Hieher gehort die Bemerkung, daß, nach langerer Zeit und nachdem
die Verhaltnisse und Umgebungen, welche auf uns
einwirkten, vorubergegangen sind, wir nicht vermogen, unsere damals durch
sie erregte Stimmung und Empfindung uns zuruckzurufen und zu
erneuern: wohl aber konnen wir unserer eigenen, damals von ihnen
hervorgerufenen *Außerungen* uns erinnern. Diese nun sind das Resultat, der
Ausdruck und der Maßstab jener. Daher sollte das Gedachtnis, oder das
Papier, dergleichen, aus denkwurdigen Zeitpunkten, sorgfaltig
aufbewahren. Hiezu sind Tagebucher sehr nutzlich.
9. Sich selber
genugen, sich selber alles in allem sein, und sagen konnen _omnia mea mecum
porto_, ist gewiß fur unser Gluck die forderlichste Eigenschaft: daher der
Ausspruch des *Aristoteles* =he eudaimonia ton autarkon esti= (_felicitas
sibi sufficientium est. Eth. Eud. 7, 2_) nicht zu oft wiederholt werden kann.
(Auch ist es im wesentlichen derselbe Gedanke, den, in einer uberaus artigen
Wendung, die Sentenz Chamforts ausdruckt, welche ich dieser Abhandlung
als Motto vorgesetzt habe.) Denn teils darf man, mit einiger
Sicherheit, auf niemand zahlen, als auf sich selbst, und teils sind
die Beschwerden und Nachteile, die Gefahr und der Verdruß, welche
die Gesellschaft mit sich fuhrt, unzahlig und unausweichbar.
Kein
verkehrterer Weg zum Gluck, als das Leben in der großen Welt, in Saus und
Braus (_high life_): denn es bezweckt, unser elendes Dasein in eine
Sukzession von Freude, Genuß, Vergnugen zu verwandeln, wobei die Enttauschung
nicht ausbleiben kann; so wenig, wie bei der obligaten Begleitung dazu, dem
gegenseitigen einander Belugen[K].
[K] Wie unser Leib in die Gewander,
so ist unser Geist in Lugen verhullt. Unser Reden, Tun, unser ganzes Wesen
ist lugenhaft: und erst durch diese Hulle hindurch kann man bisweilen
unsere wahre Gesinnung erraten, wie durch die Gewander hindurch die Gestalt
des Leibes.
Zunachst erfordert jede Gesellschaft notwendig eine
gegenseitige Akkommodation und Temperatur: daher wird sie, je großer, desto
fader. Ganz *er selbst sein* darf jeder nur so lange er allein ist: wer
also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit:
denn nur wann man allein ist, ist man frei. Zwang ist der
unzertrennliche Gefahrte jeder Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die um
so schwerer fallen, je bedeutender die eigene Individualitat ist. Demgemaß
wird jeder in genauer Proportion zum Werte seines eigenen Selbst die
Einsamkeit fliehen, ertragen oder lieben. Denn in ihr fuhlt der Jammerliche
seine ganze Jammerlichkeit, der große Geist seine ganze Große, kurz, jeder
sich als was er ist. Ferner, je hoher einer auf der Rangliste der Natur
steht, desto einsamer steht er, und zwar wesentlich und unvermeidlich. Dann
aber ist es eine Wohltat fur ihn, wenn die physische Einsamkeit der geistigen
entspricht: widrigenfalls dringt die haufige Umgebung heterogener Wesen
storend, ja, feindlich auf ihn ein, raubt ihm sein Selbst und hat nichts als
Ersatz dafur zu geben. Sodann, wahrend die Natur zwischen Menschen die
weiteste Verschiedenheit, im Moralischen und Intellektuellen, gesetzt
hat, stellt die Gesellschaft, diese fur nichts achtend, sie alle
gleich, oder vielmehr sie setzt an ihre Stelle die kunstlichen
Unterschiede und Stufen des Standes und Ranges, welche der Rangliste der
Natur sehr oft diametral entgegen laufen. Bei dieser Anordnung stehen sich
die, welche die Natur niedrig gestellt hat, sehr gut; die wenigen
aber, welche sie hoch stellte, kommen dabei zu kurz; daher diese sich
der Gesellschaft zu entziehn pflegen und in jeder, sobald sie
zahlreich ist, das Gemeine vorherrscht. Was den großen Geistern die
Gesellschaft verleidet, ist die Gleichheit der Rechte, folglich der
Anspruche, bei der Ungleichheit der Fahigkeiten, folglich der
(gesellschaftlichen) Leistungen, der andern. Die sogenannte gute Sozietat
laßt Vorzuge aller Art gelten, nur nicht die geistigen, diese sind
sogar Kontrebande. Sie verpflichtet uns, gegen jede Torheit,
Narrheit, Verkehrtheit, Stumpfheit, grenzenlose Geduld zu beweisen;
personliche Vorzuge hingegen sollen sich Verzeihung erbetteln oder sich
verbergen; denn die geistige Uberlegenheit verletzt durch ihre bloße
Existenz, ohne alles Zutun des Willens. Demnach hat die Gesellschaft, welche
man die gute nennt, nicht nur den Nachteil, daß sie uns
Menschen darbietet, die wir nicht loben und lieben konnen, sondern sie
laßt auch nicht zu, daß wir selbst seien, wie es unsrer Natur
angemessen ist; vielmehr notigt sie uns, des Einklanges mit den anderen
wegen, einzuschrumpfen, oder gar uns selbst zu verunstalten.
Geistreiche Reden oder Einfalle gehoren nur vor geistreiche Gesellschaft: in
der gewohnlichen sind sie geradezu verhaßt; denn um in dieser zu
gefallen, ist durchaus notwendig, daß man platt und bornirt sei. In
solcher Gesellschaft mussen wir daher, mit schwerer
Selbstverleugnung, dreiviertel unserer selbst aufgeben, um uns den andern
zu verahnlichen. Dafur haben wir dann freilich die andern: aber je
mehr eigenen Wert einer hat, desto mehr wird er finden, daß hier der
Gewinn den Verlust nicht deckt und das Geschaft zu seinem
Nachteil ausschlagt; weil die Leute, in der Regel, insolvent sind, d. h.
in ihrem Umgang nichts haben, das fur die Langweiligkeit, die
Beschwerden und Unannehmlichkeiten desselben und fur die Selbstverleugnung,
die er auflegt, schadlos hielte: demnach ist die allermeiste Gesellschaft
so beschaffen, daß, wer sie gegen die Einsamkeit vertauscht, einen
guten Handel macht. Dazu kommt noch, daß die Gesellschaft, um die echte,
d. i. die geistige Uberlegenheit, welche sie nicht vertragt und die
auch schwer zu finden ist, zu ersetzen, eine falsche, konventionelle,
auf willkurlichen Satzungen beruhende und traditionell unter den
hoheren Standen sich fortpflanzende, auch, wie die Parole,
veranderliche Uberlegenheit beliebig angenommen hat: diese ist, was der gute
Ton, _bon ton_, _fashionableness_ genannt wird. Wann sie jedoch einmal
mit der echten in Kollision gerat, zeigt sich ihre Schwache. --
Zudem, _quand le bon ton arrive, le bons sens se retire_.
Uberhaupt
aber kann jeder *im vollkommensten Einklange* nur mit sich selbst stehn;
nicht mit seinem Freunde, nicht mit seiner Geliebten: denn die Unterschiede
der Individualitat und Stimmung fuhren allemal eine, wenn auch geringe,
Dissonanz herbei. Daher ist der wahre, tiefe Friede des Herzens und die
vollkommene Gemutsruhe, dieses, nachst der Gesundheit hochste irdische Gut,
allein in der Einsamkeit zu finden und als dauernde Stimmung nur in der
tiefsten Zuruckgezogenheit. Ist dann das eigene Selbst groß und reich; so
genießt man den glucklichsten Zustand, der auf dieser armen Erde gefunden
werden mag. Ja, es sei heraus gesagt: so eng auch Freundschaft, Liebe und
Ehe Menschen verbinden; *ganz ehrlich* meint jeder es am Ende doch nur
mit sich selbst und hochstens noch mit seinem Kinde. -- Je weniger
einer, infolge objektiver oder subjektiver Bedingungen, notig hat, mit
den Menschen in Beruhrung zu kommen, desto besser ist er daran.
