die da in diesen Lesestunden mit lebendig werden, auch nicht bloß und lediglich so etwas wie Feinschmeckerei und „historischer Standpunkt“, obgleich das alles naturlich mit unterlauft: nein, es ist auch noch etwas Anderes. Denn das ist nun so: jedes gute und bedeutsame Buch hat seine ewig frische und lebendige Wirkung, und die bedeutendsten variieren ja nur immer wieder den einen ewigen und gleichen Text. -- So will mir zum Beispiel auch keinerlei rationalistische Exegese an die alten Sagen und Wundermarchen heran. Ein feinerer Sinn spurt das Wunder der Wunder hinter ihrer ehrwurdigen Symbolik und staunt aus einem modern-differenzierten Verstandnis der Lebens- und Naturvorgange heraus, das uns gerade wieder die Ergebnisse der neuzeitigen Wissenschaften, und nicht zum wenigsten der exakten, gebracht, uber die tiefe Lebensweisheit, welche sich in diese Symbole verdichtet hat.
Ich komme von der Lekture psychophysiologischer Bucher; man hat als Mensch der Neuzeit neben allen geistigen Zuflussen seine Nervenerfahrungen, und weiter hat der ringende Geist Alterfahrenes und Fruhvertrautes, Einflusse und Eindrucke erster Jugendzeit und ihren unverwustlichen Gehalt, der sich allen Ansturmen einer materialistisch-kritischen Durchgangsperiode zum Trotz aus all ihren Entwicklungswehen heraus behauptet hat, mit den neuen Ergebnissen vereinbart: wie eigen mutet einen da diese Lekture an! -- Und um so fuhlbarer und eindringlicher ist ihre Ehrwurdigkeit, je tiefer man spurt, wie die eine und gleiche Wahrheit immer nur wieder in Symbole sich fassen laßt...
* * * * *
Ja, diese Propheten!
Es fallt einem so ein, was die alten Kirchenlehrer von Erwahlung, Berufung, Pradestination geschrieben, oder etwa Platon von den Ideen, von der Annamnese, man gedenkt der Lehren der Veden und des Buddhismus, was bei den Pythagoraern als Metempsychose wieder auftauchte, und wie diese bereits bei den Egyptern gelehrt war, man berucksichtigt etwa den Zusammenhang von alledem, sieht sich etwa auch mit genauen Augen und mit so einem stillen Ahnen die neue Wissenschaft und die Entwicklungslehre des Darwinismus an, in der so unendlich viel Moglichkeiten und Urwurzeln von Ideenverbindungen schlummern, die einen, wie sie in ungewissen Umrissen auftauchen, so verwunderlich an uralte Weisheits- und Weltbetrachtungsergebnisse erinnern und einen mystischen und urnotwendigen Zusammenhang menschlicher Weisheit neu bezeugen: mit alledem betrachtet man diese Propheten.
Man gewahrt ihr Pathos, in dem in ewig staunenswerter Mystik unterbewußte geheime Gedankenverknupfungen und wohlverwahrte ewige Erfahrungen sich dichten, in dem sie mit ekstatischer Macht hervorbrechen; und nun will man das Geheimnis nicht erklaren -- man kann das in seinem letzten Grund Unerklarliche nicht erklaren -- man fuhlt es und fuhlend besitzt man, weiß man, mit einem geheimen, unmittelbaren, identischen Wissen. -- Denn was heißt das, wenn ich mir etwa diese Gewaltigen und ihr Wirken zu einem Teil pathologisch erklare? -- Erklare! -- Was heißt das, wenn ich sage, Mohamed war ein Epileptiker? Wohl, aber wenn ich mir jene ehrfurchtigen Begriffe der Alten in ihrer schlichten und doch so tiefen und sinnreichen Bescheidenheit vergegenwartige, etwa die Begriffe der Erwahlung oder der Incarnation, so verstehe ich mit einem so machtig konzentrischen Verstandnis. ---
* * * * *
Incarnation! --
