18. Zum Leitstern seiner Bestrebungen soll man nicht *Bilder
der Phantasie* nehmen, sondern deutlich gedachte *Begriffe*. Meistens
aber geschieht das Umgekehrte. Man wird namlich, bei
genauerer Untersuchung, finden, daß, was bei unsern Entschließungen, in
letzter Instanz, den Ausschlag gibt, meistens nicht die Begriffe und
Urteile sind, sondern ein Phantasiebild, welches die eine der
Alternativen reprasentirt und vertritt. Ich weiß nicht mehr, in welchem
Romane von Voltaire, oder Diderot, dem Helden, als er ein Jungling und
Herkules am Scheidewege war, die Tugend sich stets darstellte in Gestalt
seines alten Hofmeisters, in der Linken die Tabaksdose, in der Rechten
eine Priese haltend und so moralisirend; das Laster hingegen in Gestalt
der Kammerjungfer seiner Mutter. -- Besonders in der Jugend fixirt
sich das Ziel unsers Gluckes in Gestalt einiger Bilder, die uns
vorschweben und oft das halbe, ja das ganze Leben hindurch verharren. Sie
sind eigentlich neckende Gespenster: denn, haben wir sie erreicht,
so zerrinnen sie in nichts, indem wir die Erfahrung machen, daß sie
gar nichts von dem, was sie verhießen, leisten. Dieser Art sind
einzelne Szenen des hauslichen, burgerlichen, gesellschaftlichen,
landlichen Lebens, Bilder der Wohnung, Umgebung, der
Ehrenzeichen, Respektsbezeugungen usw. usw. _chaque fou a sa marotte_ auch
das Bild der Geliebten gehort oft dahin. Daß es uns so ergehe ist
wohl naturlich: denn das Anschauliche wirkt, weil es das Unmittelbare
ist, auch unmittelbarer auf unsern Willen, als der Begriff, der
abstrakte Gedanke, der bloß das Allgemeine gibt, ohne das Einzelne, welches
doch gerade die Realitat enthalt: er kann daher nur mittelbar auf
unsern Willen wirken. Und doch ist es nur der Begriff, der Wort halt:
daher ist es Bildung, nur ihm zu trauen. Freilich wird er wohl mitunter
der Erlauterung und Paraphrase durch einige Bilder bedurfen: nur
_cum grano salis_.
19. Die vorhergegangene Regel laßt sich der
allgemeineren subsumiren, daß man uberall Herr werden soll uber den Eindruck
des Gegenwartigen und Anschaulichen uberhaupt. Dieser ist gegen das bloß
Gedachte und Gewußte unverhaltnismaßig stark, nicht vermoge seiner Materie
und Gehalt, die oft sehr gering sind; sondern vermoge seiner Form,
der Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit, als welche auf das
Gemut eindringt und dessen Ruhe stort, oder seine Vorsatze erschuttert.
Denn das Vorhandene, das Anschauliche, wirkt, als leicht ubersehbar,
stets mit seiner ganzen Gewalt auf einmal: hingegen Gedanken und
Grunde verlangen Zeit und Ruhe, um stuckweise durchdacht zu werden, daher
man sie nicht jeden Augenblick ganz gegenwartig haben kann.
Demzufolge reizt das Angenehme, welchem wir, infolge der Uberlegung,
entsagt haben, uns doch bei seinem Anblick: ebenso krankt uns ein
Urteil, dessen ganzliche Inkompetenz wir kennen; erzurnt uns eine
Beleidigung, deren Verachtlichkeit wir einsehen; ebenso werden zehn Grunde
gegen das Vorhandensein einer Gefahr uberwogen vom falschen Schein
ihrer wirklichen Gegenwart usw. In allen diesen macht sich die
ursprungliche Unvernunftigkeit unsers Wesens geltend. Auch werden einem
derartigen Eindruck die Weiber oft erliegen, und wenige Manner haben ein
solches Ubergewicht der Vernunft, daß sie von dessen Wirkungen nicht zu
leiden hatten. Wo wir nun denselben nicht ganz uberwaltigen konnen,
mittelst bloßer Gedanken, da ist das Beste, einen Eindruck durch
den entgegengesetzten zu neutralisiren, z. B. den Eindruck
einer Beleidigung durch Aufsuchen derer, die uns hochschatzen; den
Eindruck einer drohenden Gefahr durch wirkliches Betrachten des
ihr Entgegenwirkenden. Konnte doch jener Italianer, von dem Leibnitz
(in den _nouveaux essais, Liv. I, c. 2, § 11_) erzahlt, sogar
den Schmerzen der Folter dadurch widerstehn, daß er, wahrend
derselben, wie er sich vorgesetzt, das Bild des Galgens, an welchen
sein Gestandnis ihn gebracht haben wurde, nicht einen Augenblick aus
der Phantasie entweichen ließ; weshalb er von Zeit zu Zeit _io ti
vedo_ rief; welche Worte er spater dahin erklart hat. -- Eben aus dem
hier betrachteten Grunde ist es ein schweres Ding, wenn alle, die
uns umgeben, anderer Meinung sind als wir, und danach sich
benehmen, selbst wenn wir von ihrem Irrtum uberzeugt sind, nicht durch
sie wankend gemacht zu werden. Einem fluchtigen, verfolgten,
ernstlich _incognito_ reisenden Konige muß das unter vier Augen
beobachtete Unterwurfigkeitszeremoniell seines vertrauten Begleiters eine
fast notwendige Herzensstarkung sein, damit er nicht am Ende sich
selbst bezweifle.
20. Nachdem ich schon im zweiten Kapitel den hohen
Wert der *Gesundheit*, als welche fur unser Gluck das erste und wichtigste
ist, hervorgehoben habe, will ich hier ein paar ganz
allgemeiner Verhaltungsregeln zu ihrer Befestigung und Bewahrung
angeben.
Man harte sich dadurch ab, daß man dem Korper, sowohl im ganzen
wie in jedem Teile, so lange man gesund ist, recht viel Anstrengung
und Beschwerde auflege und sich gewohne, widrigen Einflussen jeder Art
zu widerstehn. Sobald hingegen ein krankhafter Zustand, sei es des Ganzen,
oder eines Teiles, sich kundgibt, ist sogleich das entgegengesetzte Verfahren
zu ergreifen und der kranke Leib, oder Teil desselben, auf alle Weise zu
schonen und zu pflegen: denn das Leidende und Geschwachte ist keiner
Abhartung fahig.
Der Muskel wird durch starken Gebrauch gestarkt; der
Nerv hingegen dadurch geschwacht. Also ube man seine Muskeln durch jede
angemessene Anstrengung, hute hingegen die Nerven vor jeder; also die Augen
vor zu hellem, besonders reflektirtem Lichte, vor jeder Anstrengung in
der Dammerung, wie auch vor anhaltendem Betrachten zu kleiner
Gegenstande; ebenso die Ohren vor zu starkem Gerausch; vorzuglich aber das
Gehirn vor gezwungener, zu anhaltender oder unzeitiger Anstrengung:
demnach lasse man es ruhen wahrend der Verdauung; weil dann eben
dieselbe Lebenskraft, welche im Gehirn Gedanken bildet, im Magen und
den Eingeweiden angestrengt arbeitet, Chymus und Chylus zu
bereiten; ebenfalls wahrend, oder auch nach, bedeutender Muskelanstrengung.
