2014년 11월 20일 목요일

Aphorismen zur Lebensweisheit 2

Aphorismen zur Lebensweisheit 2


Die hier erorterte Wahrheit, daß die Hauptquelle des menschlichen
Gluckes im eigenen Innern entspringt, findet ihre Bestatigung auch an
der sehr richtigen Bemerkung des *Aristoteles*, in der Nikomachaischen
Ethik (_I, 7; et VII, 13, 14_), daß jeglicher Genuß irgendeine
Aktivitat, also die Anwendung irgendeiner Kraft voraussetzt und ohne
solche nicht bestehn kann. Diese Aristotelische Lehre, daß das Gluck
eines Menschen in der ungehinderten Ausubung seiner hervorstechenden
Fahigkeit bestehe, gibt auch Stobaos wieder in seiner Darstellung der
peripatetischen Ethik (_Ecl. eth. II, c. 7, p. 268-278_), z. B.
=energeian einai ten eudaimonian kat' areten, en praxesi proegoumenais
kat' euchen= (_felicitatem esse functionem secundum virtutem, per
actiones successus compotes_); auch mit der Erklarung, daß =arete=
jede Virtuositat sei. Nun ist die ursprungliche Bestimmung der Krafte,
mit welchen die Natur den Menschen ausgerustet hat, der Kampf gegen
die Not, die ihn von allen Seiten bedrangt. Wenn aber dieser Kampf
einmal rastet, da werden ihm die unbeschaftigten Krafte zur Last: er
muß daher jetzt mit ihnen *spielen*, d. h. sie zwecklos gebrauchen:
denn sonst fallt er der anderen Quelle des menschlichen Leidens, der
Langeweile, sogleich anheim. Von dieser sind daher vor allem die
Großen und Reichen gemartert, und hat von ihrem Elend schon Lukretius
eine Schilderung gegeben, deren Treffendes zu erkennen man noch heute,
in jeder großen Stadt, taglich Gelegenheit findet:

    _Exit saepe foras magnis ex aedibus ille,
    Esse domi quem pertaesum est, subitoque reventat;
    Quippe foris nihilo melius qui sentiat esse.
    Currit, agens mannos, ad villam praecipitanter,
    Auxilium tectis quasi ferre ardentibus instans:
    Oscitat extemplo, tetigit quum limina villae;
    Aut abit in somnum gravis, atque oblivia quaerit;
    Aut etiam properans urbem petit, atque revisit._