Die Einsamkeit und Ode laßt alle ihre Ubel auf einmal, wenn auch
nicht empfinden, doch ubersehn: hingegen die Gesellschaft ist
*insidios*: sie verbirgt hinter dem Scheine der Kurzweil, der Mitteilung,
des geselligen Genusses usf. große, oft unheilbare Ubel. Ein
Hauptstudium der Jugend sollte sein, *die Einsamkeit ertragen zu lernen*;
weil sie eine Quelle des Gluckes, der Gemutsruhe ist. -- Aus diesem allen
nun folgt, daß der am besten daran ist, der nur auf sich selbst
gerechnet hat und sich selber alles in allem sein kann; sogar sagt Cicero:
_Nemo potest non beatissimus esse, qui est totus aptus ex sese, quique in
se uno ponit omnia._ (_Paradox. II._) Zudem, je mehr einer an sich
selber hat, desto weniger konnen andere ihm sein. Ein gewisses Gefuhl
von Allgenugsamkeit ist es, welches die Leute von innerm Wert und
Reichtum abhalt, der Gemeinschaft mit andern die bedeutenden Opfer, welche
sie verlangt, zu bringen, geschweige dieselbe, mit
merklicher Selbstverleugnung, zu suchen. Das Gegenteil hievon macht
die gewohnlichen Leute so gesellig und akkommodant: es wird ihnen
namlich leichter, andere zu ertragen, als sich selbst. Noch kommt hinzu,
daß, was wirklichen Wert hat in der Welt, nicht geachtet wird, und,
was geachtet wird, keinen Wert hat. Hievon ist die Zuruckgezogenheit
jedes Wurdigen und Ausgezeichneten der Beweis und die Folge. Diesem
allen nach wird es in dem, der etwas Rechtes an sich selber hat,
echte Lebensweisheit sein, wenn er, erforderlichen Falls seine
Bedurfnisse einschrankt, um nur seine Freiheit zu wahren oder zu erweitern,
und demnach mit seiner Person, da sie unvermeidliche Verhaltnisse
zur Menschenwelt hat, so kurz wie moglich sich abfindet.
Was nun
andrerseits die Menschen gesellig macht, ist ihre Unfahigkeit, die
Einsamkeit, und in dieser sich selbst, zu ertragen. Innere Leere und Uberdruß
sind es, von denen sie sowohl in die Gesellschaft, wie in die Fremde und auf
Reisen getrieben werden. Ihrem Geiste mangelt es an Federkraft, sich eigene
Bewegung zu erteilen: daher suchen sie Erhohung derselben durch Wein und
werden viele auf diesem Wege zu Trunkenbolden. Eben daher bedurfen sie der
steten Erregung von außen und zwar der starkesten, d. i. der durch Wesen
ihresgleichen. Ohne diese sinkt ihr Geist, unter seiner eigenen Schwere,
zusammen und verfallt in eine druckende Lethargie[L]. Imgleichen ließe sich
sagen, daß jeder von ihnen nur ein kleiner Bruch der Idee der Menschheit
sei, daher er vieler Erganzung durch andere bedarf, damit einigermaßen
ein volles menschliches Bewußtsein herauskomme: hingegen wer ein
ganzer Mensch ist, ein Mensch *par excellence*, der stellt eine Einheit
und keinen Bruch dar, hat daher an sich selbst genug. Man kann, in
diesem Sinne, die gewohnliche Gesellschaft jener russischen
Hornmusik vergleichen, bei der jedes Horn nur einen Ton hat und bloß durch
das punktliche Zusammentreffen aller eine Musik herauskommt. Denn
monoton, wie ein solches eintoniges Horn, ist der Sinn und Geist
der allermeisten Menschen: sehn doch viele von ihnen schon aus, als
hatten sie immerfort nur einen und denselben Gedanken, unfahig irgend
einen andern zu denken. Hieraus also erklart sich nicht nur, warum sie
so langweilig, sondern auch warum sie so gesellig sind und am
liebsten herdenweise einhergehn: _the gregariousness of mankind_. Die
Monotonie seines eigenen Wesens ist es, die jedem von ihnen unertraglich
wird: -- _omnis stultitia laborat fastidio sui_: -- nur zusammen und
durch die Vereinigung sind sie irgend etwas; -- wie jene Hornblaser.
Dagegen ist der geistvolle Mensch einem Virtuosen zu vergleichen, der
sein Konzert *allein* ausfuhrt; oder auch dem Klavier. Wie namlich
dieses, fur sich allein, ein kleines Orchester, so ist er eine kleine
Welt, und was jene alle erst durch das Zusammenwirken sind, stellt er dar
in der Einheit Eines Bewußtseins. Wie das Klavier, ist er kein Teil
der Symphonie, sondern fur das Solo und die Einheit geeignet: soll er
mit ihnen zusammenwirken; so kann er es nur sein als Prinzipalstimme
mit Begleitung, wie das Klavier; oder zum Tonangeben, bei Vokalmusik,
wie das Klavier. -- Wer inzwischen Gesellschaft liebt, kann sich
aus diesem Gleichnis die Regel abstrahiren, daß was den Personen
seines Umgangs an Qualitat abgeht, durch die Quantitat einigermaßen
ersetzt werden muß. An einem einzigen geistvollen Menschen kann er
Umgang genug haben: ist aber nichts als die gewohnliche Sorte zu finden,
so ist es gut, von dieser recht viele zu haben, damit durch
die Mannigfaltigkeit und das Zusammenwirken etwas herauskomme, --
nach Analogie der besagten Hornmusik: -- und der Himmel schenke ihm
dazu Geduld.
[L] Bekanntlich werden Ubel dadurch erleichtert, daß
man sie gemeinschaftlich ertragt: zu diesen scheinen die Leute die
Langeweile zu zahlen; daher sie sich zusammensetzen, um sich
gemeinschaftlich zu langweilen. Wie die Liebe zum Leben im Grunde nur
Furcht vor dem Tode ist, so ist auch der *Geselligkeitstrieb* der Menschen
im Grunde kein direkter, beruht namlich nicht auf Liebe zur Gesellschaft,
sondern auf Furcht vor der *Einsamkeit*, indem es nicht sowohl die
holdselige Gegenwart der andern ist, die gesucht, als vielmehr die Ode
und Beklommenheit des Alleinseins, nebst der Monotonie des
eigenen Bewußtseins, die geflohen wird; welcher zu entgehn man daher auch
mit schlechter Gesellschaft vorlieb nimmt, imgleichen das Lastige und
den Zwang, den eine jede notwendig mit sich bringt, sich gefallen laßt.
-- Hat hingegen der Widerwille gegen dieses alles gesiegt und
ist, infolge davon, die Gewohnheit der Einsamkeit und die Abhartung
gegen ihren unmittelbaren Eindruck eingetreten, so daß sie die
oben bezeichneten Wirkungen nicht mehr hervorbringt; dann kann man
mit großter Behaglichkeit immerfort allein sein, ohne sich
nach Gesellschaft zu sehnen; eben weil das Bedurfnis derselben
kein direktes ist und man andrerseits sich jetzt an die
wohltatigen Eigenschaften der Einsamkeit gewohnt hat.