Denn es verhalt sich mit den motorischen wie mit den sensibeln Nerven,
und wie der Schmerz, den wir in verletzten Gliedern empfinden,
seinen wahren Sitz im Gehirn hat; so sind es auch eigentlich nicht die
Beine und Arme, welche gehn und arbeiten; sondern das Gehirn, namlich
der Teil desselben, welcher, mittelst des verlangerten und
des Ruckenmarks, die Nerven jener Glieder erregt und dadurch diese
in Bewegung setzt. Demgemaß hat auch die Ermudung, welche wir in
den Beinen oder Armen fuhlen, ihren wahren Sitz im Gehirn; weshalb
eben bloß die Muskeln ermuden, deren Bewegung willkurlich ist, d. h.
vom Gehirn ausgeht, hingegen nicht die ohne Willkur arbeitenden, wie
das Herz. Offenbar also wird das Gehirn beeintrachtigt, wenn man
ihm starke Muskeltatigkeit und geistige Anspannung zugleich, oder auch
nur dicht hinter einander abzwingt. Hiemit streitet es nicht, daß man
im Anfang eines Spaziergangs, oder uberhaupt auf kurzen Gangen,
oft erhohte Geistestatigkeit spurt: denn da ist noch kein Ermuden
besagter Gehirnteile eingetreten, und andrerseits befordert eine solche
leichte Muskeltatigkeit und die durch sie vermehrte Respiration das
Aufsteigen des arteriellen, nunmehr auch besser oxydirten Blutes zum Gehirn.
-- Besonders aber gebe man dem Gehirn das zu seiner Refektion
notige, volle Maß des Schlafes; denn der Schlaf ist fur den ganzen
Menschen, was das Aufziehn fur die Uhr. (Vergl. Welt als Wille und
Vorstellung II, 217. -- 3. Aufl. II, 240.) Dieses Maß wird um so großer sein,
je entwickelter und tatiger das Gehirn ist; es jedoch zu
uberschreiten ware bloßer Zeitverlust, weil dann der Schlaf an Intension
verliert, was er an Extension gewinnt. (Vergl. Welt als Wille und
Vorstellung II, 247. -- 3. Aufl. II, 275.)[O] Uberhaupt begreife man wohl,
daß unser Denken nichts anderes ist als die organische Funktion
des Gehirns, und sonach jeder andern organischen Tatigkeit, in
Hinsicht auf Anstrengung und Ruhe, sich analog verhalt. Wie
ubermaßige Anstrengung die Augen verdirbt, ebenso das Gehirn. Mit Recht
ist gesagt worden: das Gehirn denkt, wie der Magen verdaut. Der Wahn
von einer immateriellen, einfachen, wesentlich und immer
denkenden, folglich unermudlichen Seele, die da im Gehirn bloß logirte,
und nichts auf der Welt bedurfte, hat gewiß manchen zu
unsinnigem Verfahren und Abstumpfung seiner Geisteskrafte verleitet; wie denn
z. B. Friedrich der Große einmal versucht hat, sich das Schlafen
ganz abzugewohnen. Die Philosophieprofessoren wurden wohl tun,
einen solchen, sogar praktisch verderblichen Wahn nicht durch
ihre katechismusgerechtseinwollende Rocken-Philosophie zu befordern. --
Man soll sich gewohnen, seine Geisteskrafte durchaus als
physiologische Funktionen zu betrachten, um danach sie zu behandeln, zu
schonen, anzustrengen usw., und zu bedenken, daß jedes korperliche
Leiden, Beschwerde, Unordnung, in welchem Teil es auch sei, den
Geist affizirt. Am besten befahigt hiezu *Cabanis*, _des Rapports
du physique et du moral de l'homme_.
[O] Der Schlaf ist ein Stuck
*Tod*, welches wir _anticipando_ borgen und dafur das durch einen Tag
erschopfte Leben wieder erhalten und erneuern. _Le sommeil est un emprunt
fait a la mort._ Der Schlaf borgt vom Tode zur Aufrechthaltung des Lebens.
Oder: er ist der *einstweilige Zins* des Todes, welcher selbst die
Kapitalabzahlung ist. Diese wird um so spater eingefordert, je reichlichere
Zinsen und je regelmaßiger sie gezahlt werden.
Die Vernachlassigung
des hier gegebenen Rats ist die Ursache, aus welcher manche große Geister,
wie auch große Gelehrte, im Alter schwachsinnig, kindisch und selbst
wahnsinnig geworden sind. Daß z. B. die gefeierten englischen Dichter dieses
Jahrhunderts, wie *Walter Scott*, *Wordsworth*, *Southey* u. a. m. im Alter,
ja schon in den sechziger Jahren geistig stumpf und unfahig geworden, ja,
zur Imbezillitat herabgesunken sind, ist ohne Zweifel daraus zu
erklaren, daß sie samtlich, vom hohen Honorar verlockt, die Schriftstellerei
als Gewerbe getrieben, also des Geldes wegen geschrieben haben.
Dies verfuhrt zu widernaturlicher Anstrengung, und wer seinen Pegasus
ins Joch spannt und seine Muse mit der Peitsche antreibt, wird es
auf analoge Weise bußen, wie der, welcher der Venus
Zwangsdienste geleistet hat. Ich argwohne, daß auch *Kant*, in seinen spaten
Jahren, nachdem er endlich beruhmt geworden war, sich uberarbeitet und
dadurch die zweite Kindheit seiner vier letzten Jahre veranlaßt hat.
--
Jeder Monat des Jahres hat einen eigentumlichen und unmittelbaren,
d. h. vom Wetter unabhangigen Einfluß auf unsere Gesundheit,
unsere korperlichen Zustande uberhaupt, ja, auch auf die
geistigen.
C. Unser Verhalten gegen andere betreffend.
21. Um
durch die Welt zu kommen, ist es zweckmaßig, einen großen Vorrat von
*Vorsicht* und *Nachsicht* mitzunehmen: durch erstere wird man vor Schaden
und Verlust, durch letztere vor Streit und Handel geschutzt.
Wer unter
Menschen zu leben hat, darf keine Individualitat, sofern sie doch einmal von
der Natur gesetzt und gegeben ist, unbedingt verwerfen; auch nicht die
schlechteste, erbarmlichste oder lacherlichste. Er hat sie vielmehr zu nehmen
als ein Unabanderliches, welches, in Folge eines ewigen und metaphysischen
Prinzips, so sein muß, wie es ist, und in den argen Fallen soll er denken:
≫es muß auch solche Kauze geben≪. Halt er es anders; so tut er Unrecht und
fordert den andern heraus zum Kriege auf Tod und Leben. Denn seine
eigentliche Individualitat, d. h. seinen moralischen Charakter,
seine Erkenntniskrafte, sein Temperament, seine Physiognomie usw.
kann keiner andern. Verdammen wir nun sein Wesen ganz und gar; so
bleibt ihm nichts ubrig, als in uns einen Todfeind zu bekampfen: denn
wir wollen ihm das Recht zu existiren nur unter der Bedingung
zugestehn, daß er ein anderer werde, als er unabanderlich ist. Darum also
mussen wir, um unter Menschen leben zu konnen, jeden, mit seiner
gegebenen Individualitat, wie immer sie auch ausgefallen sein mag, bestehn
und gelten lassen, und durfen bloß darauf bedacht sein, sie so, wie
ihre Art und Beschaffenheit es zulaßt, zu benutzen; aber weder auf
ihre Anderung hoffen, noch sie, so wie sie ist, schlechthin
verdammen[P]. Dies ist der wahre Sinn des Spruches: ≫leben und leben lassen≪.
Die Aufgabe ist indessen nicht so leicht, wie sie gerecht ist,
und glucklich ist zu schatzen, wer gar manche Individualitaten auf
immer meiden darf. -- Inzwischen ube man, um Menschen ertragen zu
lernen, seine Geduld an leblosen Gegenstanden, welche, vermoge
mechanischer oder sonst physischer Notwendigkeit, unserm Tun sich
hartnackig widersetzen; wozu taglich Gelegenheit ist. Die dadurch erlangte
Geduld lernt man nachher auf Menschen ubertragen, indem man sich gewohnt
zu denken, daß auch sie, wo immer sie uns hinderlich sind, dies
vermoge einer ebenso strengen, aus ihrer Natur hervorgehenden
Notwendigkeit sein mussen wie die, mit welcher die leblosen Dinge wirken;
daher es ebenso toricht ist, uber ihr Tun sich zu entrusten, wie uber
einen Stein, der uns in den Weg rollt.