    _III, 1073._

Bei diesen Herren muß in der Jugend die Muskelkraft und die
Zeugungskraft herhalten. Aber spaterhin bleiben nur die Geisteskrafte:
fehlt es dann an diesen, oder an ihrer Ausbildung und dem
angesammelten Stoffe zu ihrer Tatigkeit, so ist der Jammer groß. Weil
nun der *Wille* die einzige unerschopfliche Kraft ist; so wird er
jetzt angereizt durch Erregung der Leidenschaften, z. B. durch hohe
Hasardspiele, dieses wahrhaft degradierende Laster. -- Uberhaupt aber
wird jedes unbeschaftigte Individuum, je nach der Art der in ihm
vorwaltenden Krafte, sich ein Spiel zu ihrer Beschaftigung wahlen:
etwan Kegel oder Schach; Jagd oder Malerei; Wettrennen oder Musik;
Kartenspiel oder Poesie; Heraldik oder Philosophie, usw. Wir konnen
sogar die Sache methodisch untersuchen, indem wir auf die Wurzel aller
menschlichen Kraftaußerungen zuruckgehen, also auf die *drei
physiologischen Grundkrafte*, welche wir demnach hier in ihrem
zwecklosen Spiele zu betrachten haben, in welchem sie als die Quellen
dreier Arten moglicher Genusse auftreten, aus denen jeder Mensch, je
nachdem die eine oder die andere jener Krafte in ihm vorwaltet, die
ihm angemessenen erwahlen wird. Also zuerst, die Genusse der
*Reproduktionskraft*: sie bestehn im Essen, Trinken, Verdauen, Ruhen
und Schlafen. Diese werden daher sogar ganzen Volkern als ihre
Nationalvergnugungen von den andern nachgeruhmt. Zweitens die Genusse
der *Irritabilitat*: sie bestehen im Wandern, Springen, Ringen,
Tanzen, Fechten, Reiten und athletischen Spielen jeder Art, wie auch
in der Jagd und sogar in Kampf und Krieg. Drittens, die Genusse der
*Sensibilitat*: sie bestehen im Beschauen, Denken, Empfinden, Dichten,
Bilden, Musiziren, Lernen, Lesen, Meditieren, Erfinden, Philosophiren
usw. -- Uber den Wert, den Grad, die Dauer jeder dieser Arten der
Genusse lassen sich mancherlei Betrachtungen anstellen, die dem Leser
selbst uberlassen bleiben. Jedem aber wird dabei einleuchten, daß
unser allemal durch den Gebrauch der eigenen Krafte bedingter Genuß
und mithin unser in dessen haufiger Wiederkehr bestehendes Gluck, um
so großer sein wird, je edlerer Art die ihn bedingende Kraft ist. Den
Vorrang, welchen in dieser Hinsicht die Sensibilitat, deren
entschiedenes Uberwiegen das Auszeichnende des Menschen vor den
ubrigen Tiergeschlechtern ist, vor den beiden andern physiologischen
Grundkraften hat, als welche in gleichem und sogar in hoherem Grade
den Tieren einwohnen, wird ebenfalls niemand ableugnen. Der
Sensibilitat gehoren unsere Erkenntniskrafte an: daher befahigt das
Uberwiegen derselben zu den im *Erkennen* bestehenden, also den
sogenannten *geistigen* Genussen, und zwar zu um so großeren, je
entschiedener jenes Uberwiegen ist[B]. Dem normalen, gewohnlichen
Menschen kann eine Sache allein dadurch lebhafte Teilnahme abgewinnen,
daß sie seinen *Willen* anregt, also ein personliches Interesse fur
ihn hat. Nun ist aber jede anhaltende Erregung des *Willens*
wenigstens gemischter Art, also mit Schmerz verknupft. Ein
absichtliches Erregungsmittel desselben und zwar mittels so kleiner
Interessen, daß sie nur momentane und leichte, nicht bleibende und
ernstliche Schmerzen verursachen konnen, sonach als ein bloßes Kitzeln
des Willens zu betrachten sind, ist das Kartenspiel, diese
durchgangige Beschaftigung der ≫guten Gesellschaft≪, aller Orten[C].
-- Der Mensch von uberwiegenden Geisteskraften hingegen ist der
lebhaftesten Teilnahme auf dem Wege bloßer *Erkenntnis*, ohne alle
Einmischung des *Willens*, fahig, ja bedurftig. Diese Teilnahme aber
versetzt ihn alsdann in eine Region, welcher der Schmerz wesentlich
fremd ist, gleichsam in die Atmosphare der leicht lebenden Gotter,
=theaon rheia zoonton=. Wahrend demnach das Leben der ubrigen in
Dumpfheit dahingeht, indem ihr Dichten und Trachten ganzlich auf die
kleinlichen Interessen der personlichen Wohlfahrt und dadurch auf
Miseren aller Art gerichtet ist, weshalb unertragliche Langeweile sie
befallt, sobald die Beschaftigung mit jenen Zwecken stockt und sie auf
sich selbst zuruckgewiesen werden, indem nur das wilde Feuer der
Leidenschaft einige Bewegung in die stockende Masse zu bringen vermag;
so hat dagegen der mit uberwiegenden Geisteskraften ausgestattete
Mensch ein gedankenreiches, durchweg belebtes und bedeutsames Dasein:
wurdige und interessante Gegenstande beschaftigen ihn, sobald er sich
ihnen uberlassen darf und in sich selbst tragt er eine Quelle der
edelsten Genusse. Anregung von außen geben ihm die Werke der Natur und
der Anblick des menschlichen Treibens, sodann die so verschiedenartigen
Leistungen der Hochbegabten aller Zeiten und Lander, als welche
eigentlich nur ihm ganz genießbar, weil nur ihm ganz verstandlich und
fuhlbar sind. Fur ihn demnach haben jene wirklich gelebt, an ihn haben
sie sich eigentlich gewendet; wahrend die ubrigen nur als zufallige
Zuhorer eines und das andere halb auffassen. Freilich aber hat er
durch dieses alles ein Bedurfnis mehr als die andern, das Bedurfnis zu
lernen, zu sehen, zu studiren, zu meditiren, zu uben, folglich auch
das Bedurfnis freier Muße: aber eben weil, wie *Voltaire* richtig
bemerkt, _il n'est de vrais plaisirs qu'avec de vrais besoins_, so ist
dies Bedurfnis die Bedingung dazu, daß ihm Genusse offen stehn, welche
den andern versagt bleiben, als welchen Natur- und Kunstschonheiten
und Geisteswerke jeder Art, selbst wenn sie solche um sich anhaufen,
im Grunde doch nur das sind, was Hetaren einem Greise. Ein so
bevorzugter Mensch fuhrt infolge davon neben seinem personlichen Leben
noch ein zweites, namlich ein intellektuelles, welches ihm allmalig
zum eigentlichen Zweck wird, zu welchem er jenes erstere nur noch als
Mittel ansieht: wahrend den ubrigen dieses schale, leere und betrubte
Dasein selbst als Zweck gelten muß. Jenes intellektuelle Leben wird
daher ihn vorzugsweise beschaftigen und es erhalt, durch den
fortwahrenden Zuwachs an Einsicht und Erkenntnis, einen Zusammenhang,
eine bestandige Steigerung, eine sich mehr und mehr abrundende
Ganzheit und Vollendung, wie ein werdendes Kunstwerk; wogegen das bloß
praktische, bloß auf personliche Wohlfahrt gerichtete, bloß eines
Zuwachses in der Lange, nicht in der Tiefe fahige Leben der andern
traurig absticht, dennoch ihnen, wie gesagt, als Selbstzweck gelten
muß; wahrend es jenem bloßes Mittel ist.

  [B] Die Natur steigert sich fortwahrend, zunachst vom mechanischen und
  chemischen Wirken des unorganischen Reiches zum vegetabilischen und
  seinem dumpfen Selbstgenuß, von da zum Tierreich, mit welchem die
  Intelligenz und das Bewußtsein anbricht und nun von schwachen Anfangen
  stufenweise immer hoher steigt und endlich durch den letzten und
  großten Schritt bis zum *Menschen* sich erhebt, in dessen Intellekt
  also die Natur den Gipfelpunkt und das Ziel ihrer Produktionen
  erreicht, also das Vollendetste und Schwierigste liefert, was sie
  hervorzubringen vermag. Selbst innerhalb der menschlichen Spezies aber
  stellt der Intellekt noch viele und merkliche Abstufungen dar und
  gelangt hochst selten zur obersten, der eigentlich hohen Intelligenz.
  Diese nun also ist im engeren und strengeren Sinne das schwierigste
  und hochste Produkt der Natur, mithin das Seltenste und Wertvollste,
  was die Welt aufzuweisen hat. In einer solchen Intelligenz tritt das
  klarste Bewußtsein ein und stellt demgemaß die Welt sich deutlicher
  und vollstandiger als irgendwo dar. Der damit Ausgestattete besitzt
  demnach das Edelste und Kostlichste auf Erden und hat dementsprechend
  eine Quelle von Genussen, gegen welche alle ubrigen gering sind; so
  daß er von außen nichts weiter bedarf, als nur die Muße, sich dieses
  Besitzes ungestort zu erfreuen und seinen Diamanten auszuschleifen.
  Denn alle anderen, also nicht intellektuellen Genusse sind niedrigerer
  Art: sie laufen samtlich auf Willensbewegungen hinaus, also auf
  Wunschen, Hoffen, Furchten und Erreichen, gleichviel auf was es
  gerichtet sei, wobei es nie ohne Schmerzen abgehen kann, und zudem mit
  dem Erreichen, in der Regel, mehr oder weniger Enttauschung eintritt,
  statt daß bei den intellektuellen Genussen die Wahrheit immer klarer
  wird. Im Reiche der Intelligenz waltet kein Schmerz, sondern alles ist
  Erkenntnis. Alle intellektuellen Genusse sind nun aber jedem nur
  vermittels und also nach Maßgabe seiner eigenen Intelligenz
  zuganglich: denn _tout l'esprit, qui est au monde, est inutile a celui
  qui n'en a point_. Ein wirklicher, jenen Vorzug begleitender Nachteil
  aber ist, daß, in der ganzen Natur, mit dem Grad der Intelligenz die
  Fahigkeit zum Schmerze sich steigert, also ebenfalls erst hier ihre
  hochste Stufe erreicht.