Jener innern
Leere aber und Durftigkeit der Menschen ist auch dieses zuzuschreiben, daß,
wenn einmal, irgendeinen edelen, idealen Zweck beabsichtigend, Menschen
besserer Art zu einem Verein zusammentreten, alsdann der Ausgang fast immer
dieser ist, daß aus jenem _plebs_ der Menschheit, welcher, in zahlloser
Menge, wie Ungeziefer, uberall alles erfullt und bedeckt, und stets bereit
ist, jedes, ohne Unterschied, zu ergreifen, um damit seiner Langenweile, wie
unter anderen Umstanden seinem Mangel, zu Hilfe zu kommen, -- auch dort
einige sich einschleichen, oder eindrangen und dann bald entweder die ganze
Sache zerstoren, oder sie so verandern, daß sie ziemlich das Gegenteil
der ersten Absicht wird.
Ubrigens kann man die Geselligkeit auch
betrachten als ein geistiges Erwarmen der Menschen an einander, gleich jenem
korperlichen, welches sie, bei großer Kalte, durch Zusammendrangen
hervorbringen. Allein wer selbst viel geistige Warme hat, bedarf solcher
Gruppirung nicht. Eine in diesem Sinne von mir erdachte Fabel wird man im 2.
Bande dieses Werkes finden, im letzten Kapitel. Diesem allen zufolge steht
die Geselligkeit eines jeden ungefahr im umgekehrten Verhaltnisse
seines intellektuellen Wertes; und ≫er ist sehr ungesellig≪ sagt
beinahe schon ≫er ist ein Mann von großen Eigenschaften.≪
Dem
intellektuell hochstehenden Menschen gewahrt namlich die Einsamkeit einen
zwiefachen Vorteil: erstlich den, mit sich selber zu sein, und zweitens den,
nicht mit andern zu sein. Diesen letzteren wird man hoch anschlagen, wenn man
bedenkt, wie viel Zwang, Beschwerde und selbst Gefahr jeder Umgang mit sich
bringt. _Tout notre mal vient de ne pouvoir etre seul_, sagt *Labruyere*.
*Geselligkeit* gehort zu den gefahrlichen, ja, verderblichen Neigungen, da
sie uns in Kontakt bringt mit Wesen, deren große Mehrzahl moralisch schlecht
und intellektuell stumpf oder verkehrt ist. Der Ungesellige ist einer,
der ihrer nicht bedarf. An sich selber so viel zu haben, daß man
der Gesellschaft nicht bedarf, ist schon deshalb ein großes Gluck,
weil fast alle unsere Leiden aus der Gesellschaft entspringen, und
die Geistesruhe, welche, nachst der Gesundheit, das wesentlichste
Element unseres Gluckes ausmacht, durch jede Gesellschaft gefahrdet wird
und daher ohne ein bedeutendes Maß von Einsamkeit nicht bestehen kann.
Um des Gluckes der Geistesruhe teilhaft zu werden, entsagen die
Kyniker jedem Besitz: wer in gleicher Absicht der Gesellschaft entsagt,
hat das weiseste Mittel erwahlt. Denn so treffend, wie schon, ist
was *Bernardin de St. Pierre* sagt: _la diete des alimens nous rend
la sante du corps, et celle des hommes la tranquillite de l'ame_.
Sonach hat, wer sich zeitig mit der Einsamkeit befreundet, ja, sie
lieb gewinnt, eine Goldmine erworben. Aber keineswegs vermag dies
jeder. Denn, wie ursprunglich die Not, so treibt, nach Beseitigung
dieser, die Langeweile die Menschen zusammen. Ohne beide bliebe wohl
jeder allein; schon weil nur in der Einsamkeit die Umgebung
der ausschließlichen Wichtigkeit, ja, Einzigkeit entspricht, die jeder
in seinen eigenen Augen hat, und welche vom Weltgedrange zu
nichts verkleinert wird; als wo sie, bei jedem Schritt, ein
schmerzliches _dementi_ erhalt. In diesem Sinne ist die Einsamkeit sogar
der naturliche Zustand eines jeden: sie setzt ihn wieder ein, als
ersten Adam, in das ursprungliche, seiner Natur angemessene
Gluck.
Aber hatte doch auch Adam weder Vater, noch Mutter! Daher wieder
ist, in einem andern Sinne, die Einsamkeit dem Menschen nicht
naturlich; sofern namlich er, bei seinem Eintritt in die Welt, sich nicht
allein, sondern zwischen Eltern und Geschwistern, also in
Gemeinschaft, gefunden hat. Demzufolge kann die Liebe zur Einsamkeit nicht
als ursprunglicher Hang dasein, sondern erst infolge der Erfahrung und
des Nachdenkens entstehn; und dies wird statthaben, nach Maßgabe
der Entwickelung eigener geistiger Kraft, zugleich aber auch mit
der Zunahme der Lebensjahre; wonach denn, im ganzen genommen,
der Geselligkeitstrieb eines jeden im umgekehrten Verhaltnisse
seines Alters stehn wird. Das kleine Kind erhebt ein Angst-
und Jammergeschrei, sobald es nur einige Minuten allein gelassen wird.
Dem Knaben ist das Alleinsein eine große Ponitenz. Junglinge gesellen
sich leicht zueinander: nur die edleren und hochgesinnten unter
ihnen suchen schon bisweilen die Einsamkeit: jedoch einen ganzen Tag
allein zuzubringen wird ihnen noch schwer. Dem Manne hingegen ist
dies leicht: er kann schon viel allein sein, und desto mehr, je alter
er wird. Der Greis, welcher aus verschwundenen Generationen allein
ubrig geblieben und dazu den Lebensgenussen teils entwachsen,
teils abgestorben ist, findet an der Einsamkeit sein eigentliches
Element. Immer aber wird hiebei, in den einzelnen, die Zunahme der Neigung
zur Absonderung und Einsamkeit nach Maßgabe ihres intellektuellen
Wertes erfolgen. Denn dieselbe ist, wie gesagt, keine rein naturliche,
direkt durch die Bedurfnisse hervorgerufene, vielmehr bloß eine
Wirkung gemachter Erfahrung und der Reflexion uber solche, namentlich
der erlangten Einsicht in die moralisch und intellektuell
elende Beschaffenheit der allermeisten Menschen, bei welcher das
schlimmste ist, daß, im Individuo, die moralischen und die
intellektuellen Unvollkommenheiten desselben konspiriren und sich gegenseitig
in die Hande arbeiten, woraus dann allerlei hochst widerwartige
Phanomene hervorgehn, welche den Umgang der meisten Menschen ungenießbar,
ja, unertraglich machen. So kommt es denn, daß, obwohl in dieser Welt
gar vieles recht schlecht ist, doch das Schlechteste darin
die Gesellschaft bleibt; so daß selbst *Voltaire*, der gesellige
Franzose, hat sagen mussen: _la terre est couverte de gens qui ne meritent
pas qu'on leur parle_. Den selben Grund gibt auch der die Einsamkeit
so stark und beharrlich liebende, sanftmutige *Petrarka* fur diese Neigung
an:
_Cercato ho sempre solitaria vita (Le rive il sanno, e
le campagne, e i boschi), *Per fuggir quest' ingegni storti e
loschi*, Che la strada del ciel' hanno smarita._
In gleichem
Sinne fuhrt er die Sache aus, in seinem schonen Buche _de vita solitaria_,
welches *Zimmermanns* Vorbild zu seinem beruhmten Werke uber die Einsamkeit
gewesen zu sein scheint. Eben diesen bloß sekundaren und mittelbaren Ursprung
der Ungeselligkeit druckt, in seiner sarkastischen Weise, *Chamfort* aus,
wenn er sagt: _on dit quelquefois d'un homme qui vit seul, il n'aime pas la
societe. C'est souvent comme si on disait d'un homme, qu'il n'aime pas la
promenade, sous le pretexte qu'il ne se promene pas volontiers le soir dans
la foret de Bondy[M]._ Aber auch der sanfte und christliche
Angelus Silesius sagt, in seiner Weise und mythischen Sprache, ganz das
Selbe:
≫Herodes ist ein Feind; der Joseph der Verstand, Dem
macht Gott die Gefahr im Traum (im Geist) bekannt. Die Welt ist
Bethlehem, Agypten *Einsamkeit*: Fleuch, meine Seele! Fleuch, sonst
stirbest du vor Leid.≪
[M] Im selben Sinne sagt *Sadi*, im Gulistan (S.