[P] Bei manchem ist am
klugsten zu denken: ≫andern werde ich ihn nicht; also will ich ihn
benutzen.≪
22. Es ist zum Erstaunen, wie leicht und schnell Homogeneitat
oder Heterogeneitat des Geistes und Gemuts zwischen Menschen sich
im Gesprache kund gibt: an jeder Kleinigkeit wird sie fuhlbar.
Betreffe das Gesprach auch die fremdartigsten, gleichgultigsten Dinge; so
wird, zwischen wesentlich heterogenen, fast jeder Satz des einen dem
andern mehr oder minder mißfallen, mancher gar ihm argerlich sein.
Homogene hingegen fuhlen sogleich und in allem eine gewisse
Ubereinstimmung, die, bei großer Homogeneitat, bald zur vollkommenen
Harmonie, ja, zum Unisono zusammenfließt. Hieraus erklart sich zuvorderst,
warum die ganz Gewohnlichen so gesellig sind und uberall so leicht recht
gute Gesellschaft finden, -- so rechte, liebe, wackere Leute. Bei
den Ungewohnlichen fallt es umgekehrt aus, und desto mehr,
je ausgezeichneter sie sind; so daß sie, in ihrer Abgesondertheit,
zu Zeiten, sich ordentlich freuen konnen, in einem andern nur irgend
eine ihnen selbst homogene Fiber herausgefunden zu haben, und ware sie
noch so klein! Denn jeder kann dem andern nur so viel sein, wie dieser
ihm ist. Die eigentlichen großen Geister horsten, wie die Adler in
der Hohe, allein. -- Zweitens aber wird hieraus verstandlich, wie
die Gleichgesinnten sich so schnell zusammenfinden, gleich als ob
sie magnetisch zu einander gezogen wurden: -- verwandte Seelen grußen
sich von ferne. Am haufigsten freilich wird man dies an niedrig
Gesinnten oder schlecht Begabten zu beobachten Gelegenheit haben; aber nur
weil diese legionenweise existiren, die besseren und vorzuglichen
Naturen hingegen die seltenen sind und heißen. Demnach nun werden z. B.
in einer großen, auf praktische Zwecke gerichteten Gemeinschaft
zwei rechte Schurken sich so schnell erkennen, als trugen sie
ein Feldzeichen, und werden alsbald zusammentreten, um Mißbrauch
oder Verrat zu schmieden. Desgleichen, wenn man sich, _per
impossibile_, eine große Gesellschaft von lauter sehr verstandigen und
geistreichen Leuten denkt, bis auf zwei Dummkopfe, die auch dabei waren; so
werden diese sich sympathetisch zu einander gezogen fuhlen und bald
wird jeder von beiden sich in seinem Herzen freuen, doch wenigstens
einen vernunftigen Mann angetroffen zu haben. Wirklich merkwurdig ist
es, Zeuge davon zu sein, wie zwei, besonders von den moralisch
und intellektuell Zuruckstehenden, beim ersten Anblick einander
erkennen, sich eifrig einander zu nahern streben, freundlich und freudig
sich begrußend, einander entgegeneilen, als waren sie alte Bekannte; --
so auffallend ist es, daß man versucht wird, der
Buddhaistischen Metempsychosenlehre gemaß, anzunehmen, sie waren schon in
einem fruheren Leben befreundet gewesen.
Was jedoch, selbst bei vieler
Ubereinstimmung, Menschen auseinanderhalt, auch wohl vorubergehende
Disharmonie zwischen ihnen erzeugt, ist die Verschiedenheit der gegenwartigen
Stimmung, als welche fast immer fur jeden eine andere ist, nach Maßgabe
seiner gegenwartigen Lage, Beschaftigung, Umgebung, korperlichen
Zustandes, augenblicklichen Gedankenganges usw. Daraus entstehn zwischen
den harmonirendsten Personlichkeiten Dissonanzen. Die zur Aufhebung
dieser Storung erforderliche Korrektion stets vornehmen und
eine gleichschwebende Temperatur einfuhren zu konnen, ware eine
Leistung der hochsten Bildung. Wie viel die Gleichheit der Stimmung fur
die gesellige Gemeinschaft leiste, laßt sich daran ermessen, daß
sogar eine zahlreiche Gesellschaft zu lebhafter gegenseitiger Mitteilung
und aufrichtiger Teilnahme, unter allgemeinem Behagen, erregt wird,
sobald irgend etwas Objektives, sei es eine Gefahr oder eine Hoffnung
oder eine Nachricht oder ein seltener Anblick, ein Schauspiel, eine
Musik oder was sonst, auf alle zugleich und gleichartig einwirkt.
Denn dergleichen, indem es alle Privatinteressen uberwaltigt,
erzeugt universelle Einheit der Stimmung. In Ermangelung einer
solchen objektiven Einwirkung wird in der Regel eine subjektive ergriffen,
und sind demnach die Flaschen das gewohnliche Mittel, eine
gemeinschaftliche Stimmung in die Gesellschaft zu bringen. Sogar Tee und
Kaffee dienen dieser Absicht.
Eben aber aus jener Disharmonie, welche
die Verschiedenheit der momentanen Stimmung so leicht in alle Gemeinschaft
bringt, ist es zum Teil erklarlich, daß in der von dieser und allen
ahnlichen, storenden, wenn auch vorubergehenden, Einflussen befreiten
Erinnerung sich jeder idealisirt, ja, bisweilen fast verklart darstellt. Die
Erinnerung wirkt, wie das Sammlungsglas in der Kamera obskura: sie zieht
alles zusammen und bringt dadurch ein viel schoneres Bild hervor als
sein Original ist. Den Vorteil, so gesehn zu werden, erlangen wir zum
Teil schon durch jede Abwesenheit. Denn obgleich die
idealisirende Erinnerung, bis zur Vollendung ihres Werkes, geraumer Zeit
bedarf: so wird der Anfang desselben doch sogleich gemacht. Dieserwegen ist
es sogar klug, sich seinen Bekannten und guten Freunden nur
nach bedeutenden Zwischenraumen zu zeigen; indem man alsdann
beim Wiedersehen merken wird, daß die Erinnerung schon bei der
Arbeit gewesen ist.
23. Keiner kann *uber sich* sehen. Hiemit will ich
sagen: jeder sieht am andern so viel, als er selbst auch ist: denn er kann
ihn nur nach Maßgabe seiner eigenen Intelligenz fassen und verstehn. Ist nun
diese von der niedrigsten Art; so werden alle Geistesgaben, auch
die großten, ihre Wirkung auf ihn verfehlen und er an dem
Besitzer derselben nichts wahrnehmen, als bloß das Niedrigste in
dessen Individualitat, also nur dessen samtliche Schwachen, Temperaments-
und Charakterfehler. Daraus wird er fur ihn zusammengesetzt sein.
Die hoheren geistigen Fahigkeiten desselben sind fur ihn so
wenig vorhanden, wie die Farbe fur den Blinden. Denn alle Geister sind
dem unsichtbar, der keinen hat: und jede Wertschatzung ist ein Produkt
aus dem Werte des Geschatzten mit der Erkenntnissphare des
Schatzers. Hieraus folgt, daß man sich mit jedem, mit dem man spricht,
nivellirt, indem alles, was man vor ihm voraus haben kann, verschwindet und
sogar die dazu erforderte Selbstverleugnung vollig unerkannt bleibt.
Erwagt man nun, wie durchaus niedrig gesinnt und niedrig begabt, also
wie durchaus *gemein* die meisten Menschen sind; so wird man einsehn,
daß es nicht moglich ist, mit ihnen zu reden, ohne, auf solche Zeit,
(nach Analogie der elektrischen Verteilung) selbst *gemein* zu werden,
und dann wird man den eigentlichen Sinn und das Treffende des
Ausdrucks ≫sich gemein machen≪ grundlich verstehn, jedoch auch gern
jede Gesellschaft meiden, mit welcher man nur mittelst der
_partie honteuse_ seiner Natur kommuniziren kann. Auch wird man einsehn,
daß, Dummkopfen und Narren gegenuber, es nur *einen* Weg gibt,
seinen Verstand an den Tag zu legen, und der ist, daß man mit ihnen
nicht redet. Aber freilich wird alsdann in der Gesellschaft
manchem bisweilen zu Mute sein wie einem Tanzer, der auf einen Ball
gekommen ware, wo er lauter Lahme antrafe: mit wem soll er tanzen?