  [C] Die *Vulgaritat* besteht im Grunde darin, daß im Bewußtsein das
  Wollen das Erkennen ganzlich uberwiegt, womit es den Grad erreicht,
  daß durchaus nur zum Dienste des Willens das Erkennen eintritt,
  folglich wo dieser Dienst es nicht heischt, also eben keine Motive,
  weder große noch kleine, vorliegen, das Erkennen ganz zessiert,
  folglich vollige Gedankenleere eintritt. Nun ist aber erkenntnisloses
  Wollen das Gemeinste, was es gibt: jeder Klotz Holz hat es und zeigt
  es wenigstens, wenn er fallt. Daher macht jener Zustand die Vulgaritat
  aus. In demselben bleiben bloß die Sinneswerkzeuge und die geringe,
  zur Apprehension ihrer Data erforderte Verstandestatigkeit aktiv,
  infolge wovon der vulgare Mensch allen Eindrucken bestandig offen
  steht, also alles, was um ihn herum vorgeht, augenblicklich wahrnimmt,
  so daß der leiseste Ton und jeder, auch noch so geringfugige Umstand
  seine Aufmerksamkeit sogleich erregt, eben wie bei den Tieren. Dieser
  ganze Zustand wird in seinem Gesicht und ganzen Außeren sichtbar, --
  woraus dann das vulgare Ansehen hervorgeht, dessen Eindruck um so
  widerlicher ist, wann, wie meistens, der hier das Bewußtsein allein
  erfullende Wille ein niedriger, egoistischer und uberhaupt schlechter
  ist.

Unser praktisches, reales Leben namlich ist, wenn nicht die
Leidenschaften es bewegen, langweilig und fade; wenn sie aber es
bewegen, wird es bald schmerzlich: darum sind die allein begluckt,
denen irgendein Uberschuß des Intellekts uber das zum Dienst ihres
Willens erforderte Maß zuteil geworden. Denn damit fuhren sie, neben
ihrem wirklichen, noch ein intellektuelles Leben, welches sie
fortwahrend auf eine *schmerzlose* Weise und doch lebhaft beschaftigt
und unterhalt. Bloße Muße, d. h. durch den Dienst des Willens
*unbeschaftigter* Intellekt, reicht dazu nicht aus; sondern ein
wirklicher Uberschuß der *Kraft* ist erfordert: denn nur dieser
befahigt zu einer dem Willen nicht dienenden, rein geistigen
Beschaftigung: hingegen _otium sine litteris mors est et hominis vivi
sepultura_ (_Sen. ep. 82_). Je nachdem nun aber dieser Uberschuß klein
oder groß ist, gibt es unzahlige Abstufungen jenes, neben dem realen
zu fuhrenden intellektuellen Lebens, vom bloßen Insekten-, Vogel-,
Mineralien-, Munzensammeln und Beschreiben bis zu den hochsten
Leistungen der Poesie und Philosophie. Ein solches intellektuelles
Leben schutzt aber nicht nur gegen die Langeweile, sondern auch gegen
die verderblichen Folgen derselben. Es wird namlich zur Schutzwehr
gegen schlechte Gesellschaft und gegen die vielen Gefahren,
Unglucksfalle, Verluste und Verschwendungen, in die man gerat, wenn
man sein Gluck ganz in der realen Welt sucht. So hat z. B. mir meine
Philosophie nie etwas eingebracht; aber sie hat mir sehr viel erspart.

Der normale Mensch hingegen ist, hinsichtlich des Genusses seines
Lebens, auf Dinge *außer ihm* gewiesen, auf den Besitz, den Rang, auf
Weib und Kinder, Freunde, Gesellschaft usw., auf diese stutzt sich
sein Lebensgluck: darum fallt es dahin, wenn er sie verliert oder er
sich in ihnen getauscht sah. Dies Verhaltnis auszudrucken, konnen wir
sagen, daß sein Schwerpunkt *außer ihm* fallt. Eben deshalb hat er
auch stets wechselnde Wunsche und Grillen: er wird, wenn seine Mittel
es erlauben, bald Landhauser, bald Pferde kaufen, bald Feste geben,
bald Reisen machen, uberhaupt aber großen Luxus treiben, weil er eben
in Dingen aller Art ein Genuge *von außen* sucht; wie der Entkraftete
aus Consomme's und Apothekerdrogen die Gesundheit und Starke zu
erlangen hofft, deren wahre Quelle die eigene Lebenskraft ist. Stellen
wir nun, um nicht gleich zum anderen Extrem uberzugehn, neben ihn
einen Mann von nicht gerade eminenten, aber doch das gewohnliche
knappe Maß uberschreitenden Geisteskraften, so sehn wir diesen etwa
irgendeine schone Kunst als Dilettant uben, oder aber eine
Realwissenschaft, wie Botanik, Mineralogie, Physik, Astronomie,
Geschichte u. dgl. betreiben und alsbald einen großen Teil seines
Genusses darin finden, sich daran erholend, wenn jene außeren Quellen
stocken oder ihn nicht mehr befriedigen. Wir konnen insofern sagen,
daß sein Schwerpunkt schon zum Teil *in ihn selbst* fallt. Weil jedoch
bloßer Dilettantismus in der Kunst noch sehr weit von der
hervorbringenden Fahigkeit liegt, und weil bloße Realwissenschaften
bei den Verhaltnissen der Erscheinungen zueinander stehn bleiben, so
kann der ganze Mensch nicht darin aufgehen, sein ganzes Wesen kann
nicht bis auf den Grund von ihnen erfullt werden und daher sein Dasein
sich nicht mit ihnen so verweben, daß er am ubrigen alles Interesse
verlore. Dies nun bleibt der hochsten geistigen Eminenz allein
vorbehalten, die man mit dem Namen des Genies zu bezeichnen pflegt:
denn nur sie nimmt das Dasein und Wesen der Dinge im ganzen und
absolut zu ihrem Thema, wonach sie dann ihr tiefe Auffassung
desselben, gemaß ihrer individuellen Richtung, durch Kunst, Poesie
oder Philosophie auszusprechen streben wird. Daher ist allein einem
Menschen dieser Art die ungestorte Beschaftigung mit sich, mit seinen
Gedanken und Werken dringendes Bedurfnis, Einsamkeit willkommen, freie
Muße das hochste Gut, alles ubrige entbehrlich, ja, wenn vorhanden,
oft nur zur Last. Nur von einem solchen Menschen konnen wir demnach
sagen, daß sein Schwerpunkt *ganz in ihn* fallt. Hieraus wird sogar
erklarlich, daß die hochst seltenen Leute dieser Art, selbst beim
besten Charakter, doch nicht jene innige und grenzenlose Teilnahme an
Freunden, Familie und Gemeinwesen zeigen, deren manche der anderen
fahig sind: denn sie konnen sich zuletzt uber alles trosten; wenn sie
nur sich selbst haben. Sonach liegt in ihnen ein isolirendes Element
mehr, welches um so wirksamer ist, als die anderen ihnen eigentlich
nie vollkommen genugen, weshalb sie in ihnen nicht ganz und gar
ihresgleichen sehen konnen, ja, da das Heterogene in allem und jedem
ihnen stets fuhlbar wird, allmahlich sich gewohnen, unter den Menschen
als verschiedenartige Wesen umherzugehen und, in ihren Gedanken uber
dieselben, sich der dritten nicht der ersten Person Pluralis zu
bedienen. --

Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint nun der, welchen die Natur in
intellektueller Hinsicht sehr reich ausgestattet hat, als der
Glucklichste; so gewiß das Subjektive uns naher liegt als das
Objektive, dessen Wirkung, welcher Art sie auch sei, immer erst durch
jenes vermittelt, also nur sekundar ist. Dies bezeugt auch der schone
Vers:

    =Ploutos ho tes psyches ploutos monos estin alethes,
    T' alla d' echei aten pleiona ton kteanon.=

    _Lucian in Anthol. I, 67._

Ein solcher innerlich Reicher bedarf von außen nichts weiter als eines
negativen Geschenks, namlich freier Muße, um seine geistigen
Fahigkeiten ausbilden und entwickeln und seinen innern Reichtum
genießen zu konnen, also eigentlich nur der Erlaubnis, sein ganzes
Leben hindurch, jeden Tag und jede Stunde, ganz er selbst sein zu
durfen. Wenn einer bestimmt ist, die Spur seines Geistes dem ganzen
Menschengeschlechte aufzudrucken, so gibt es fur ihn nur ein Gluck
oder Ungluck, namlich seine Anlagen vollkommen ausbilden und seine
Werke vollenden zu konnen, -- oder aber hieran verhindert zu sein.
Alles andere ist fur ihn geringfugig. Demgemaß sehen wir die großen
Geister aller Zeiten auf freie Muße den allerhochsten Wert legen. Denn
die freie Muße eines jeden ist so viel wert, wie er selbst wert ist.
=Dokei de he eudaimonia en te schole einai= (_videtur beatitudo in
otio esse sita_) sagt *Aristoteles* (_Eth. Nic. X, 7_), und Diogenes
Laertius (_II, 5, 31_) berichtet, daß =Sokrates epenei scholen, hos
kalliston ktematon= (_Socrates otium ut possessionum omnium
pulcherrimam laudabat_). Dem entspricht auch, daß Aristoteles (_Eth.
Nic. X, 7, 8, 9_) das philosophische Leben fur das glucklichste
erklart. Sogar gehort hierher, was er in der Politik (_IV, 11_) sagt:
=ton eudaimona bion einai ton kat' areten anempodiston=, welches,
grundlich ubersetzt, besagt: ≫seine Trefflichkeit, welcher Art sie
auch sei, ungehindert uben zu konnen, ist das eigentliche Gluck,≪ und
also zusammentrifft mit *Goethes* Ausspruch im Wilhelm Meister: ≫wer
mit einem Talent, zu einem Talent geboren ist, findet in demselben
sein schonstes Dasein.≪ -- Nun aber ist freie Muße zu besitzen nicht
nur dem gewohnlichen Schicksal, sondern auch der gewohnlichen Natur
des Menschen fremd; denn seine naturliche Bestimmung ist, daß er seine
Zeit mit Herbeischaffung des zu seiner und seiner Familie Existenz
Notwendigen zubringe. Er ist ein Sohn der Not, nicht eine freie
Intelligenz. Dementsprechend wird freie Muße dem gewohnlichen Menschen
bald zur Last, ja endlich zur Qual, wenn er sie nicht, mittels
allerlei erkunstelter und fingirter Zwecke, durch Spiel, Zeitvertreib
und Steckenpferde jeder Gestalt auszufullen vermag: auch bringt sie
ihm aus dem selben Grunde Gefahr, da es mit Recht heißt _difficilis in
otio quies_. Andrerseits jedoch ist ein uber das normale Maß weit
hinausgehender Intellekt ebenfalls abnorm, also unnaturlich. Ist er
dennoch einmal vorhanden, so bedarf es, fur das Gluck des damit
Begabten, eben jener den andern bald lastigen, bald verderblichen
freien Muße; da er ohne diese ein Pegasus im Joche, mithin unglucklich
sein wird. Treffen nun aber beide Unnaturlichkeiten, die außere und
die innere, zusammen, so ist es ein großer Glucksfall: denn jetzt wird
der so Begunstigte ein Leben hoherer Art fuhren, namlich das eines
Eximirten von den beiden entgegengesetzten Quellen des menschlichen
Leidens, der Not und der Langenweile, oder dem sorglichen Treiben fur
die Existenz und der Unfahigkeit, die Muße (d. i. die freie Existenz
selbst) zu ertragen, welchen beiden Ubeln der Mensch sonst nur dadurch
entgeht, daß sie selbst sich wechselseitig neutralisiren und aufheben.