die Ubers. v. Graf _p. 65_): ≫Seit dieser Zeit haben wir von der
Gesellschaft Abschied genommen und uns den Weg der Absonderung vorgenommen:
denn die *Sicherheit ist in der Einsamkeit*.≪
In gleichem Sinne laßt
sich Jordanus Brunus vernehmen: _tanti uomini, che in terra hanno voluto
gustare vita celeste, dissero con una voce: ≫ecce elongavi fugiens, et mansi
in solitudine≪_. In gleichem Sinne berichtet *Sadi*, der Perser, im Gulistan,
von sich selbst: ≫meiner Freunde in Damaskus uberdrussig zog ich mich in die
Wuste bei Jerusalem zuruck, die Gesellschaft der Tiere aufzusuchen.≪ Kurz,
in gleichem Sinne haben alle geredet, die Prometheus aus besserem
Thone geformt hatte. Welchen Genuß kann ihnen der Umgang mit Wesen
gewahren, zu denen sie nur vermittelst des Niedrigsten und Unedelsten in
ihrer eigenen Natur, namlich des Alltaglichen, Trivialen und Gemeinen
darin, irgend Beziehungen haben, die eine Gemeinschaft begrunden, und
denen, weil sie nicht zu ihrem Niveau sich erheben konnen, nichts
ubrig bleibt, als sie zu dem ihrigen herabzuziehn, was demnach ihr
Trachten wird? Sonach ist es ein aristokratisches Gefuhl, welches den Hang
zur Absonderung und Einsamkeit nahrt. Alle Lumpe sind gesellig,
zum Erbarmen: daß hingegen ein Mensch edlerer Art sei, zeigt sich
zunachst daran, daß er kein Wohlgefallen an den ubrigen hat, sondern mehr
und mehr die Einsamkeit ihrer Gesellschaft vorzieht und dann allmalig,
mit den Jahren, zu der Einsicht gelangt, daß es, seltene
Ausnahmen abgerechnet, in der Welt nur die Wahl gibt zwischen Einsamkeit
und Gemeinheit. Sogar auch dieses, so hart es klingt, hat selbst
Angelus Silesius, seiner christlichen Milde und Liebe ungeachtet,
nicht ungesagt lassen konnen:
≫Die Einsamkeit ist not: doch sei
nur nicht gemein: So kannst du uberall in einer Wuste sein.≪
Was
nun aber gar die großen Geister betrifft, so ist es wohl naturlich, daß diese
eigentlichen Erzieher des ganzen Menschengeschlechtes zu haufiger
Gemeinschaft mit den ubrigen so wenig Neigung fuhlen, als den Padagogen
anwandelt, sich in das Spiel der ihn umlarmenden Kinderherde zu mischen. Denn
sie, die auf die Welt gekommen sind, um sie auf dem Meer ihrer Irrtumer der
Wahrheit zuzulenken und aus dem finstern Abgrund ihrer Roheit und Gemeinheit
nach oben, dem Lichte zu, der Bildung und Veredlung entgegen zu ziehn, -- sie
mussen zwar unter ihnen leben, ohne jedoch eigentlich zu ihnen zu gehoren,
fuhlen sich daher, von Jugend auf, als merklich von den andern verschiedene
Wesen, kommen aber erst allmalig, mit den Jahren, zur deutlichen Erkenntnis
der Sache, wonach sie dann Sorge tragen, daß zu ihrer geistigen Entfernung
von den andern auch die physische komme, und keiner ihnen nahe rucken darf,
er sei denn schon selbst ein mehr oder weniger Eximirter von der
allgemeinen Gemeinheit.
Aus diesem allen ergibt sich also, daß die
Liebe zur Einsamkeit nicht direkt und als ursprunglicher Trieb auftritt,
sondern sich indirekt, vorzuglich bei edleren Geistern und erst nach und nach
entwickelt, nicht ohne Uberwindung des naturlichen Geselligkeitstriebes, ja,
unter gelegentlicher Opposition mephistophelischer
Einflusterung:
≫Hor' auf, mit deinem Gram zu spielen, Der, wie
ein Geier, dir am Leben frißt: Die schlechteste Gesellschaft laßt dich
fuhlen, Daß du ein Mensch mit Menschen bist.≪
Einsamkeit ist das
Los aller hervorragenden Geister: sie werden solche bisweilen beseufzen; aber
stets sie als das kleinere von zwei Ubeln erwahlen. Mit zunehmendem Alter
wird jedoch das _sapere aude_ in diesem Stucke immer leichter und
naturlicher, und in den sechziger Jahren ist der Trieb zur Einsamkeit ein
wirklich naturgemaßer, ja instinktartiger. Denn jetzt vereinigt sich alles,
ihn zu befordern. Der starkste Zug zur Geselligkeit, Weiberliebe und
Geschlechtstrieb, wirkt nicht mehr; ja, die Geschlechtslosigkeit des Alters
legt den Grund zu einer gewissen Selbstgenugsamkeit, die allmahlich
den Geselligkeitstrieb uberhaupt absorbirt. Von tausend Tauschungen
und Torheiten ist man zuruckgekommen; das aktive Leben ist
meistens abgetan, man hat nichts mehr zu erwarten, hat keine Plane
und Absichten mehr; die Generation, der man eigentlich angehort,
lebt nicht mehr; von einem fremden Geschlecht umgeben, steht man
schon objektiv und wesentlich allein. Dabei hat der Flug der Zeit
sich beschleunigt, und geistig mochte man sie noch benutzen. Denn, wenn
nur der Kopf seine Kraft behalten hat; so machen jetzt die
vielen erlangten Kenntnisse und Erfahrungen, die allmalig
vollendete Durcharbeitung aller Gedanken und die große Ubungsfertigkeit
aller Krafte das Studium jeder Art interessanter und leichter als
jemals. Man sieht klar in tausend Dingen, die fruher noch wie im Nebel
lagen: man gelangt zu Resultaten und fuhlt seine ganze Uberlegenheit.
Infolge langer Erfahrung hat man aufgehort, von den Menschen viel zu
erwarten; da sie, im ganzen genommen, nicht zu den Leuten gehoren, welche
bei naherer Bekanntschaft gewinnen: vielmehr weiß man, daß, von
seltenen Glucksfallen abgesehn, man nichts antreffen wird, als sehr
defekte Exemplare der menschlichen Natur, welche es besser ist, unberuhrt
zu lassen. Man ist daher den gewohnlichen Tauschungen nicht
mehr ausgesetzt, merkt jedem bald an, was er ist, und wird selten
den Wunsch fuhlen, nahere Verbindung mit ihm einzugehn. Endlich ist
auch, zumal wenn man an der Einsamkeit eine Jugendfreundin erkennt,
die Gewohnheit der Isolation und des Umgangs mit sich selbst
hinzugekommen und zur zweiten Natur geworden. Demnach ist jetzt die Liebe
zur Einsamkeit, welche fruher dem Geselligkeitstriebe erst
abgerungen werden mußte, eine ganz naturliche und einfache: man ist in
der Einsamkeit, wie der Fisch im Wasser. Daher fuhlt jede
vorzugliche, folglich den ubrigen unahnliche, mithin allein stehende
Individualitat sich, durch diese ihr wesentliche Isolation, zwar in der
Jugend gedruckt, aber im Alter erleichtert.