24.
*Der* Mensch gewinnt meine Hochachtung, als ein unter hundert Auserlesener,
welcher, wann er auf irgend etwas zu warten hat, also unbeschaftigt dasitzt,
nicht sofort mit dem, was ihm gerade in die Hande kommt, etwan seinem Stock,
oder Messer und Gabel, oder was sonst, taktmaßig hammert oder klappert.
Wahrscheinlich denkt er an etwas. Vielen Leuten hingegen sieht man an, daß
bei ihnen das Sehn die Stelle des Denkens ganz eingenommen hat: sie suchen
sich durch Klappern ihrer Existenz bewußt zu werden; wenn namlich kein
Cigarro bei der Hand ist, der eben diesem Zwecke dient. Aus demselben
Grunde sind sie auch bestandig ganz Auge und Ohr fur alles, was um
sie vorgeht.
25. *Rochefoucauld* hat treffend bemerkt, daß es schwer
ist, jemanden zugleich hoch zu verehren und sehr zu lieben. Demnach hatten
wir die Wahl, ob wir uns um die Liebe oder um die Verehrung der
Menschen bewerben wollen. Ihre Liebe ist stets eigennutzig, wenn auch
auf hochst verschiedene Weise. Zudem ist das, wodurch man sie
erwirbt, nicht immer geeignet, uns darauf stolz zu machen. Hauptsachlich
wird einer in dem Maße beliebt sein, als er seine Anspruche an Geist
und Herz der andern niedrig stellt, und zwar im Ernst und
ohne Verstellung, auch nicht bloß aus derjenigen Nachsicht, die in
der Verachtung wurzelt. Ruft man sich nun hiebei den sehr wahren
Ausspruch des *Helvetius* zuruck: _le degre d'esprit necessaire pour
nous plaire, est une mesure assez exacte du degre d'esprit que nous
avons_; -- so folgt aus diesen Pramissen die Konklusion. -- Hingegen mit
der Verehrung der Menschen steht es umgekehrt: sie wird ihnen nur
wider ihren Willen abgezwungen, auch, ebendeshalb, meistens verhehlt.
Daher gibt sie uns, im Innern, eine viel großere Befriedigung: sie hangt
mit unserm Werte zusammen; welches von der Liebe der Menschen
nicht unmittelbar gilt: denn diese ist subjektiv, die Verehrung
objektiv. Nutzlich ist uns die Liebe freilich mehr.
26. Die meisten
Menschen sind so subjektiv, daß im Grunde nichts Interesse fur sie hat, als
ganz allein sie selbst. Daher kommt es, daß sie bei allem, was gesagt wird,
sogleich an sich denken und jede zufallige, noch so entfernte Beziehung auf
irgend etwas ihnen Personliches ihre ganze Aufmerksamkeit an sich reißt und
in Besitz nimmt; so daß sie fur den objektiven Gegenstand der Rede
keine Fassungskraft ubrig behalten; wie auch, daß keine Grunde etwas
bei ihnen gelten, sobald ihr Interesse oder ihre Eitelkeit
denselben entgegensteht. Daher sind sie so leicht zerstreut, so leicht
verletzt, beleidigt oder gekrankt, daß man, von was es auch sei, objektiv
mit ihnen redend, nicht genug sich in acht nehmen kann vor irgend
welchen moglichen, vielleicht nachteiligen Beziehungen des Gesagten zu
dem werten und zarten Selbst, das man da vor sich hat: denn ganz allein
an diesem ist ihnen gelegen, sonst an nichts, und wahrend sie fur
das Wahre und Treffende, oder Schone, Feine, Witzige der fremden Rede
ohne Sinn und Gefuhl sind, haben sie die zarteste Empfindlichkeit
gegen jedes, was auch nur auf die entfernteste oder indirekteste Weise
ihre kleinliche Eitelkeit verletzen oder irgendwie nachteilig auf
ihr hochst pretioses Selbst reflektiren konnte; so daß sie in
ihrer Verletzbarkeit den kleinen Hunden gleichen, denen man, ohne
sich dessen zu versehen, so leicht auf die Pfote tritt und nun das
Gequieke anzuhoren hat; oder auch einem mit Wunden und Beulen bedeckten
Kranken verglichen werden konnen, bei dem man auf das Behutsamste
jede mogliche Beruhrung zu vermeiden hat. Bei manchen geht nun aber
die Sache so weit, daß sie Geist und Verstand, im Gesprach mit ihnen
an den Tag gelegt, oder doch nicht genugsam versteckt, geradezu als
eine Beleidigung empfinden, wenngleich sie solche vor der Hand
noch verhehlen; wonach dann aber nachher der Unerfahrene vergeblich
daruber nachsinnt und grubelt, wodurch in aller Welt er sich ihren Groll
und Haß zugezogen haben konne. -- Ebenso leicht sind sie aber
auch geschmeichelt und gewonnen. Daher ist ihr Urteil meistens
bestochen und bloß ein Ausspruch zu Gunsten ihrer Partei oder Klasse; nicht
aber ein objektives und gerechtes. Dies alles beruht darauf, daß in
ihnen der Wille bei Weitem die Erkenntnis uberwiegt und ihr
geringer Intellekt ganz im Dienste des Willens steht, von welchem er auch
nicht auf einen Augenblick sich losmachen kann.
Einen großartigen
Beweis von der erbarmlichen Subjektivitat der Menschen, infolge welcher sie
alles auf sich beziehn und von jedem Gedanken sogleich in gerader Linie auf
sich zuruckgehn, liefert die *Astrologie*, welche den Gang der großen
Weltkorper auf das armselige Ich bezieht, wie auch die Kometen am Himmel in
Verbindung bringt mit den irdischen Handeln und Lumpereien. Dies aber ist zu
allen und schon in den altesten Zeiten geschehen. (S. z. B. _Stob. Eclog. L.
I, c. 22, 9, pag. 478._)
27. Bei jeder Verkehrtheit, die im Publiko,
oder in der Gesellschaft, gesagt, oder in der Literatur geschrieben und wohl
aufgenommen, wenigstens nicht widerlegt wird, soll man nicht verzweifeln
und meinen, daß es nun dabei sein Bewenden haben werde; sondern wissen
und sich getrosten, daß die Sache hinterher und allmalig
ruminirt, beleuchtet, bedacht, erwogen, besprochen und meistens zuletzt
richtig beurteilt wird; so daß, nach einer, der Schwierigkeit
derselben angemessenen Frist, endlich fast alle begreifen, was der klare
Kopf sogleich sah. Unterdessen freilich muß man sich gedulden. Denn
ein Mann von richtiger Einsicht unter den Betorten gleicht dem, dessen
Uhr richtig geht in einer Stadt, deren Turmuhren alle falsch
gestellt sind. Er allein weiß die wahre Zeit: aber was hilft es ihm? alle
Welt richtet sich nach den falsch zeigenden Stadtuhren; sogar auch
die, welche wissen, daß seine Uhr allein die wahre Zeit angibt.
28.
Die Menschen gleichen darin den Kindern, daß sie unartig werden, wenn man sie
verzieht; daher man gegen keinen zu nachgiebig und liebreich sein darf. Wie
man in der Regel keinen Freund dadurch verlieren wird, daß man ihm ein
Darlehn abschlagt, aber sehr leicht dadurch, daß man es ihm gibt; ebenso,
nicht leicht einen durch stolzes und etwas vernachlassigendes Betragen; aber
oft infolge zu vieler Freundlichkeit und Zuvorkommens, als welche ihn
arrogant und unertraglich machen, wodurch der Bruch herbeigefuhrt wird.