Gegen dieses alles jedoch kommt andererseits in Betracht, daß die
großen Geistesgaben infolge der uberwiegenden Nerventatigkeit eine
uberaus gesteigerte Empfindlichkeit fur den Schmerz, in jeglicher
Gestalt, herbeifuhren, daß ferner das sie bedingende leidenschaftliche
Temperament und zugleich die von ihnen unzertrennliche großere
Lebhaftigkeit und Vollkommenheit aller Vorstellungen eine ungleich
großere Heftigkeit der durch diese erregten Affekte herbeifuhrt,
wahrend es doch uberhaupt mehr peinliche als angenehme Affekte gibt;
endlich auch, daß die großen Geistesgaben ihren Besitzer den ubrigen
Menschen und ihrem Treiben entfremden, da, je mehr er an sich selber
hat, desto weniger er an ihnen finden kann. Hundert Dinge, an welchen
sie großes Genuge haben, sind ihm schal und ungenießbar, wodurch denn
das uberall sich geltend machende Gesetz der Kompensation vielleicht
auch hier in Kraft bleibt; ist doch sogar oft genug, und nicht ohne
Schein, behauptet worden, der geistig beschrankteste Mensch sei im
Grunde der glucklichste, wenn gleich keiner ihn um dieses Gluck
beneiden mag. In der definitiven Entscheidung der Sache will ich
umsoweniger dem Leser vorgreifen, als selbst *Sophokles* hieruber zwei
einander diametral entgegengesetzte Ausspruche getan hat:

    =Pollo to phronein eudaimonias proton hyparchei.=
    (_Sapere longe prima felicitatis pars est._)

    _Antig. 1328._

und wieder:

    =En to phronein gar meden hedistos bios.=
    (_Nihil cogitantium jucundissima vita est._)

    _Ajax. 550._

Eben so uneinig miteinander sind die Philosophen des A. T.

    ≫Des Narren Leben ist arger denn der Tod!≪
    (=tou gar morou hyper thanatou zoe ponera.=)

    Jes. Sir. 22, 12.

und

    ≫Wo viel Weisheit ist, da ist viel Gramens.≪
    (=ho prostitheis gnosin, prosthesei algema.=)

    Kohel. 1, 18.

Inzwischen will ich hier doch nicht unerwahnt lassen, daß der Mensch,
welcher, infolge des streng und knapp normalen Maßes seiner
intellektuellen Krafte, *keine geistige Bedurfnisse hat*, es
eigentlich ist, den ein der deutschen Sprache ausschließlich eigener,
vom Studentenleben ausgegangener, nachmals aber in einem hoheren,
wiewohl dem ursprunglichen, durch den Gegensatz zum Musensohne, immer
noch analogen Sinne gebrauchter Ausdruck als den *Philister*
bezeichnet. Dieser namlich ist und bleibt der =amousos aner=. Nun
wurde ich zwar, von einem hoheren Standpunkt aus, die Definition der
Philister so aussprechen, daß sie Leute waren, die immerfort auf das
ernstlichste beschaftigt sind mit einer Realitat, die keine ist.
Allein eine solche schon transzendentale Definition wurde dem
popularen Standpunkt, auf welchen ich mich in dieser Abhandlung
gestellt habe, nicht angemessen, daher auch vielleicht nicht durchaus
jedem Leser faßlich sein. Jene erstere hingegen laßt leichter eine
spezielle Erlauterung zu und bezeichnet hinreichend das Wesentliche
der Sache, die Wurzel aller der Eigenschaften, die den *Philister*
charakterisieren. Er ist demnach *ein Mensch ohne geistige
Bedurfnisse*. Hieraus nun folgt gar mancherlei: erstlich, *in Hinsicht
auf ihn selbst*, daß er ohne geistige *Genusse* bleibt; nach dem schon
erwahnten Grundsatz: _il n'est de vrais plaisirs qu'avec de vrais
besoins_. Kein Drang nach Erkenntnis und Einsicht, um ihrer selbst
willen, belebt sein Dasein, auch keiner nach eigentlich asthetischen
Genussen, als welcher dem ersteren durchaus verwandt ist. Was dennoch
von Genussen solcher Art etwa Mode oder Autoritat ihm aufdringt, wird
er als eine Art Zwangsarbeit moglichst kurz abtun. Wirkliche Genusse
fur ihn sind allein die sinnlichen: durch diese halt er sich schadlos.
Demnach sind Austern und Champagner der Hohepunkt seines Daseins, und
sich alles, was zum leiblichen Wohlsein beitragt, zu verschaffen, ist
der Zweck seines Lebens. Glucklich genug, wenn dieser ihm viel zu
schaffen macht! Denn, sind jene Guter ihm schon zum voraus oktroyirt,
so fallt er unausbleiblich der Langenweile anheim, gegen welche dann
alles Ersinnliche versucht wird: Ball, Theater, Gesellschaft,
Kartenspiel, Hasardspiel, Pferde, Weiber, Trinken, Reisen usw. Und
doch reicht dies alles gegen die Langeweile nicht aus, wo Mangel an
geistigen Bedurfnissen die geistigen Genusse unmoglich macht. Daher
auch ist dem Philister ein dumpfer, trockener Ernst, der sich dem
tierischen nahert, eigen und charakteristisch. Nichts freut ihn,
nichts erregt ihn, nichts gewinnt ihm Anteil ab. Denn die sinnlichen
Genusse sind bald erschopft; die Gesellschaft, aus eben solchen
Philistern bestehend, wird bald langweilig, das Kartenspiel zuletzt
ermudend. Allenfalls bleiben ihm noch die Genusse der Eitelkeit, nach
seiner Weise, welche denn darin bestehen, daß er an Reichtum oder
Rang, oder Einfluß und Macht andere ubertrifft, von welchen er dann
deshalb geehrt wird; oder aber auch darin, daß er wenigstens mit
solchen, die in dergleichen eminiren, Umgang hat und so sich im Reflex
ihres Glanzes sonnt (_a snob_). -- Aus der aufgestellten
Grundeigenschaft des Philisters folgt *zweitens, in Hinsicht auf
andere*, daß, da er keine geistige sondern nur physische Bedurfnisse
hat, er den suchen wird, der diese, nicht den, der jene zu befriedigen
imstande ist. Am allerwenigsten wird daher unter den Anforderungen,
die er an andere macht, die irgend uberwiegender geistiger Fahigkeiten
sein: vielmehr werden diese, wenn sie ihm aufstoßen, seinen
Widerwillen, ja, seinen Haß erregen; weil er dabei nur ein lastiges
Gefuhl von Inferioritat und dazu einen dumpfen, heimlichen Neid
verspurt, den er aufs sorgfaltigste versteckt, indem er ihn sogar sich
selber zu verhehlen sucht, wodurch aber gerade solcher bisweilen bis
zu einem stillen Ingrimm anwachst. Nimmermehr demnach wird es ihm
einfallen, nach dergleichen Eigenschaften seine Wertschatzung oder
Hochachtung abzumessen; sondern diese wird ausschließlich dem Range
und Reichtum, der Macht und dem Einfluß vorbehalten bleiben, als
welche in seinen Augen die allein wahren Vorzuge sind, in denen zu
exzelliren auch sein Wunsch ware. -- Alles dieses aber folgt daraus,
daß er ein Mensch *ohne geistige Bedurfnisse* ist. Das große Leiden
aller Philister ist, daß *Idealitaten* ihnen keine Unterhaltung
gewahren, sondern sie, um der Langenweile zu entgehen, stets der
*Realitaten* bedurfen. Diese namlich sind teils bald erschopft, wo
sie, statt zu unterhalten, ermuden; teils fuhren sie Unheil jeder Art
herbei; wahrend hingegen die Idealitaten unerschopflich und an sich
unschuldig und unschadlich sind.