Denn freilich wird dieses
wirklichen Vorzuges des Alters jeder immer nur nach Maßgabe seiner
intellektuellen Krafte teilhaft, also der eminente Kopf vor allen; jedoch in
geringerem Grade wohl jeder. Nur hochst durftige und gemeine Naturen werden
im Alter noch so gesellig sein wie ehedem: sie sind der Gesellschaft, zu der
sie nicht mehr passen, beschwerlich, und bringen es hochstens dahin, tolerirt
zu werden; wahrend sie ehemals gesucht wurden.
An dem dargelegten,
entgegengesetzten Verhaltnisse zwischen der Zahl unsrer Lebensjahre und dem
Grade unsrer Geselligkeit laßt sich auch noch eine teleologische Seite
herausfinden. Je junger der Mensch ist, desto mehr hat er noch, in jeder
Beziehung, zu lernen: nun hat ihn die Natur auf den wechselseitigen
Unterricht verwiesen, welchen jeder im Umgange mit seinesgleichen empfangt
und in Hinsicht auf welchen die menschliche Gesellschaft eine große
Bell-Lancastersche Erziehungsanstalt genannt werden kann; da Bucher und
Schulen kunstliche, weil vom Plane der Natur abliegende Anstalten sind. Sehr
zweckmaßig also besucht er die naturliche Unterrichtsanstalt desto fleißiger,
je junger er ist.
_Nihil est ab omni parte beatum_ sagt Horaz, und ≫Kein
Lotus ohne Stengel≪ lautet ein indisches Sprichwort: so hat denn auch
die Einsamkeit, neben so vielen Vorteilen, ihre kleinen Nachteile
und Beschwerden, die jedoch, im Vergleich mit denen der
Gesellschaft, gering sind; daher wer etwas Rechtes an sich selber hat, es
immer leichter finden wird, ohne die Menschen auszukommen, als mit ihnen.
-- Unter jenen Nachteilen ist ubrigens einer, der nicht so leicht, wie die
ubrigen, zum Bewußtsein gebracht wird, namlich dieser: wie durch anhaltend
fortgesetztes Zuhausebleiben unser Leib so empfindlich gegen außere Einflusse
wird, daß jedes kuhle Luftchen ihn krankhaft affizirt; so wird, durch
anhaltende Zuruckgezogenheit und Einsamkeit, unser Gemut so empfindlich, daß
wir durch die unbedeutendesten Vorfalle, Worte, wohl gar durch bloße Mienen,
uns beunruhigt, oder gekrankt, oder verletzt fuhlen; wahrend der, welcher
stets im Getummel bleibt, dergleichen gar nicht beachtet.
Wer nun
aber, zumal in jungern Jahren, so oft ihn auch schon gerechtes Mißfallen an
den Menschen in die Einsamkeit zuruckgescheucht hat, doch die Ode derselben,
auf die Lange, zu ertragen nicht vermag, dem rate ich, daß er sich gewohne,
einen Teil seiner Einsamkeit in die Gesellschaft mitzunehmen, also daß er
lerne, auch in der Gesellschaft, in gewissem Grade, allein zu sein, demnach,
was er denkt, nicht sofort den andern mitzuteilen, und andrerseits mit dem,
was sie sagen, es nicht genau zu nehmen, vielmehr, moralisch wie
intellektuell, nicht viel davon zu erwarten und daher, hinsichtlich ihrer
Meinungen, diejenige Gleichgultigkeit in sich zu befestigen, die das
sicherste Mittel ist, um stets eine lobenswerte Toleranz zu uben. Er
wird alsdann, obwohl mitten unter ihnen, doch nicht so ganz in
ihrer Gesellschaft sein, sondern hinsichtlich ihrer sich mehr rein
objektiv verhalten: Dies wird ihn vor zu genauer Beruhrung mit
der Gesellschaft, und dadurch vor jeder Besudelung, oder gar
Verletzung, schutzen. Sogar eine lesenswerte dramatische Schilderung
dieser restringirten, oder verschanzten Geselligkeit besitzen wir
am Lustspiel ≫_el Cafe o sea la comedia nueva_≪ von *Moratin*, und zwar im
Charakter des D. Pedro daselbst, zumal in der zweiten und dritten Szene des
ersten Akts. In diesem Sinne kann man auch die Gesellschaft einem Feuer
vergleichen, an welchem der Kluge sich in gehoriger Entfernung warmt, nicht
aber hineingreift, wie der Tor, der dann, nachdem er sich verbrannt hat, in
die Kalte der Einsamkeit flieht und jammert, daß das Feuer brennt.
10.
*Neid* ist dem Menschen naturlich: dennoch ist er ein Laster und Ungluck
zugleich[N]. Wir sollen daher ihn als den Feind unsers Gluckes betrachten und
als einen bosen Damon zu ersticken suchen. Hiezu leitet uns *Seneka* an, mit
den schonen Worten: _nostra nos sine comparatione delectent: nunquam erit
felix quem torquebit felicior_ (_de ira III, 30_), und wiederum: _quum
adspexeris quot te antecedant, cogita quot sequantur_ (_ep. 15_): also wir
sollen ofter die betrachten, welche schlimmer daran sind, als wir, denn die,
welche besser daran zu sein scheinen. Sogar wird, bei eingetretenen,
wirklichen Ubeln, uns den wirksamsten, wiewohl aus derselben Quelle mit dem
Neide fließenden Trost die Betrachtung großerer Leiden, als die unsrigen
sind, gewahren, und nachstdem der Umgang mit solchen, die mit uns im
selben Falle sich befinden, mit den _sociis malorum_.
[N] Der *Neid*
der Menschen zeigt an, wie unglucklich sie sich fuhlen; ihre bestandige
*Aufmerksamkeit* auf fremdes Tun und Lassen, wie sehr sie sich
langweilen.
Soviel von der aktiven Seite des Neides. Von der passiven ist
zu erwagen, daß kein Haß so unversohnlich ist, wie der Neid; daher
wir nicht unablassig und eifrig bemuht sein sollten, ihn zu
erregen; vielmehr besser taten, diesen Genuß, wie manchen andern,
der gefahrlichen Folgen wegen, uns zu versagen. -- Es gibt
*drei Aristokratien*: 1. die der Geburt und des Ranges, 2.
die Geldaristokratie, 3. die geistige Aristokratie. Letztere
ist eigentlich die vornehmste, wird auch dafur anerkannt, wenn man ihr
nur Zeit laßt: hat doch schon Friedrich der Große gesagt: _les
ames privilegiees rangent a l'egal des souverains_, und zwar zu
seinem Hofmarschall, der Anstoß daran nahm, daß, wahrend Minister
und Generale an der Marschallstafel aßen, Voltaire an einer Tafel
Platz nehmen sollte, an welcher bloß regierende Herren und ihre
Prinzen saßen. -- Jede dieser Aristokratien ist umgeben von einem Heer
ihrer Neider, welche gegen jeden ihrer Angehorigen heimlich erbittert
und, wenn sie ihn nicht zu furchten haben, bemuht sind, ihm
auf mannigfaltige Weise zu verstehn zu geben, ≫du bist nichts mehr,
als wir!≪ Aber gerade diese Bemuhungen verraten ihre Uberzeugung
vom Gegenteil. Das vom Beneideten dagegen anzuwendende Verfahren
besteht im Fernhalten aller dieser Schar Angehorigen und im
moglichsten Vermeiden jeder Beruhrung mit ihnen, so daß sie durch eine weite
Kluft abgetrennt bleiben; wo aber dies nicht angeht, im hochst
gelassenen Ertragen ihrer Bemuhungen, deren Quelle sie ja neutralisirt: --
auch sehn wir dasselbe durchgangig angewandt. Hingegen werden die der
einen Aristokratie Angehorigen sich mit denen einer der beiden
andern meistens gut und ohne Neid vertragen; weil jeder seinen Vorzug
gegen den der andern in die Wage legt.