Es ist ein frischer Herbstvormittag. Ein gleißendes Sonnengold leuchtet uber den Hugeln. Mit einer machtigen Energie, in gewaltigen Linien, mit breiten Flachen, in gigantisch-majestatischen Wolbungen ballt sich, schiebt sich, schießt ein weißes Gewolk vom Horizont auf uber das klare Blau. Luftstromungen mit ihrem unaufhorlichen Rauschen und Sausen gehen durch die Feiertagsstille der Fruhe. Innerlichst belebt und hingenommen von dem Rhythmus dieser gewaltigen Perioden mit der eindringlichen, schlichten und doch so machtigen Energie ihres Gefuges, dieses _Parallelismus membrorum_ althebraischer Poesie, wend’ ich uberwaltigt mein Gesicht von den Zeilen in die Hohe, und meine Sinne richten sich unter dem Zwang dieser Lekture uber das kunterbunte Kleinleben meiner Umgebung hinweg wie unter dem Einfluß einer heimlichen magischen Gewalt, die Gleiches dem Gleichen eint, unwillkurlich hinuber zu den weiten freien Linien des Berglandes, den gewaltigen des Gewolkes, zu diesem monotonen großen Akkord der bewegten Lufte. -- Der Sturm! „Du weißt nicht, von wannen er kommt, noch wohin er geht, aber du horest sein Sausen wohl.“ --
Und wie ich sehe und hore, unwillkurlich, hingenommen, ganz ein einziges, großes, gesteigertes Empfinden, in dem meine Nerven feiner und subtiler aufnehmen und reagieren, beleben und vertiefen sich so eigen meine Wahrnehmungen, und fast wie in einer undefinierbaren Raumdimension, die in irgend einem Punkt, in irgend einer Weise eine mystische Einheit ist von drinnen und draußen, -- mein Personlichkeitsbewußtsein ist in ihr halb entschlummert -- regt es sich in einer unsagbaren Weise und flustert einem Verstandnis in mir, das versteht, ohne Worte zu horen. Und irgendwie ist Wolkengebilde, Windstromung, Berglinie, Farbe und Form, auf die mein dammerndes Bewußtsein nicht achtet und die es doch hat, gleich und eins mit Blutwallung, Vibrieren des Nervenfluidums, Muskelbewegung und irgendwie Offenbarung und Mitteilung, Werden. -- Und in einem stillen Zeugungsakt dieser geheimsten Bewegung, die irgendwie in unmeßbaren, millionenfachen Vibrationen flirrt, gebiert sich, ringt sich dunkel ein Wort los, ein Wort, ein Ur-Keim- und Kernwort, das sich zu entfalten beginnt, in Ideen- und Gedankenfolgen sich entfaltet zu einer ganzen Dichtung...
Incarnation! --
* * * * *
Und nun versteh’ ich aus dem Eigensten und vergegenwartige mir und sehe.
Jene Großen gewahrten eine Not ihres Volkes, spurten sie wohl in eigensten und individuellsten Schicksalen. Sie bemachtigte sich ihrer schauenden reflektierenden Seele, und aus dem Getriebe des sie umgebenden Kleinlebens begaben sie sich wohl in die Einsamkeit der Wuste, die Stimme des Einen zu horen, und rangen in der zahen Willensenergie ihres Volkes nach dem Wort und Willen Jehovahs, rangen nach dem Urwort, das Licht bringt. Und sie gingen auf in ~Ihm~, waren in ihren Ekstasen, in Fasten und Entbehrungen, in den Krampfen ihres machtig ringenden Willens eins mit ~Ihm~; und ~Er~ war die große Natur in der gewaltigen Monotonie ihrer Ode, die sie umgab und auf sie wirkte, Er war die Schicksale ihres Volkes, die sich jenen außeren Naturerscheinungen wieder innig verknupften und eins ihrer differenzierteren Ergebnisse waren, Er war ihre individuellen Schicksale, Erlebnisse und Fahigkeiten, die wieder eins in jenen und eins im Einen und Gleichen, und Er war ihr Korper mit der Thatigkeit der Muskeln, Eingeweide, Nerven, seines machtigen Gehirns, dieser Korper, dieses Gehirn ein Willens- und Kraftcentrum der Volksgemeinschaft, die sie erzeugt, und das alles in diesen Stunden Er in seiner einen und einzigen Einheit! Und in dieser Einheit, in ihnen, zeugte ~Er~ als in Sich, zeugte die Einheit das Wort, das fruchtbare Wort, das diesem Volk not that, schuf ~Er~ sie zu seinen Helden, Gewaltigen und Verkundern in Mose, Jeremia und wie sie alle hießen, verkorperte ~Er~ sich in ihnen zum Helfer und Ermahner seines Volkes...