Ich habe in dieser ganzen Betrachtung der personlichen Eigenschaften,
welche zu unserem Glucke beitragen, nachst den physischen,
hauptsachlich die intellektuellen berucksichtigt. Auf welche Weise nun
aber auch die moralische Trefflichkeit unmittelbar begluckt, habe ich
fruher in meiner Preisschrift uber das Fundament der Moral § 22, S.
275 (2. Aufl. 272) dargelegt, wohin ich also von hier verweise.




Kapitel III.

Von dem, was einer hat.


Richtig und schon hat der große Gluckseligkeitslehrer *Epikuros* die
menschlichen Bedurfnisse in drei Klassen geteilt. Erstlich die
naturlichen und die notwendigen: es sind die, welche, wenn nicht
befriedigt, Schmerz verursachen. Folglich gehort hierher nur
_victus et amictus_. Sie sind leicht zu befriedigen. Zweitens, die
naturlichen jedoch nicht notwendigen: es ist das Bedurfnis der
Geschlechtsbefriedigung; wiewohl Epikur dies im Berichte des Laertius
nicht ausspricht; (wie ich denn uberhaupt seine Lehre hier etwas
zurechtgeschoben und ausgefeilt wiedergebe). Dieses Bedurfnis zu
befriedigen halt schon schwerer. Drittens, die weder naturlichen noch
notwendigen: es sind die des Luxus, der Uppigkeit, des Prunkes und
Glanzes: sie sind endlos und ihre Befriedigung ist sehr schwer. (Siehe
_Diog. Laert. L. X, c. 27, § 149_, auch _§ 127. -- Cic. de fin. I, 13._)

Die Grenze unserer vernunftigen Wunsche hinsichtlich des Besitzes zu
bestimmen ist schwierig, wo nicht unmoglich. Denn die Zufriedenheit
eines jeden, in dieser Hinsicht, beruht nicht auf einer absoluten
sondern auf einer bloß relativen Große, namlich auf dem Verhaltnis
zwischen seinen Anspruchen und seinem Besitz: daher dieser letztere,
fur sich allein betrachtet, so bedeutungsleer ist wie der Zahler eines
Bruchs ohne den Nenner. Die Guter, auf welche Anspruch zu machen einem
Menschen nie in den Sinn gekommen ist, entbehrt er durchaus nicht
sondern ist, auch ohne sie, vollig zufrieden; wahrend ein anderer, der
hundertmal mehr besitzt als er, sich unglucklich fuhlt, weil ihm eins
abgeht, darauf er Anspruch macht. Jeder hat, auch in dieser Hinsicht,
einen eigenen Horizont des fur ihn moglicherweise Erreichbaren: so
weit wie dieser gehn seine Anspruche. Wann irgend ein innerhalb
desselben gelegenes Objekt sich ihm so darstellt, daß er auf dessen
Erreichung vertrauen kann, fuhlt er sich glucklich; hingegen
unglucklich, wann eintretende Schwierigkeiten ihm die Aussicht darauf
benehmen. Das außerhalb dieses Gesichtskreises Liegende wirkt gar
nicht auf ihn. Daher beunruhigen den Armen die großen Besitztumer der
Reichen nicht, und trostet andrerseits den Reichen, bei verfehlten
Absichten, das viele nicht, was er schon besitzt. (Der Reichtum
gleicht dem Seewasser: je mehr man davon trinkt, desto durstiger wird
man. -- Dasselbe gilt vom Ruhm.) -- Daß nach verlorenem Reichtum oder
Wohlstande, sobald der erste Schmerz uberstanden ist, unsre habituelle
Stimmung nicht sehr verschieden von der fruheren ausfallt, kommt
daher, daß, nachdem das Schicksal den Faktor unsres Besitzes
verkleinert hat, wir selbst nun den Faktor unsrer Anspruche gleich
sehr vermindern. Diese Operation aber ist das eigentlich Schmerzhafte,
bei einem Unglucksfall: nachdem sie vollzogen ist, wird der Schmerz
immer weniger, zuletzt gar nicht mehr gefuhlt: die Wunde vernarbt.
Umgekehrt wird, bei einem Glucksfall, der Kompressor unsrer Anspruche
hinaufgeschoben, und sie dehnen sich aus: hierin liegt die Freude.
Aber auch sie dauert nicht langer, als bis diese Operation ganzlich
vollzogen ist: wir gewohnen uns an das erweiterte Maß der Anspruche
und werden gegen den demselben entsprechenden Besitz gleichgultig.
Dies sagt schon die homerische Stelle, _Od. XVIII, 130-137_, welche
schließt:

    =Toios gar noos estin epichthonion anthropon,
    Hoion eph' hemar agei pater andron te theon te.=