11. Man uberlege ein Vorhaben
reiflich und wiederholt, ehe man dasselbe ins Werk setzt, und selbst nachdem
man alles auf das grundlichste durchdacht hat, raume man noch der
Unzulanglichkeit aller menschlichen Erkenntnis etwas ein, infolge welcher es
immer noch Umstande geben kann, die zu erforschen oder vorherzusehn
unmoglich ist, und welche die ganze Berechnung unrichtig machen konnten.
Dieses Bedenken wird stets ein Gewicht auf die negative Schale legen und
uns anraten, in wichtigen Dingen, ohne Not, nichts zu ruhren: _quieta
non movere_. Ist man aber einmal zum Entschluß gekommen und hat Hand
ans Werk gelegt, so daß jetzt alles seinen Verlauf zu nehmen hat und
nur noch der Ausgang abzuwarten steht; dann angstige man sich nicht
durch stets erneuerte Uberlegung des bereits Vollzogenen und
durch wiederholtes Bedenken der moglichen Gefahr; vielmehr entschlage
man der Sache sich jetzt ganzlich, halte das ganze Gedankenfach
derselben verschlossen, sich mit der Uberzeugung beruhigend, daß man alles
zu seiner Zeit reiflich erwogen habe. Diesen Rat erteilt auch
das italianische Sprichwort _legala bene, e poi lascia la andare_,
welches Goethe ubersetzt ≫du, sattle gut und reite getrost≪; -- wie
denn, beilaufig gesagt, ein großer Teil seiner unter der
Rubrik ≫Sprichwortlich≪ gegebenen Gnomen ubersetzte italianische
Sprichworter sind. -- Kommt dennoch ein schlimmer Ausgang; so ist es, weil
alle menschlichen Angelegenheiten dem Zufall und dem Irrtum
unterliegen. Daß *Sokrates*, der Weiseste der Menschen, um nur in seinen
eigenen, personlichen Angelegenheiten das Richtige zu treffen, oder
wenigstens Fehltritte zu vermeiden, eines warnenden *Damonions*
bedurfte, beweist, daß hiezu kein menschlicher Verstand ausreicht. Daher
ist jener, angeblich von einem Papste herruhrende Ausspruch, daß von
jedem Ungluck, das uns trifft, wir selbst, wenigstens in irgend etwas,
die Schuld tragen, nicht unbedingt und in allen Fallen wahr: wiewohl
bei weitem in den meisten. Sogar scheint das Gefuhl hievon viel
Anteil daran zu haben, daß die Leute ihr Ungluck moglichst zu
verbergen suchen und, so weit es gelingen will, eine zufriedene Miene
aufsetzen. Sie besorgen, daß man von Leiden auf die Schuld schließen
werde.
12. Bei einem unglucklichen Ereignis, welches bereits
eingetreten, also nicht mehr zu andern ist, soll man sich nicht einmal
den Gedanken, daß dem anders sein konnte, noch weniger den, wodurch
es hatte abgewendet werden konnen, erlauben: denn gerade er steigert
den Schmerz ins Unertragliche; so daß man damit zum
=heautontimoroumenos= wird. Vielmehr mache man es wie der Konig David, der,
so lange sein Sohn krank daniederlag, den Jehova unablassig mit Bitten und
Flehen besturmte; als er aber gestorben war, ein Schnippchen schlug und
nicht weiter daran dachte. Wer aber dazu nicht leichtsinnig genug
ist, fluchte sich auf den fatalistischen Standpunkt, indem er sich
die große Wahrheit verdeutlicht, daß alles, was geschieht,
notwendig eintritt, also unabwendbar ist.
Bei allem dem ist diese
Regel einseitig. Sie taugt zwar zu unserer unmittelbaren Erleichterung und
Beruhigung bei Unglucksfallen: allein wenn an diesen, wie doch meistens,
unsere eigene Nachlassigkeit oder Verwegenheit, wenigstens zum Teil, schuld
ist; so ist die wiederholte, schmerzliche Uberlegung, wie dem hatte
vorgebeugt werden konnen, zu unserer Witzigung und Besserung, also fur die
Zukunft, eine heilsame Selbstzuchtigung. Und gar offenbar begangene Fehler
sollen wir nicht, wie wir doch pflegen, vor uns selber zu entschuldigen, oder
zu beschonigen, oder zu verkleinern suchen, sondern sie uns eingestehn und
in ihrer ganzen Große deutlich uns vor Augen bringen, um den Vorsatz, sie
kunftig zu vermeiden, fest fassen zu konnen. Freilich hat man sich dabei den
großen Schmerz der Unzufriedenheit mit sich selbst anzutun: aber =ho me
dareis anthropos ou paideuetai=.
13. In allem, was unser Wohl und Wehe
betrifft, sollen wir die *Phantasie im Zugel halten*: also zuvorderst keine
Luftschlosser bauen; weil diese zu kostspielig sind, indem wir, gleich
darauf, sie, unter Seufzern, wieder einzureißen haben. Aber noch mehr sollen
wir uns huten, durch das Ausmalen bloß moglicher Unglucksfalle unser
Herz zu angstigen. Wenn namlich diese ganz aus der Luft gegriffen,
oder doch sehr weit hergeholt waren; so wurden wir, beim Erwachen aus
einem solchen Traume, gleich wissen, daß alles nur Gaukelei gewesen,
daher uns der bessern Wirklichkeit um so mehr freuen und allenfalls
eine Warnung gegen ganz entfernte, wiewohl mogliche Unglucksfalle
daraus entnehmen. Allein mit dergleichen spielt unsere Phantasie
nicht leicht: ganz mußigerweise baut sie hochstens heitere
Luftschlosser. Der Stoff zu ihren finstern Traumen sind Unglucksfalle, die
uns, wenn auch aus der Ferne, doch einigermaßen wirklich bedrohen:
diese vergroßert sie, bringt ihre Moglichkeit viel naher, als sie
in Wahrheit ist, und malt sie auf das Furchterlichste aus. Einen
solchen Traum konnen wir, beim Erwachen, nicht sogleich abschutteln, wie
den heitern: denn diesen widerlegt alsbald die Wirklichkeit und
laßt hochstens eine schwache Hoffnung im Schoße der Moglichkeit ubrig.
Aber haben wir uns den schwarzen Phantasien (_blue devils_) uberlassen;
so haben sie uns Bilder nahe gebracht, die nicht so leicht wieder weichen:
denn die Moglichkeit der Sache, im allgemeinen, steht fest, und den Maßstab
des Grades derselben vermogen wir nicht jederzeit anzulegen: sie wird nun
leicht zur Wahrscheinlichkeit, und wir haben uns der Angst in die Hande
geliefert. Daher also sollen wir die Dinge, welche unser Wohl und Wehe
betreffen, bloß mit dem Auge der Vernunft und der Urteilskraft betrachten,
folglich trockener und kalter Uberlegung, mit bloßen Begriffen und _in
abstracto_ operiren. Die Phantasie soll dabei aus dem Spiele bleiben: denn
urteilen kann sie nicht; sondern bringt bloße Bilder vor die Augen, welche
das Gemut unnutzer und oft sehr peinlicher Weise bewegen. Am strengsten
sollte diese Regel abends beobachtet werden. Denn wie die Dunkelheit
uns furchtsam macht und uns uberall Schreckensgestalten erblicken laßt,
so wirkt, ihr analog, die Undeutlichkeit der Gedanken; weil
jede Ungewißheit Unsicherheit gebiert: deshalb nehmen des Abends, wann
die Abspannung Verstand und Urteilskraft mit einer subjektiven
Dunkelheit uberzogen hat, der Intellekt mude und =thoryboumenos= ist und
den Dingen nicht auf den Grund zu kommen vermag, die Gegenstande
unserer Meditation, wenn sie unsere personlichen Verhaltnisse
betreffen, leicht ein gefahrliches Ansehn an und werden zu Schreckbildern.