Besonders aber den Gedanken, daß man ihrer benotigt sei, konnen die
Menschen schlechterdings nicht vertragen; Ubermut und Anmaßung sind
sein unzertrennliches Gefolge. Bei einigen entsteht er, in gewissem
Grade, schon dadurch, daß man sich mit ihnen abgibt, etwan oft, oder auf
eine vertrauliche Weise mit ihnen spricht: alsbald werden sie meinen,
man musse sich von ihnen auch etwas gefallen lassen, und werden
versuchen, die Schranken der Hoflichkeit zu erweitern. Daher taugen so wenige
zum irgend vertrauteren Umgang, und soll man sich besonders huten,
sich nicht mit niedrigen Naturen gemein zu machen. Faßt nun aber gar
einer den Gedanken, er sei mir viel notiger als ich ihm; da ist es
ihm sogleich, als hatte ich ihm etwas gestohlen: er wird suchen, sich
zu rachen und es wiederzuerlangen. *Uberlegenheit* im Umgang
erwachst allein daraus, daß man der andern in keiner Art und Weise bedarf,
und dies sehn laßt. Dieserwegen ist es ratsam, jedem, es sei Mann
oder Weib, von Zeit zu Zeit fuhlbar zu machen, daß man seiner sehr
wohl entraten konne: das befestigt die Freundschaft; ja, bei den
meisten Leuten kann es nicht schaden, wenn man ein Gran Geringschatzung
gegen sie, dann und wann, mit einfließen laßt: sie legen desto mehr Wert
auf unsere Freundschaft: _chi non istima vien stimato_ (wer nicht
achtet wird geachtet) sagt ein feines italienisches Sprichwort. Ist
aber einer uns wirklich sehr viel wert; so mussen wir dies vor
ihm verhehlen, als ware es ein Verbrechen. Das ist nun eben
nicht erfreulich; dafur aber wahr. Kaum daß Hunde die große
Freundlichkeit vertragen, geschweige Menschen.
29. Daß Leute edlerer
Art und hoherer Begabung so oft, zumal in der Jugend, auffallenden Mangel an
Menschenkenntnis und Weltklugheit verraten, daher leicht betrogen oder sonst
irre gefuhrt werden, wahrend die niedrigen Naturen sich viel schneller und
besser in die Welt zu finden wissen, liegt daran, daß man, beim Mangel
der Erfahrung, _a priori_ zu urteilen hat, und daß uberhaupt
keine Erfahrung es dem _a priori_ gleichtut. Dies _a priori_ namlich
gibt denen vom gewohnlichen Schlage das eigene Selbst an die Hand,
den Edelen und Vorzuglichen aber nicht: denn eben als solche sind sie
von den andern weit verschieden. Indem sie daher deren Denken und Tun
nach dem ihrigen berechnen, trifft die Rechnung nicht zu.
Wenn nun
aber auch ein Solcher _a posteriori_, also aus fremder Belehrung und eigener
Erfahrung, endlich gelernt hat, was von den Menschen, im Ganzen genommen, zu
erwarten steht, daß namlich etwa 5/6 derselben, in moralischer oder
intellektueller Hinsicht, so beschaffen sind, daß, wer nicht durch die
Umstande in Verbindung mit ihnen gesetzt ist, besser tut, sie vorweg zu
meiden und, soweit es angeht, außer allem Kontakt mit ihnen zu bleiben; -- so
wird er dennoch von ihrer Kleinlichkeit und Erbarmlichkeit kaum jemals
einen *ausreichenden* Begriff erlangen, sondern immerfort, so lange er
lebt, denselben noch zu erweitern und zu vervollstandigen haben,
unterdessen aber sich gar oft zu seinem Schaden verrechnen. Und dann
wieder, nachdem er die erhaltene Belehrung wirklich beherzigt hat, wird es
ihm dennoch zu Zeiten begegnen, daß er, in eine Gesellschaft ihm
noch unbekannter Menschen geratend, sich zu wundern hat, wie sie
doch samtlich, ihren Reden und Mienen nach, ganz vernunftig,
redlich, aufrichtig, ehrenfest und tugendsam, dabei auch wohl noch gescheut
und geistreich erscheinen. Dies sollte ihn jedoch nicht irren: denn
es kommt bloß daher, daß die Natur es nicht macht wie die
schlechten Poeten, welche, wann sie Schurken oder Narren darstellen, so plump
und absichtsvoll dabei zu Werke gehn, daß man gleichsam hinter
jeder solcher Person den Dichter stehn sieht, der ihre Gesinnung und
Rede fortwahrend desavouirt und mit warnender Stimme ruft: ≫dies ist
ein Schurke, dies ist ein Narr; gebt nichts auf das, was er sagt.≪
Die Natur hingegen macht es wie Shakespeare und Goethe, in deren
Werken jede Person, und ware sie der Teufel selbst, wahrend sie dasteht
und redet, Recht behalt; weil sie so objektiv aufgefaßt ist, daß wir
in ihr Interesse gezogen und zur Teilnahme an ihr gezwungen werden:
denn sie ist, eben wie die Werke der Natur, aus einem innern
Prinzip entwickelt, vermoge dessen ihr Sagen und Tun als naturlich, mithin
als notwendig auftritt. -- Also, wer erwartet, daß in der Welt die
Teufel mit Hornern und die Narren mit Schellen einhergehn, wird stets
ihre Beute oder ihr Spiel sein. Hiezu kommt aber noch, daß im Umgange
die Leute es machen, wie der Mond und die Bucklichten, namlich stets
nur eine Seite zeigen, und sogar jeder ein angeborenes Talent hat,
auf mimischem Wege seine Physiognomie zu einer Maske umzuarbeiten,
welche genau darstellt, was er eigentlich sein *sollte*, und die, weil
sie ausschließlich auf seine Individualitat berechnet ist, ihm so
genau anliegt und anpaßt, daß die Wirkung uberaus tauschend ausfallt.
Er legt sie an, so oft es darauf ankommt, sich einzuschmeicheln. Man
soll auf dieselbe so viel geben, als ware sie aus Wachstuch, eingedenk
des vortrefflichen italianischen Sprichworts: _non e si tristo cane,
che non meni la coda_ (so bose ist kein Hund, daß er nicht mit
dem Schwanze wedelte).
Jedenfalls soll man sich sorgfaltig huten, von
irgend einem Menschen neuer Bekanntschaft eine sehr gunstige Meinung zu
fassen; sonst wird man, in den allermeisten Fallen, zu eigener Beschamung
oder gar Schaden, enttauscht werden. -- Hiebei verdient auch
dies berucksichtigt zu werden: Gerade in Kleinigkeiten, als bei welchen
der Mensch sich nicht zusammennimmt, zeigt er seinen Charakter, und
da kann man oft, an geringfugigen Handlungen, an bloßen Manieren,
den grenzenlosen, nicht die mindeste Rucksicht auf andere
kennenden Egoismus bequem beobachten, der sich nachher im Großen
nicht verleugnet, wiewohl verlarvt. Und man versaume solche
Gelegenheit nicht. Wenn einer in den kleinen taglichen Vorgangen und
Verhaltnissen des Lebens, in den Dingen, von welchen das _de minimis lex non
curat_ gilt, rucksichtslos verfahrt, bloß seinen Vorteil oder
seine Bequemlichkeit, zum Nachteil anderer, sucht; wenn er sich
aneignet, was fur alle da ist usw.; da sei man uberzeugt, daß in seinem
Herzen keine Gerechtigkeit wohnt, sondern er auch im Großen ein Schuft
sein wird, sobald das Gesetz und die Gewalt ihm nicht die Hande binden,
und traue ihm nicht uber die Schwelle. Ja, wer ohne Scheu die
Gesetze seines Klubs bricht, wird auch die des Staates brechen, sobald er
es ohne Gefahr kann[Q].
[Q] Wenn in den Menschen, wie sie
meistenteils sind, das Gute das Schlechte uberwoge, so ware es geratener,
sich auf ihre Gerechtigkeit, Billigkeit, Dankbarkeit, Treue, Liebe oder
Mitleid zu verlassen, als auf ihre Furcht: weil es aber mit ihnen umgekehrt
steht, so ist das Umgekehrte geratener.