Die Quelle unserer Unzufriedenheit liegt in unsern stets erneuerten
Versuchen, den Faktor der Anspruche in die Hohe zu schieben, bei der
Unbeweglichkeit des andern Faktors, die es verhindert. --

Unter einem so bedurftigen und aus Bedurfnissen bestehendem
Geschlecht, wie das menschliche, ist es nicht zu verwundern, daß
*Reichtum* mehr und aufrichtiger als alles andere geachtet, ja verehrt
wird, und selbst die Macht nur als Mittel zum Reichtum; wie auch
nicht, daß zum Zwecke des Erwerbs alles andere beiseite geschoben oder
uber den Haufen geworfen wird, z. B. die Philosophie von den
Philosophieprofessoren. -- Daß die Wunsche der Menschen hauptsachlich
auf Geld gerichtet sind und sie dieses uber alles lieben, wird ihnen
oft zum Vorwurf gemacht. Jedoch ist es naturlich, wohl gar
unvermeidlich, das zu lieben, was als ein unermudlicher Proteus jeden
Augenblick bereit ist, sich in den jedesmaligen Gegenstand unsrer so
wandelbaren Wunsche und mannigfaltigen Bedurfnisse zu verwandeln.
Jedes andere Gut namlich kann nur *einem* Wunsch, *einem* Bedurfnis
genugen: Speisen sind bloß gut fur den Hungrigen, Wein fur den
Gesunden, Arznei fur den Kranken, ein Pelz fur den Winter, Weiber fur
die Jugend usw. Sie sind folglich alle nur =agatha pros ti=, d. h. nur
relativ gut. Geld allein ist das absolut Gute: weil es nicht bloß
*einem* Bedurfnis _in concreto_ begegnet sondern *dem* Bedurfnis
uberhaupt, _in abstracto_. --

*Vorhandenes Vermogen* soll man betrachten als eine Schutzmauer gegen
die vielen moglichen Ubel und Unfalle, nicht als eine Erlaubnis oder
gar Verpflichtung, die Plaisirs der Welt heranzuschaffen. -- Leute,
die von Hause aus kein Vermogen haben, aber endlich in die Lage
kommen, durch ihre Talente, welcher Art sie auch seien, viel zu
verdienen, geraten fast immer in die Einbildung, ihr Talent sei das
bleibende Kapital und der Gewinn dadurch die Zinsen. Demgemaß legen
sie dann nicht das Erworbene teilweise zuruck, um so ein bleibendes
Kapital zusammenzubringen, sondern geben aus in dem Maße, wie sie
verdienen. Danach aber werden sie meistens in Armut geraten, weil ihr
Erwerb stockt oder aufhort, nachdem entweder das Talent selbst
erschopft ist, indem es verganglicher Art war wie z. B. das zu fast
allen schonen Kunsten, oder auch, weil es nur unter besonderen
Umstanden und Konjunkturen geltend zu machen war, welche aufgehort
haben. Handwerker mogen immerhin es auf die besagte Weise halten, weil
die Fahigkeiten zu ihren Leistungen nicht leicht verloren gehn, auch
durch die Krafte der Gesellen ersetzt werden und weil ihre Fabrikate
Gegenstande des Bedurfnisses sind, also alle Zeit Abgang finden,
weshalb denn auch das Sprichwort ≫ein Handwerk hat einen goldenen
Boden≪ richtig ist. Aber nicht so steht es um die Kunstler und
_virtuosi_ jeder Art. Eben deshalb werden diese teuer bezahlt. Daher
aber soll, was sie erwerben, ihr Kapital werden; wahrend sie
vermessener Weise es fur bloße Zinsen halten und dadurch ihrem
Verderben entgegengehn. -- Leute hingegen, welche ererbtes Vermogen
besitzen, wissen wenigstens sogleich ganz richtig, was das Kapital und
was die Zinsen sind. Die meisten werden daher jenes sicher zu stellen
suchen, keinesfalls es angreifen, ja womoglich wenigstens ein Achtel
der Zinsen zurucklegen, kunftigen Stockungen zu begegnen. Sie bleiben
daher meistens im Wohlstande. -- Auf Kaufleute ist diese ganze
Bemerkung nicht anwendbar: denn ihnen ist das Geld selbst Mittel zum
ferneren Erwerb, gleichsam Handwerksgerat; daher sie, auch wenn es
ganz von ihnen selbst erworben ist, es sich durch Benutzung zu
erhalten und zu vermehren suchen. Demgemaß ist in keinem Stande der
Reichtum so eigentlich zu Hause wie in diesem.

Uberhaupt aber wird man, in der Regel, finden, daß diejenigen, welche
schon mit der eigentlichen Not und dem Mangel handgemein gewesen sind,
diese ungleich weniger furchten und daher zur Verschwendung geneigter
sind als die, welche solche nur von Horensagen kennen. Zu den ersteren
gehoren alle, die durch Glucksfalle irgend einer Art oder durch
besondere Talente, gleichviel welcher Gattung, ziemlich schnell aus
der Armut in den Wohlstand gelangt sind: die andern hingegen sind die,
welche im Wohlstande geboren und geblieben sind. Diese sind
durchgangig mehr auf die Zukunft bedacht und daher okonomischer als
jene. Man konnte daraus schließen, daß die Not nicht eine so schlimme
Sache ware, wie sie, von weitem gesehn, scheint. Doch mochte der wahre
Grund vielmehr dieser sein, daß dem, der in angestammtem Reichtume
geboren ist, dieser als etwas Unentbehrliches erscheint, als das
Element des einzig moglichen Lebens, so gut wie die Luft; daher er ihn
bewacht wie sein Leben, folglich meistens ordnungsliebend, vorsichtig
und sparsam ist. Dem in angestammter Armut Geborenen hingegen
erscheint diese als der naturliche Zustand; der ihm danach irgendwie
zugefallene Reichtum aber als etwas Uberflussiges, bloß tauglich zum
Genießen und Verprassen; indem man, wann er wieder fort ist, sich so
gut wie vorher ohne ihn behilft und noch eine Sorge los ist. Da geht
es denn wie Shakespeare sagt:

    _The adage must be verified,
    That beggars mounted run their horse to death._

    (Das Sprichwort muß bewahrt werden, daß der zu Pferde gesetzte
    Bettler sein Tier zu Tode jagt.)