Am meisten ist dies der Fall nachts, im Bette, als wo der Geist
vollig abgespannt und daher die Urteilskraft ihrem Geschafte gar nicht
mehr gewachsen, die Phantasie aber noch rege ist. Da gibt die Nacht
allem und jedem ihren schwarzen Anstrich. Daher sind unsere Gedanken vor
dem Einschlafen, oder gar beim nachtlichen Erwachen, meistens fast
ebenso arge Verzerrungen und Verkehrungen der Dinge, wie die Traume es
sind, und dazu, wenn sie personliche Angelegenheiten betreffen,
gewohnlich pechschwarz, ja, entsetzlich. Am Morgen sind dann alle
solche Schreckbilder, so gut wie die Traume, verschwunden: dies bedeutet
das spanische Sprichwort: _noche tinta, blanco el dia_ (die Nacht
ist gefarbt, weiß ist der Tag). Aber auch schon abends, sobald das
Licht brennt, sieht der Verstand, wie das Auge, nicht so klar, wie bei
Tage: daher diese Zeit nicht zur Meditation ernster, zumal
unangenehmer Angelegenheiten geeignet ist. Hiezu ist der Morgen die rechte
Zeit; wie er es denn uberhaupt zu allen Leistungen, ohne Ausnahme,
sowohl den geistigen wie den korperlichen, ist. Denn der Morgen ist
die Jugend des Tages: alles ist heiter, frisch und leicht: wir fuhlen
uns kraftig und haben alle unsere Fahigkeiten zu volliger Disposition.
Man soll ihn nicht durch spates Aufstehn verkurzen, noch auch an
unwurdige Beschaftigungen oder Gesprache verschwenden, sondern ihn als
die Quintessenz des Lebens betrachten und gewissermaßen heilig
halten. Hingegen ist der Abend das Alter des Tages: wir sind abends
matt, geschwatzig und leichtsinnig. -- Jeder *Tag ist ein kleines Leben*,
-- jedes Erwachen und Aufstehen eine kleine Geburt, jeder frische
Morgen eine kleine Jugend, und jedes zu Bette gehn und Einschlafen
ein kleiner Tod.
Uberhaupt aber hat Gesundheitszustand, Schlaf,
Nahrung, Temperatur, Wetter, Umgebung und noch viel anderes Außerliches auf
unsere Stimmung, und diese auf unsere Gedanken, einen machtigen
Einfluß. Daher ist, wie unsere Ansicht einer Angelegenheit, so auch
unsere Fahigkeit zu einer Leistung so sehr der Zeit und selbst dem
Orte unterworfen. Darum also
≫Nehmt die gute Stimmung
wahr, Denn sie kommt so selten.≪
G.
Nicht etwa bloß
objektive Konzeptionen und Originalgedanken muß man abwarten, ob und wann es
ihnen zu kommen beliebt; sondern selbst die grundliche Uberlegung einer
personlichen Angelegenheit gelingt nicht immer zu der Zeit, die man zum
voraus fur sie bestimmt und wann man sich dazu zurechtgesetzt hat; sondern
auch sie wahlt sich ihre Zeit selbst; wo alsdann der ihr angemessene
Gedankengang unaufgefordert rege wird und wir mit vollem Anteil ihn
verfolgen.
Zur anempfohlenen Zugelung der Phantasie gehort auch noch, daß
wir ihr nicht gestatten, ehemals erlittenes Unrecht, Schaden,
Verlust, Beleidigungen, Zurucksetzungen, Krankungen u. dgl. uns wieder
zu vergegenwartigen und auszumalen; weil wir dadurch den
langst schlummernden Unwillen, Zorn und alle gehassigen Leidenschaften
wieder aufregen, wodurch unser Gemut verunreinigt wird. Denn, nach
einem schonen, vom Neuplatoniker Proklos beigebrachten Gleichnis, ist,
wie in jeder Stadt, neben den Edelen und Ausgezeichneten, auch der
Pobel jeder Art (=ochlos=) wohnt, so in jedem, auch dem edelsten
und erhabensten Menschen das ganz Niedrige und Gemeine der
menschlichen, ja tierischen Natur, der Anlage nach, vorhanden. Dieser Pobel
darf nicht zum Tumult aufgeregt werden, noch darf er aus den
Fenstern schauen; da er sich haßlich ausnimmt: die bezeichneten
Phantasiestucke sind aber die Demagogen desselben. Hieher gehort auch, daß
die kleinste Widerwartigkeit, sei sie von Menschen oder
Dingen ausgegangen, durch fortgesetztes Bruten daruber und Ausmalen
mit grellen Farben und nach vergroßertem Maßstabe, zu einem
Ungeheuer anschwellen kann, daruber man außer sich gerat. Alles Unangenehme
soll man vielmehr hochst prosaisch und nuchtern auffassen, damit man
es moglichst leicht nehmen konne.
Wie kleine Gegenstande, dem Auge
nahe gehalten, unser Gesichtsfeld beschrankend, die Welt verdecken, -- so
werden oft die Menschen und Dinge unserer *nachsten Umgebung*, so hochst
unbedeutend und gleichgultig sie auch seien, unsere Aufmerksamkeit und
Gedanken uber die Gebuhr beschaftigen, dazu noch auf unerfreuliche Weise, und
werden wichtige Gedanken und Angelegenheiten verdrangen. Dem soll
man entgegenarbeiten.
14. Beim Anblick dessen, was wir nicht besitzen,
steigt gar leicht in uns der Gedanke auf: ≫wie, wenn das mein ware?≪ und er
macht uns die Entbehrung fuhlbar. Statt dessen sollten wir ofter fragen:
≫wie, wenn das *nicht* mein ware?≪, ich meine, wir sollten das, was wir
besitzen, bisweilen so anzusehn uns bemuhen, wie es uns vorschweben
wurde, nachdem wir es verloren hatten; und zwar jedes, was es auch
sei: Eigentum, Gesundheit, Freunde, Geliebte, Weib, Kind, Pferd und
Hund: denn meistens belehrt erst der Verlust uns uber den Wert der
Dinge. Hingegen infolge der anempfohlenen Betrachtungsweise derselben
wird erstlich ihr Besitz uns unmittelbar mehr, als zuvor, beglucken,
und zweitens werden wir auf alle Weise dem Verlust vorbeugen, also
das Eigentum nicht in Gefahr bringen, die Freunde nicht erzurnen,
die Treue des Weibes nicht der Versuchung aussetzen, die Gesundheit
der Kinder bewachen usw. -- Oft suchen wir das Trube der
Gegenwart aufzuhellen durch Spekulation auf gunstige Moglichkeiten und
ersinnen vielerlei chimarische Hoffnungen, von denen jede mit
einer Enttauschung schwanger ist, die nicht ausbleibt, wann jene an
der harten Wirklichkeit zerschellt. Besser ware es, die vielen
schlimmen Moglichkeiten zum Gegenstand unserer Spekulation zu machen,
als welches teils Vorkehrungen zu ihrer Abwehr, teils
angenehme Uberraschungen, wenn sie sich nicht verwirklichen, veranlassen
wurde. Sind wir doch, nach etwas ausgestandener Angst, stets merklich
heiter. Ja, es ist sogar gut, große Unglucksfalle, die uns
moglicherweise treffen konnten, uns bisweilen zu vergegenwartigen; um namlich
die uns nachher wirklich treffenden viel kleineren leichter zu ertragen,
indem wir dann durch den Ruckblick auf jene großen, nicht
eingetroffenen, uns trosten. Uber diese Regel ist jedoch die ihr
vorhergegangene nicht zu vernachlassigen.