Incarnation. --
* * * * *
Incarnation. --
Diese bestimmte judische Volksgenossenschaft; eine Gemeinschaft sie wieder von so und so viel Sondergenossenschaften, die sich gegen einander abgrenzen durch ganz bestimmte und besondere Interessen, bedingt durch die Verschiedenheiten der einzelnen Landschaften, durch den jeweiligen Charakter der Natur, der sie unter bestimmten Bedingungen ihren Lebensunterhalt verdanken, durch Familien- und andere soziale Interessen. -- In einer dieser Gemeinschaften, in der sich vielleicht offenbar oder geheim alle Interessenfaden der Gesamtgenossenschaft als in einem offenbaren oder geheimen Centrum am intimsten verknupften, wurde in einer ganz bestimmten sozialen Lage einer dieser Erwahlten geboren.
Wie wunderbar dieses Emportauchen eines derartigen Individuums! -- Wie ratselhaft stellt es sich dar! -- Vielleicht waren alle, die ihm zunachst standen, seine Eltern, seine Geschwister, Verwandte Menschen, die dem Leben einen entschiedenen praktischen Thatigkeitstrieb entgegensetzten, vielleicht als Ackerbauer. Ganz anders dieses Individuum! -- Vielleicht ein schwachliches Kind, mit vorwiegend nervoser Disposition, vielleicht auch ohne eine solche beschaulichen Charakters, aber doch dieser stille, mit so machtiger Energie nach innen raffende Wille. Still, wohl gar scheu er in seinem Gebahren, aber lebhaft sein Interesse jeder Erscheinung im Bereich seiner Umgebung zuwendend, und dann wieder das Wahrgenommene in sich verarbeitend, zuruckgezogen von der Thatigkeit der Seinen, den Spielen und Zerstreuungen der Altersgenossen.
Und dieses Insichverarbeiten! -- Dieses Versunkensein! Diese stille, so rastlose Thatigkeit des Gehirns! -- Dieser sonderbare Assimilationsprozeß! -- Zuruckzuleiten auf physiologische, zu begreifen als physiologische, ja im letzten Grunde chemische Vorgange und Prozesse, im ~letzten Grunde solche bedeutend~ und dennoch -- ~denken~!... Im Cirkel der lebhaften, den außeren Dingen zugewandten, praktisch nach außen gerichteten Betriebsamkeit der Menschen seiner Umgebung, dieses Individuum wie ein stiller, stillhaltender, ruhender Punkt, in einer heimlichen, wie magnetischen Affinitat mit den Lebensvorgangen ringsum, dieses Individuum mit seinem mystischen Erraffen! -- Er, der Schwachste, Passivste vielleicht, der Stillste unter seinen Genossen, mit dieser mystischen Disposition innerlich ihrer der Lebendigste, mit seinem großen, geistigen Korper, mit diesem amorphen Korper heimlicher Blutstrome, heimlicher Nervenvibrationen, deren zustromende Energie das Gefuge seines sichtbaren individuellen Korpers erleidet, unter der er erschauert wie eine Sensitive, diese Energie, die dieses sichtbare, zarte und durch die Macht seiner Disposition doch so zahe Gefuge schuttelt, erbeben macht, durchkrampft, und doch die unerhorte Gewalt seines erraffenden, erprobenden Willens nicht zu vernichten vermag, so sehr sie’s erschuttert, bis dieser schwache Korper gestahlt ist und in ihm sich aus den Seinen der Eine konzentriert und geboren hat, der ihnen notthut, Jehovah in ihm vermoge eines mystischen Zeugungsaktes sich incarniert hat: Er, zuvor der Schwachste, Unscheinbarste, wohl gar Mißachtete, wenn nicht Verspottete mit dieser Disposition die Seele, der stille Wachter seines Volkes. ~Er~, die nach innen konzentrierte Energie der Seinen und sie in irgend einer mystischen Verknupfung Seine nach außen gewandte Energie. --
Incarnation! --
Und ich gedenke im Sonntagsfrieden dieser Morgenstunde des biblischen Wortes: „Die Cherubim und Seraphim, seine Gewaltigen und Helden, die vor seinem Throne stehen“, und es bekommt einen so besonderen Sinn, und ich bedenke, wer Gott und seine Helden nicht aus der Welt geschafft, sondern ins Deutliche, Vertraute, Menschliche geruckt und offenbar geworden sind, thronend doch in einem Lichte, da niemand hinzukann...