Hat nun einer, mit dem wir
in Verbindung oder Umgang stehn, uns etwas Unangenehmes oder Argerliches
erzeigt; so haben wir uns nur zu fragen, ob er uns so viel wert sei, daß wir
das Namliche, auch noch etwas verstarkt, uns nochmals und ofter von ihm
wollen gefallen lassen; -- oder nicht. (Vergeben und Vergessen heißt gemachte
kostbare Erfahrungen zum Fenster hinauswerfen.) Im bejahenden Fall wird
nicht viel daruber zu sagen sein, weil das Reden wenig hilft: wir
mussen also die Sache, mit oder ohne Ermahnung, hingehn lassen, sollen
jedoch wissen, daß wir hiedurch sie uns nochmals ausgebeten haben.
Im verneinenden Falle hingegen haben wir sogleich und auf immer mit
dem werten Freunde zu brechen, oder, wenn es ein Diener ist,
ihn abzuschaffen. Denn unausbleiblich wird er, vorkommenden Falls,
ganz dasselbe, oder das vollig Analoge, wieder tun, auch wenn er uns
jetzt das Gegenteil hoch und aufrichtig beteuert. Alles, alles kann
einer vergessen, nur nicht sich selbst, sein eigenes Wesen. Denn
der Charakter ist schlechthin inkorrigibel; weil alle Handlungen
des Menschen aus einem innern Prinzip fließen, vermoge dessen er,
unter gleichen Umstanden, stets das gleiche tun muß und nicht anders
kann. Man lese meine Preisschrift uber die sogenannte Freiheit des
Willens und befreie sich vom Wahn. Daher auch ist, sich mit einem Freunde,
mit dem man gebrochen hatte, wieder auszusohnen, eine Schwache, die
man abbußt, wann derselbe, bei erster Gelegenheit, gerade und
genau dasselbe wieder tut, was den Bruch herbeigefuhrt hatte; ja, mit
noch mehr Dreistigkeit, im stillen Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit.
Das Gleiche gilt von abgeschafften Dienern, die man
wiedernimmt. Ebensowenig, und aus demselben Grunde, durfen wir erwarten, daß
einer, unter *veranderten* Umstanden, das Gleiche, wie vorher, tun
werde. Vielmehr andern die Menschen Gesinnung und Betragen ebenso
schnell, wie ihr Interesse sich andert; ja, ihre Absichtlichkeit zieht
ihre Wechsel auf so kurze Sicht, daß man selbst noch kurzsichtiger
sein mußte, um sie nicht protestiren zu lassen.
Gesetzt demnach, wir
wollten etwan wissen, wie einer, in einer Lage, in die wir ihn zu versetzen
gedenken, handeln wird; so durfen wir hieruber nicht auf seine Versprechungen
und Beteuerungen bauen. Denn, gesetzt auch, er sprache aufrichtig; so spricht
er von einer Sache, die er nicht kennt. Wir mussen also allein aus der
Erwagung der Umstande, in die er zu treten hat, und des Konfliktes derselben
mit seinem Charakter, sein Handeln berechnen.
Um uberhaupt von der
wahren und sehr traurigen Beschaffenheit der Menschen, wie sie meistens sind,
das so notige, deutliche und grundliche Verstandnis zu erlangen, ist es
uberaus lehrreich, das Treiben und Benehmen derselben in der Literatur als
Kommentar ihres Treibens und Benehmens im praktischen Leben zu gebrauchen,
und _vice versa_. Dies ist sehr dienlich, um weder an sich, noch an ihnen
irre zu werden. Dabei aber darf kein Zug von besonderer
Niedertrachtigkeit oder Dummheit, der uns im Leben oder in der Literatur
aufstoßt, uns je ein Stoff zum Verdruß und Arger, sondern bloß zur Erkenntnis
werden, indem wir in ihm einen neuen Beitrag zur Charakteristik
des Menschengeschlechts sehn und demnach ihn uns merken. Alsdann
werden wir ihn ungefahr so betrachten, wie der Mineralog ein
ihm aufgestoßenes, sehr charakteristisches Spezimen eines Minerals.
-- Ausnahmen gibt es, ja, unbegreiflich große, und die Unterschiede
der Individualitaten sind enorm: aber, im Ganzen genommen, liegt,
wie langst gesagt ist, die Welt im argen: die Wilden fressen einander
und die Zahmen betrugen einander, und das nennt man den Lauf der Welt.
Was sind denn die Staaten, mit aller ihrer kunstlichen, nach außen
und nach innen gerichteten Maschinerie und ihren Gewaltmitteln
anderes, als Vorkehrungen, der grenzenlosen Ungerechtigkeit der
Menschen Schranken zu setzen? Sehn wir nicht, in der ganzen Geschichte,
jeden Konig, sobald er fest steht, und sein Land einiger
Prosperitat genießt, diese benutzen, um mit seinem Heer, wie mit
einer Rauberschar, uber die Nachbarstaaten herzufallen? Sind nicht fast
alle Kriege im Grunde Raubzuge? Im fruhen Altertum, wie auch zum Teil
im Mittelalter, wurden die Besiegten Sklaven der Sieger, d. h. im
Grunde, sie mußten fur diese arbeiten: dasselbe aber mussen die,
welche Kriegskontributionen zahlen: sie geben namlich den Ertrag
fruherer Arbeit hin. _Dans toutes les guerres il ne s'agit que de voler_,
sagt Voltaire, und die Deutschen sollen es sich gesagt sein
lassen.
30. Kein Charakter ist so, daß er sich selbst uberlassen bleiben
und sich ganz und gar gehn lassen durfte; sondern jeder bedarf der
Lenkung durch Begriffe und Maximen. Will man nun aber es hierin weit
bringen, namlich bis zu einem nicht aus unsrer angeborenen Natur, sondern
bloß aus vernunftiger Uberlegung hervorgegangenen, ganz
eigentlich erworbenen und kunstlichen Charakter; so wird man gar bald
das
_Naturam expelles furca, tamen usque recurret_
bestatigt
finden. Man kann namlich eine Regel fur das Betragen gegen andere sehr wohl
einsehn, ja, sie selbst auffinden und treffend ausdrucken, und wird dennoch,
im wirklichen Leben, gleich darauf, gegen sie verstoßen. Jedoch soll man
nicht sich dadurch entmutigen lassen und denken, es sei unmoglich, im
Weltleben sein Benehmen nach abstrakten Regeln und Maximen zu leiten, und
daher am besten, sich eben nur gehn zu lassen. Sondern es ist damit, wie mit
allen theoretischen Vorschriften und Anweisungen fur das Praktische:
die Regel verstehn ist das erste, sie ausuben lernen ist das zweite.
Jenes wird durch Vernunft auf einmal, dieses durch Ubung allmalig
gewonnen. Man zeigt dem Schuler die Griffe auf dem Instrument, die Paraden
und Stoße mit dem Rapier: er fehlt sogleich, trotz dem besten
Vorsatze, dagegen, und meint nun, sie in der Schnelle des Notenlesens und
der Hitze des Kampfes zu beobachten, sei schier unmoglich. Dennoch
lernt er es allmalig, durch Ubung, unter Straucheln, Fallen und
Aufstehn. Ebenso geht es mit den Regeln der Grammatik im lateinisch
Schreiben und Sprechen. Nicht anders also wird der Tolpel zum Hofmann,
der Hitzkopf zum feinen Weltmann, der Offene verschlossen, der
Edle ironisch. Jedoch wird eine solche, durch lange Gewohnheit
erlangte Selbstdressur stets als ein von außen gekommener Zwang wirken,
welchem zu widerstreben die Natur nie ganz aufhort und bisweilen
unerwartet ihn durchbricht. Denn alles Handeln nach abstrakten Maximen
verhalt sich zum Handeln aus ursprunglicher, angeborener Neigung, wie
ein menschliches Kunstwerk, etwan eine Uhr, wo Form und Bewegung dem
ihnen fremden Stoffe aufgezwungen sind, zum lebenden Organismus, bei
welchem Form und Stoff von einander durchdrungen und eins sind. An
diesem Verhaltnis des erworbenen zum angeborenen Charakter bestatigt
sich demnach ein Ausspruch des Kaisers Napoleon: _tout ce qui n'est
pas naturel est imparfait_; welcher uberhaupt eine Regel ist, die
von allem und jedem, sei es physisch oder moralisch, gilt, und von der
die einzige, mir einfallende Ausnahme das, den Mineralogen
bekannte, naturliche Aventurino ist, welches dem kunstlichen nicht
gleichkommt.