15. Weil die uns
betreffenden Angelegenheiten und Begebenheiten ganz vereinzelt, ohne Ordnung
und ohne Beziehung auf einander, im grellsten Kontrast und ohne irgend etwas
Gemeinsames, als eben daß sie unsere Angelegenheiten sind, auftreten und
durcheinanderlaufen; so muß unser Denken und Sorgen um sie ebenso abrupt
sein, damit es ihnen entspreche. -- Sonach mussen wir, wenn wir eines
vornehmen, von allem andern abstrahiren und uns der Sache entschlagen, um
jedes zu seiner Zeit zu besorgen, zu genießen, zu erdulden, ganz unbekummert
um das ubrige: wir mussen also gleichsam Schiebfacher unserer Gedanken
haben, von denen wir eines offnen, derweilen alle andern geschlossen
bleiben. Dadurch erlangen wir, daß nicht eine schwer lastende Sorge
jeden kleinen Genuß der Gegenwart verkummere und uns alle Ruhe raube;
daß nicht eine Uberlegung die andere verdrange; daß nicht die Sorge
fur eine wichtige Angelegenheit die Vernachlassigung vieler
geringen herbeifuhre usw. Zumal aber soll, wer hoher und edeler
Betrachtungen fahig ist, seinen Geist durch personliche Angelegenheiten und
niedrige Sorgen nie so ganz einnehmen und erfullen lassen, daß sie jenen
den Zugang versperren: denn das ware recht eigentlich _propter
vitam vivendi perdere causas_. -- Freilich ist zu dieser Lenkung
und Ablenkung unsrer selbst, wie zu so viel anderm, Selbstzwang
erfordert: zu diesem aber sollte uns die Uberlegung starken, daß jeder Mensch
gar vielen und großen Zwang von außen zu erdulden hat, ohne welchen es
in keinem Leben abgeht; daß jedoch ein kleiner, an der rechten
Stelle angebrachter Selbstzwang nachmals vielem Zwange von außen
vorbeugt; wie ein kleiner Abschnitt des Kreises zunachst dem Centro einem
oft hundertmal großern an der Peripherie entspricht. Durch nichts
entziehn wir uns so sehr dem Zwange von außen, wie durch Selbstzwang:
das besagt Senekas Ausspruch: _si tibi vis omnia subjicere, te
subjice rationi_ (_ep. 37_). Auch haben wir den Selbstzwang noch immer in
der Gewalt, und konnen, im außersten Fall, oder wo er
unsere empfindlichste Stelle trifft, etwas nachlassen; hingegen der Zwang
von außen ist ohne Rucksicht, ohne Schonung und unbarmherzig. Daher ist
es weise, diesem durch jenen zuvorzukommen.
16. Unseren Wunschen ein
Ziel stecken, unsere Begierden im Zaume halten, unsern Zorn bandigen, stets
eingedenk, daß dem einzelnen nur ein unendlich kleiner Teil alles
Wunschenswerten erreichbar ist, hingegen viele Ubel jeden treffen mussen,
also, mit einem Worte =apechein kai anechein=, _abstinere et sustinere_, --
ist eine Regel, ohne deren Beobachtung weder Reichtum noch Macht verhindern
konnen, daß wir uns armselig fuhlen. Dahin zielt Horaz:
_Inter
cuncta leges, et percontabere doctos Qua ratione queas traducere leniter
aevum; Ne te semper inops agitet vexetque cupido, Ne pavor, et
rerum mediocriter utilium spes._
17. =Ho bios en te kinesei esti= (_vita
motu constat_) sagt Aristoteles, mit offenbarem Recht: und wie demnach unser
physisches Leben nur in und durch eine unaufhorliche Bewegung besteht;
so verlangt auch unser inneres, geistiges Leben fortwahrend Beschaftigung,
Beschaftigung mit irgend etwas, durch Tun oder Denken; einen Beweis hievon
gibt schon das Trommeln mit den Handen oder irgend einem Gerat, zu welchem
unbeschaftigte und gedankenlose Menschen sogleich greifen. Unser Dasein
namlich ist ein wesentlich rastloses: daher wird die ganzliche Untatigkeit
uns bald unertraglich, indem sie die entsetzlichste Langeweile herbeifuhrt.
Diesen Trieb nun soll man regeln, um ihn methodisch und dadurch besser zu
befriedigen. Daher also ist Tatigkeit, etwas treiben, womoglich etwas machen,
wenigstens aber etwas lernen, -- zum Gluck des Menschen unerlaßlich: seine
Krafte verlangen nach ihrem Gebrauch, und er mochte den Erfolg
desselben irgendwie wahrnehmen. Die großte Befriedigung jedoch, in
dieser Hinsicht, gewahrt es, etwas zu *machen*, zu verfertigen, sei es
ein Korb, sei es ein Buch; aber daß man ein Werk unter seinen
Handen taglich wachsen und endlich seine Vollendung erreichen sehe,
begluckt unmittelbar. Dies leistet ein Kunstwerk, eine Schrift, ja selbst
eine bloße Handarbeit; freilich, je edlerer Art das Werk, desto hoher
der Genuß. Am glucklichsten sind, in diesem Betracht, die
Hochbegabten, welche sich der Fahigkeit zur Hervorbringung bedeutsamer,
großer und zusammenhangender Werke bewußt sind. Denn dadurch verbreitet
ein Interesse hoherer Art sich uber ihr ganzes Dasein und erteilt ihm
eine Wurze, welche dem der Ubrigen abgeht, welches demnach, mit
jenem verglichen, gar schal ist. Fur sie namlich hat das Leben und die
Welt, neben dem allen gemeinsamen, materiellen, noch ein zweites
und hoheres, ein formelles Interesse, indem es den Stoff zu ihren
Werken enthalt, mit dessen Einsammlung sie, ihr Leben hindurch,
emsig beschaftigt sind, sobald nur die personliche Not sie irgends
atmen laßt. Auch ist ihr Intellekt gewissermaßen ein doppelter: teils
einer fur die gewohnlichen Beziehungen (Angelegenheiten des Willens),
gleich dem aller andern: teils einer fur die rein objektive Auffassung
der Dinge. So leben sie zwiefach, sind Zuschauer und
Schauspieler zugleich, wahrend die Ubrigen letzteres allein sind. --
Inzwischen treibe jeder etwas, nach Maßgabe seiner Fahigkeiten. Denn
wie nachteilig der Mangel an planmaßiger Tatigkeit, an irgend
einer Arbeit, auf uns wirke, merkt man auf langen Vergnugungsreisen, als
wo man, dann und wann, sich recht unglucklich fuhlt; weil man,
ohne eigentliche Beschaftigung, gleichsam aus seinem naturlichen
Elemente gerissen ist. Sich zu muhen und mit dem Widerstande zu kampfen ist
dem Menschen Bedurfnis, wie dem Maulwurf das Graben. Der Stillstand,
den die Allgenugsamkeit eines bleibenden Genusses herbeifuhrte, ware
ihm unertraglich. Hindernisse uberwinden ist der Vollgenuß seines
Daseins; sie mogen materieller Art sein, wie beim Handeln und Treiben,
oder geistiger Art, wie beim Lernen und Forschen: der Kampf mit ihnen
und der Sieg begluckt. Fehlt ihm die Gelegenheit dazu, so macht er
sie sich, wie er kann: je nachdem seine Individualitat es mit sich
bringt, wird er jagen, oder Bilboquet spielen, oder, vom unbewußten
Zuge seiner Natur geleitet, Handel suchen, oder Intriguen anspinnen,
oder sich auf Betrugereien und allerlei Schlechtigkeiten einlassen, um
nur dem ihm unertraglichen Zustande der Ruhe ein Ende zu machen._Difficilis
in otio quies._ |
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