2. Gethsemane.
Die Nacht brach an. Der Rabbi verließ das Haus, wo er mit den Zwolfen das Passahlamm gegessen nach dem Brauch und den Lobgesang gesungen.
Als er mit den Jungern auf die Gasse trat, stand die helle Scheibe des Vollmonds groß und rund uber Moriah und legte ihren weißen Schimmer auf die Tempelgebaude. Wie fur eine Ewigkeit aufeinander gequadert dehnten sich die dunklen Steinmassen mit ihren gewaltigen Saulengangen in duster-heiliger Pracht, mit massiven Mauerkranzen und dem mystischen Flechtwerk ihrer Ornamente.
Der Rabbi verweilte in den Anblick verloren. Und dann wandten sich seine Blicke uber die palmenuberragten Hauser des Tyropoion-Thales hinuber zum Berge Zion, wo sich mit steilem Mauerwerk das Massiv der alten Konigsburg und der Palast des Vierfursten erhob. Dort bereitete sich jetzt sein Endgeschick. Dort wurde es sich in wenigen Tagen entscheiden. Und da druben weilte jetzt der Junger, der ihn verraten hatte, und wartete mit den Knechten des Hohenpriesters.
Nach Gethsemane! Dort wurde ihn Judas zu finden hoffen. Dort wollte er sich ihnen uberliefern.
Ein versonnenes mudes Lacheln um die Lippen, wandte er sich endlich und wanderte, Judas Ischarioth im Herzen, durch die stillen, mondtraumenden Gassen der Bezetha und wandte sich hinab, wo der Weg in das stille Thal seines geliebten Kidron fuhrte.
Schweigend wandelt er vor den Elfen her, die ihm in Gruppen folgen, mit zagen Meinungen die bedeutsamen Vorfalle erwagend, die sich soeben beim Mahl abgespielt haben: Simon Petrus und Andreas sein Bruder, Jacobus und Johannes, des Zebedaus Sohne, alle Fischer vom See Genezareth, Philippus, Bartholomaus, Matthaus der Zollner, Jacobus, Lebbaus, Thomas und Simon von Kana, der Zelot.
Gesenkten Hauptes schreitet Jesus vor ihnen her in seinem langen, glatten Gewand. Lassig und mude hangt die Linke mit dem Hut hernieder, und die hagre, feine Rechte streicht den dunklen Kinnbart. Ihm zur Seite schreitet scheu der Junger, den er lieb hat. In stiller ratloser Teilnahme hangen seine Blicke an dem geliebten Meister, denn Jesus hat zu ihnen von seiner Gefangennahme und seinem nahebevorstehenden Tod gesprochen. Wenn das Passah voruber ist, und die Volksmengen die Stadt geraumt haben, werden sie ihm das Gericht machen.
Das ist nicht mehr sein gewaltiger Rabbi aus Isais altem Konigsstamm, der herrlich die Bergrede gehalten oben im galilaischen Land, als ihm die Volker zugestromt waren aus Syrien, aus Galilaa und den zehn Stadten, aus Juda und von jenseits des Jordan. -- Eine tiefe Furche grabt sich ihm in die breite braune Stirn, von der die Haare, die ihm neulich erst das Weib von Bethanien gesalbt, lang und schlicht auf die hageren Schultern fallen. Die tiefen Augen verfolgen starr und trube verborgene Gedanken, die kein Ahnen streift, und zwei tiefe Falten graben sich von den Wangen herab.
„Herr, das widerfahre dir nur nicht!“
Leise, mit innerlichst verzagendem Herzen, hat es Johannes endlich uber die Lippen gebracht, aber der Rabbi hat es nicht gehort. Einsam und verschlossen wandert er mit seinen geheimsten Gedanken, die je und je nur Er kannte, neben dem Junger her. Nichts von der sußen Milde ist in diesem Gesicht, die ihnen sonst die Herzen warm machte zu dem geliebten Meister hin.
Nein, kein armer Trost reicht an dieses Geheimste des Meisters heran. Und Johannes verstummt vor diesem Ratselgesicht unenthullbarer Einsamkeit. --
* * * * *
Um die Kalkhange von Moriah herum, tief unter den hohen Tempelzinnen oben auf dem Hugel, von dem die Woge der weißen Dacher herabflutet, biegt der Meister zwischen den letzten Hausern hervor in den Fußpfad ein, der in weiter Biegung zum Ufer des Kidron hinabfuhrt.