Darum sei hier auch vor aller und jeder *Affektation*
gewarnt. Sie erweckt allemal Geringschatzung: erstlich als Betrug, der als
solcher feige ist, weil er auf Furcht beruht; zweitens als
Verdammungsurteil seiner selbst durch sich selbst, indem man scheinen will,
was man nicht ist, und was man folglich fur besser halt, als was man ist.
Das Affektiren irgend einer Eigenschaft, das Sich-Brusten damit, ist
ein Selbstgestandnis, daß man sie nicht hat. Sei es Mut oder
Gelehrsamkeit oder Geist oder Witz oder Gluck bei Weibern oder Reichtum
oder vornehmer Stand, oder was sonst, womit einer groß tut; so kann
man daraus schließen, daß es ihm gerade daran in etwas gebricht: denn
wer wirklich eine Eigenschaft vollkommen besitzt, dem fallt es nicht
ein, sie herauszulegen und zu affektiren, sondern er ist daruber
ganz beruhigt. Dies ist auch der Sinn des spanischen
Sprichworts: _herradura que chacolotea clavo le falta_ (dem klappernden
Hufeisen fehlt ein Nagel). Allerdings darf, wie anfangs gesagt, keiner
sich unbedingt den Zugel schießen lassen und sich ganz zeigen, wie er
ist; weil das viele Schlechte und Bestialische unserer Natur der
Verhullung bedarf: aber dies rechtfertigt bloß das Negative, die
Dissimulation, nicht das Positive, die Simulation. -- Auch soll man wissen,
daß das Affektiren erkannt wird, selbst ehe klar geworden, was
eigentlich einer affektirt. Und endlich halt es auf die Lange nicht
Stich, sondern die Maske fallt einmal ab. _Nemo potest personam diu
ferre fictam. Ficta cito in naturam suam recidunt._ (_Seneca de
Clementia, L. I, c. 1._)
31. Wie man das Gewicht seines eigenen
Korpers tragt, ohne es, wie doch das jedes fremden, den man bewegen will, zu
fuhlen; so bemerkt man nicht die eigenen Fehler und Laster, sondern nur die
der andern. -- Dafur aber hat jeder am andern einen Spiegel, in welchem er
seine eigenen Laster, Fehler, Unarten und Widerlichkeiten jeder Art
deutlich erblickt. Allein meistens verhalt er sich dabei wie der Hund,
welcher gegen den Spiegel bellt, weil er nicht weiß, daß er sich selbst
sieht, sondern meint, es sei ein anderer Hund. Wer andre bekrittelt,
arbeitet an seiner Selbstbesserung. Also die, welche die Neigung und
Gewohnheit haben, das außerliche Benehmen, uberhaupt das Tun und Lassen
der andern im Stillen, bei sich selbst, einer aufmerksamen und
*scharfen Kritik* zu unterwerfen, arbeiten dadurch an ihrer eigenen
Besserung und Vervollkommnung: denn sie werden entweder Gerechtigkeit, oder
doch Stolz und Eitelkeit genug besitzen, selbst zu vermeiden, was sie
so oft strenge tadeln. Von den Toleranten gilt das Umgekehrte:
namlich _hanc veniam damus petimusque vicissim_. Das Evangelium
moralisirt recht schon uber den Splitter im fremden, den Balken im eigenen
Auge: aber die Natur des Auges bringt es mit sich, daß es nach außen
und nicht sich selbst sieht: daher ist, zum Innewerden der eigenen
Fehler, das Bemerken und Tadeln derselben an andern ein sehr
geeignetes Mittel. Zu unserer Besserung bedurfen wir eines
Spiegels.
Auch hinsichtlich auf Stil und Schreibart gilt diese Regel: wer
eine neue Narrheit in diesen bewundert, statt sie zu tadeln, wird
sie nachahmen. Daher greift in Deutschland jede so schnell um sich.
Die Deutschen sind sehr tolerant: man merkt's. _Hanc veniam
damus petimusque vicissim_ ist ihr Wahlspruch.
32. Der Mensch edlerer
Art glaubt, in seiner Jugend, die wesentlichen und entscheidenden
Verhaltnisse und daraus entstehenden Verbindungen zwischen Menschen seien die
*ideellen*, d. h. die auf Ahnlichkeit der Gesinnung, der Denkungsart, des
Geschmacks, der Geisteskrafte usw. beruhenden: allein er wird spater inne,
daß es die *reellen* sind, d. h. die, welche sich auf irgend ein materielles
Interesse stutzen. Diese liegen fast allen Verbindungen zum Grunde: sogar hat
die Mehrzahl der Menschen keinen Begriff von andern
Verhaltnissen. Demzufolge wird jeder genommen nach seinem Amt, oder Geschaft,
oder Nation, oder Familie, also uberhaupt nach der Stellung und
Rolle, welche die Konvention ihm erteilt hat: dieser gemaß wird er
sortirt und fabrikmaßig behandelt. Hingegen was er an und fur sich, also
als Mensch, vermoge seiner personlichen Eigenschaften sei, kommt
nur beliebig und daher nur ausnahmsweise zur Sprache, und wird von
jedem, sobald es ihm bequem ist, also meistenteils, beiseite gesetzt
und ignorirt. Je mehr nun aber es mit diesem auf sich hat, desto
weniger wird ihm jene Anordnung gefallen, er also sich ihrem Bereich
zu entziehn suchen. Sie beruht jedoch darauf, daß, in dieser Welt der
Not und des Bedurfnisses, die Mittel, diesen zu begegnen, uberall
das Wesentliche, mithin Vorherrschende sind.
33. Wie Papiergeld statt
des Silbers, so kursiren in der Welt, statt der wahren Achtung und der wahren
Freundschaft, die außerlichen Demonstrationen und moglichst naturlich
mimisirten Gebarden derselben. Indessen laßt sich andrerseits auch fragen, ob
es denn Leute gebe, welche jene wirklich verdienten. Jedenfalls gebe ich mehr
auf das Schwanzwedeln eines ehrlichen Hundes, als auf hundert
solche Demonstrationen und Gebarden.
Wahre, echte Freundschaft setzt
eine starke, rein objektive und vollig uninteressirte Teilnahme am Wohl und
Wehe des andern voraus, und diese wieder ein wirkliches Sich mit dem Freunde
identifiziren. Dem steht der Egoismus der menschlichen Natur so sehr
entgegen, daß wahre Freundschaft zu den Dingen gehort, von denen man, wie von
den kolossalen Seeschlangen, nicht weiß, ob sie fabelhaft sind,
oder irgendwo existiren. Indessen gibt es mancherlei, in der
Hauptsache freilich auf versteckten egoistischen Motiven der mannigfaltigsten
Art beruhende Verbindungen zwischen Menschen, welche dennoch mit
einem Gran jener wahren und echten Freundschaft versetzt sind, wodurch
sie so veredelt werden, daß sie, in dieser Welt der
Unvollkommenheiten, mit einigem Fug den Namen der Freundschaft fuhren durfen.
Sie stehn hoch uber den alltaglichen Liaisons, welche vielmehr so sind, daß
wir mit den meisten unserer guten Bekannten kein Wort mehr reden
wurden, wenn wir horten, wie sie in unsrer Abwesenheit von uns
reden.
Die Echtheit eines Freundes zu erproben, hat man, nachst den
Fallen, wo man ernstlicher Hilfe und bedeutender Opfer bedarf, die
beste Gelegenheit in dem Augenblick, da man ihm ein Ungluck, davon
man soeben getroffen worden, berichtet. Alsdann namlich malt sich
in seinen Zugen entweder wahre, innige, unvermischte Betrubnis; oder
aber sie bestatigen, durch ihre gefaßte Ruhe, oder einen
fluchtigen Nebenzug, den bekannten Ausspruch des *Rochefoucauld*:
_dans l'adversite de nos meilleurs amis, nous trouvons toujours
quelque chose qui ne nous deplait pas_. Die gewohnlichen sogenannten
Freunde vermogen, bei solchen Gelegenheiten, oft kaum das Zucken zu
einem leisen, wohlgefalligen Lacheln zu unterdrucken. -- Es gibt
wenig Dinge, welche so sicher die Leute in gute Laune versetzen, wie
wenn man ihnen ein betrachtliches Ungluck, davon man kurzlich
getroffen worden, erzahlt, oder auch irgend eine personliche Schwache
ihnen unverhohlen offenbart. -- Charakteristisch! --
Entfernung und
lange Abwesenheit tun jeder Freundschaft Eintrag; so ungern man es gesteht.
Denn Menschen, die wir nicht sehn, waren sie auch unsere geliebtesten
Freunde, trocknen, im Laufe der Jahre, allmahlich zu abstrakten Begriffen
aus, wodurch unsere Teilnahme an ihnen mehr und mehr eine bloß vernunftige,
ja traditionelle wird: die lebhafte und tiefgefuhlte bleibt denen
vorbehalten, die wir vor Augen haben, und waren es auch nur geliebte Tiere.
So sinnlich ist die menschliche Natur. Also bewahrt sich auch hier Goethes
Ausspruch:
≫Die Gegenwart ist eine macht'ge
Gottin.≪
(Tasso, Aufzug 4, Auftr. 4.)
Die *Hausfreunde* heißen
meistens mit Recht so, indem sie mehr die Freunde des Hauses, als des Herrn,
also den Katzen ahnlicher als den Hunden, sind.
Die Freunde nennen
sich aufrichtig; die Feinde sind es: daher man ihren Tadel zur
Selbsterkenntnis benutzen sollte, als eine bittre Arznei. --
Freunde
in der Not waren selten? -- Im Gegenteil! Kaum hat man mit einem Freundschaft
gemacht; so ist er auch schon in der Not und will Geld geliehen haben.
--
34. Was fur ein Neuling ist doch der, welcher wahnt, Geist
und Verstand zu zeigen ware ein Mittel, sich in Gesellschaft beliebt
zu machen! Vielmehr erregen sie, bei der unberechenbar
uberwiegenden Mehrzahl, einen Haß und Groll, der um so bitterer ist, als der
ihn Fuhlende die Ursache desselben anzuklagen nicht berechtigt ist,
ja, sie vor sich selbst verhehlt. Der nahere Hergang ist dieser: merkt
und empfindet einer große geistige Uberlegenheit an dem, mit welchem
er redet, so macht er, im stillen und ohne deutliches Bewußtsein,
den Schluß, daß in gleichem Maße der andere seine Inferioritat
und Beschranktheit merkt und empfindet. Dieses Enthymem erregt
seinen bittersten Haß, Groll und Ingrimm. (Vergl. Welt als Wille
und Vorstell., 3. Aufl., Bd. II, 256 die angefuhrten Worte des
Dr. *Johnsons* und *Mercks*, des Jugendfreundes Goethes.) Mit Recht
sagt daher *Gracian*: ≫_para ser bien quisto, el unico medio vestirse
la piel del mas simple de los brutos_.≪ (S. _Oraculo manual, y arte
de prudencia, 240. [Obras, Amberes 1702, P. II, p. 287.]_) Ist doch
Geist und Verstand an den Tag legen, nur eine indirekte Art, allen
andern ihre Unfahigkeit und Stumpfsinn vorzuwerfen. Zudem gerat die
gemeine Natur in Aufruhr, wenn sie ihr Gegenteil ansichtig wird, und
der geheime Anstifter des Aufruhrs ist der Neid. Denn die
Befriedigung ihrer Eitelkeit ist, wie man taglich sehn kann, ein Genuß, der
den Leuten uber alles geht, der jedoch allein mittelst der
Vergleichung ihrer selbst mit andern moglich ist. Auf keine Vorzuge aber ist
der Mensch so stolz, wie auf die geistigen: beruht doch nur auf ihnen
sein Vorrang vor den Tieren[R]. Ihm entschiedene Uberlegenheit in
dieser Hinsicht vorzuhalten, und noch dazu vor Zeugen, ist daher die
großte Verwegenheit. Er fuhlt sich dadurch zur Rache aufgefordert und
wird meistens Gelegenheit suchen, diese auf dem Wege der
Beleidigung auszufuhren, als wodurch er vom Gebiete der Intelligenz auf das
des Willens tritt, auf welchem wir, in dieser Hinsicht, alle gleich
sind. Wahrend daher in der Gesellschaft Stand und Reichtum stets
auf Hochachtung rechnen durfen, haben geistige Vorzuge solche
keineswegs zu erwarten: im gunstigsten Fall werden sie ignorirt, sonst
aber angesehn als eine Art Impertinenz, oder als etwas, wozu ihr
Besitzer unerlaubter Weise gekommen ist und nun sich untersteht damit
zu stolziren; wofur ihm also irgend eine anderweitige
Demutigung angedeihen zu lassen jeder im stillen beabsichtigt und nur auf
die Gelegenheit dazu paßt. Kaum wird es dem demutigsten Betragen
gelingen, Verzeihung fur geistige Uberlegenheit zu erbetteln. Sadi sagt
im Gulistan (S. 146 der Ubersetzung von Graf): ≫Man wisse, daß sich
bei dem Unverstandigen hundertmal mehr Widerwillen gegen den
Verstandigen findet, als der Verstandige Abneigung gegen den
Unverstandigen empfindet.≪ -- Hingegen gereicht geistige *Inferioritat* zur
wahren Empfehlung. Denn was fur den Leib die Warme, das ist fur den Geist
das wohltuende Gefuhl der Uberlegenheit; daher jeder, so instinktmaßig
wie dem Ofen, oder dem Sonnenschein, sich dem Gegenstande nahert, der
es ihm verheißt. Ein solcher nun ist allein der entschieden
tiefer Stehende, an Eigenschaften des Geistes, bei Mannern, an Schonheit,
bei Weibern. Manchen Leuten gegenuber freilich unverstellte
Inferioritat zu beweisen -- da gehort etwas dazu. Dagegen sehe man, mit
welcher herzlichen Freundlichkeit ein ertragliches Madchen
einem grundhaßlichen entgegenkommt. Korperliche Vorzuge kommen bei
Mannern nicht sehr in Betracht; wiewohl man sich doch behaglicher neben
einem kleineren, als neben einem großeren fuhlt. Demzufolge also sind,
unter Mannern, die dummen und unwissenden, unter Weibern die
haßlichen allgemein beliebt und gesucht: sie erlangen leicht den Ruf
eines uberaus guten Herzens; weil jedes fur seine Zuneigung, vor sich
selbst und vor andern, eines Vorwandes bedarf. Eben deshalb
ist Geistesuberlegenheit jeder Art eine sehr isolirende Eigenschaft:
sie wird geflohen und gehaßt, und als Vorwand hiezu werden ihrem
Besitzer allerhand Fehler angedichtet[S]. Gerade so wirkt unter Weibern
die Schonheit: sehr schone Madchen finden keine Freundin, ja,
keine Begleiterin. Zu Stellen als Gesellschafterinnen tun sie besser
sich gar nicht zu melden: denn schon bei ihrem Vortritt verfinstert
sich das Gesicht der gehofften neuen Gebieterin, als welche, sei es
fur sich, oder fur ihre Tochter, einer solchen Folie keineswegs bedarf.
-- Hingegen verhalt es sich umgekehrt mit den Vorzugen des Ranges;
weil diese nicht, wie die personlichen, durch den Kontrast und
Abstand, sondern, wie die Farben der Umgebung auf das Gesicht, durch den
Reflex wirken. |
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