Totenstill weitet sich die ahnungsvoll dammernde Mondnacht mit ihren wenigen großen Sternen. Nur fern von der Vorstadt her tragt die Nachtluft das Geklaff der Schakale heruber. Unten vor ihnen platschern die hellgleißenden Wellen des Kidronbaches und murmeln und rauschen im eiligen Gefalle zwischen den Laubmassen der Olivenhaine hin, die sich druben von den sanften Hohen des Olbergs anmutig in das liebliche Thal hinabziehen. Palmengruppen ragen daraus hervor mit ihren hohen, schlanken, mondschimmernden Schaften und tauchen mit ihren breiten, hangenden Kronen hinein in die strahlende Klarheit der Hohen.
Nach kurzer Wanderung stehen sie vor dem Hof Gethsemane, des Meisters stillem Lieblingsort.
Vor dem Hain hemmt er seine Schritte und heißt die kleine Schar verweilen und seiner warten. Nur seinen lieben Brausekopf Petrus, den stilltreuherzigen Jacobus und den jungen Johannes wahlt er sich, daß sie ihm folgen und tritt mit ihnen in die heilige Dammerung des Haines. Bald aber laßt er auch sie zuruck und ist ihnen im Dunkel seiner heimlichen Einsamkeiten verschwunden...
Allein!...
Mit wankenden Knieen bricht er zusammen. Und der Menschensohn hebt an zu trauern und zu klagen.
Und er sieht seinen schimpflichen Tod. Er sieht die Richtstatte, den kahlen oden Kalkhugel mit seiner Schadelform draußen vor der Stadt, wo die Verworfensten der Verworfenen ihren schmachvollen Tod sterben.
„Herr, ist es moglich, so laß’ diesen Kelch an mir vorubergehn!“
Lange liegt er im Gebet; aber kein Frieden will uber ihn kommen. Erloschen ist die Fulle der Visionen, versiegt die Macht leidentruckender Ekstase, die ihn an das Herz des Vaters hebt. Ein muder, verzagter Mann windet sich hier in der Tiefe menschlicher Ohnmacht und vergeht im Vorgefuhl einer schmachbeladenen Agonie.
Was bedeutet dies Bangen? Ist er nicht, Herr uber Leben und Tod und ihr machtiger Uberwinder, gekommen, um zu sterben, daß aus seinem Tode unvergangliches Leben fur die Jahrtausende sprieße? War er nicht gekommen, des vaterlichen Geistes voll, daß die Urmacht des gottlichen Wortes sich uber die Geschlechter der Jahrtausende spanne?
Judas...
Und wieder sieht er sich auf dem Fullen der lastbaren Eselin, und das Volk vor ihm her, Palmen breitend und Gewander, und der freudige Jubelruf der Scharen umbraust ihn: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna dem Sohne Davids, einem Konig in Israel!“ Und wieder hort er den Messiasruf und die Sehnsucht seines geknechteten Volkes.
Judas...
Und wieder, wie vor Jahren, da er die vierzig Tage in der Felsenwuste durchfastete, will sich in ihm das heiße Thatenblut der alten Volkskonige regen, und der Gedanke an die Macht und die Herrlichkeit dieser Welt gleißt vor seiner Seele, und er denkt an die Verheißungen und Hindeutungen der Propheten. Wieder, wie einstmals in der Einode, der heißen Ideeenamme der Erhabensten seines Volkes.
Judas...
Und er gedenkt der Zuversicht seines Jungers zu ihm, dem Sproß der Konige. Und noch einmal erheben sich die beiden Seelen seiner Brust gegen einander im heißen Ringen. Er sieht, wie die Scharen kommen, aus Galilaa, von Syrien her und die am Gestade des Meeres wohnen, aus Samaria und uber den Jordan heruber, druben aus Peraa, seinem machtvollen Wort zu lauschen. Und wie Meereswogen sieht er die Volker erschauern unter der Gewalt seiner Rede. Und sein Konigsblut braust auf und sein gewaltiges Messiasgehirn fuhrt sein Volk zum Sieg.
Ha, Judas!...
Seine Augen leuchten auf in einer beginnenden Ekstase.Macht! Konigspriester seines einigen weltmachtigen Volkes! --Seines~ Volkes! -- Nein, welches Volkes?! -- |
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