    _Henry VI. P. 3. A. 1._

Dazu kommt denn freilich noch, daß solche Leute ein festes und
ubergroßes Zutrauen teils zum Schicksal, teils zu den eigenen Mitteln,
die ihnen schon aus Not und Armut herausgeholfen haben, nicht sowohl
im Kopf als im Herzen tragen und daher die Untiefen derselben nicht,
wie es wohl den reich Geborenen begegnet, fur bodenlos halten, sondern
denken, daß man, auf den Boden stoßend, wieder in die Hohe gehoben
wird. -- Aus dieser menschlichen Eigentumlichkeit ist es auch zu
erklaren, daß Frauen, welche arme Madchen waren, sehr oft
anspruchsvoller und verschwenderischer sind als die, welche eine
reiche Aussteuer zubrachten, indem meistenteils die reichen Madchen
nicht bloß Vermogen mitbringen, sondern auch mehr Eifer, ja angeerbten
Trieb zur Erhaltung desselben, als arme. Wer inzwischen das Gegenteil
behaupten will, findet eine Autoritat fur sich am Ariosto in dessen
erster Satire; hingegen stimmt Dr. Johnson meiner Meinung bei: _A
woman of fortune being used to the handling of money, spends it
judiciously: but a woman who gets the command of money for the first
time upon her marriage, has such a gust in spending it, that she
throws it away with great profusion._ (S. _Boswell, Life of Johnson,
ann. 1776, aetat. 67._) Jedenfalls aber mochte ich dem, der ein armes
Madchen heiratet, raten, sie nicht das Kapital sondern eine bloße
Rente erben zu lassen, besonders aber dafur zu sorgen, daß das
Vermogen der Kinder nicht in ihre Hande gerat.

Ich glaube keineswegs etwas meiner Feder Unwurdiges zu tun, indem ich
hier die Sorge fur Erhaltung des erworbenen und des ererbten Vermogens
anempfehle. Denn von Hause aus so viel zu besitzen, daß man, ware es
auch nur fur seine Person und ohne Familie, in wahrer Unabhangigkeit
d. h. ohne zu arbeiten, bequem leben kann, ist ein unschatzbarer
Vorzug: denn es ist die Exemtion und die Immunitat von der dem
menschlichen Leben anhangenden Bedurftigkeit und Plage, also die
Emanzipation vom allgemeinen Frohndienst, diesem naturgemaßen Lose des
Erdensohns. Nur unter dieser Begunstigung des Schicksals ist man als
ein wahrer Freier geboren: denn nur so ist man eigentlich _sui juris_,
Herr seiner Zeit und seiner Krafte, und darf jeden Morgen sagen: ≫Der
Tag ist mein≪. Auch ist ebendeshalb zwischen dem, der tausend, und
dem, der hunderttausend Taler Renten hat, der Unterschied unendlich
kleiner als zwischen ersterem und dem, der nichts hat. Seinen hochsten
Wert aber erlangt das angeborene Vermogen, wenn es dem zugefallen ist,
der, mit geistigen Kraften hoherer Art ausgestattet, Bestrebungen
verfolgt, die sich mit dem Erwerbe nicht wohl vertragen: denn alsdann
ist er vom Schicksal doppelt dotirt und kann jetzt seinem Genius
leben: der Menschheit aber wird er seine Schuld dadurch hundertfach
abtragen, daß er leistet was kein anderer konnte und etwas
hervorbringt, das ihrer Gesamtheit zugute kommt, wohl auch gar ihr zur
Ehre gereicht. Ein anderer nun wieder wird in so bevorzugter Lage sich
durch philantropische Bestrebungen um die Menschheit verdient machen.
Wer hingegen nichts von dem allen, auch nur einigermaßen, oder
versuchsweise, leistet, ja, nicht einmal durch grundliche Erlernung
irgendeiner Wissenschaft sich wenigstens die Moglichkeit eroffnet,
dieselbe zu fordern, -- ein solcher ist, bei angeerbtem Vermogen, ein
bloßer Tagedieb und verachtlich. Auch wird er nicht glucklich sein:
denn die Exemtion von der Not liefert ihn dem anderen Pol des
menschlichen Elends, der Langenweile, in die Hande, die ihn so
martert, daß er viel glucklicher ware, wenn die Not ihm Beschaftigung
gegeben hatte. Eben diese Langeweile aber wird ihn leicht zu
Extravaganzen verleiten, welche ihn um jenen Vorzug bringen, dessen er
nicht wurdig war. Wirklich befinden Unzahlige sich bloß deshalb in
Mangel, weil, als sie Geld hatten, sie es ausgaben, um nur sich
augenblickliche Linderung der sie druckenden Langenweile zu
verschaffen.

Ganz anders nun aber verhalt es sich, wenn der Zweck ist, es im
Staatsdienste hoch zu bringen, wo demnach Gunst, Freunde, Verbindungen
erworben werden mussen, um durch sie, von Stufe zu Stufe, Beforderung,
vielleicht gar bis zu den hochsten Posten, zu erlangen: hier namlich
ist es im Grunde wohl besser, ohne alles Vermogen in die Welt gestoßen
zu sein. Besonders wird es dem, welcher nicht adelig, hingegen mit
einigem Talent ausgestattet ist, zum wahren Vorteil und zur Empfehlung
gereichen, wenn er ein ganz armer Teufel ist. Denn was jeder, schon in
der bloßen Unterhaltung, wie viel mehr im Dienste, am meisten sucht
und liebt, ist die Inferioritat des anderen. Nun aber ist allein ein
armer Teufel von seiner ganzlichen, tiefen, entschiedenen und
allseitigen Inferioritat und seiner volligen Unbedeutsamkeit und
Wertlosigkeit in dem Grade uberzeugt und durchdrungen, wie es hier
erfordert wird. Nur er demnach verbeugt sich oft und anhaltend genug,
und nur seine Bucklinge erreichen volle 90°: nur er laßt alles uber
sich ergehn und lachelt dazu; nur er erkennt die ganzliche
Wertlosigkeit der Verdienste; nur er preist offentlich, mit lauter
Stimme, oder auch in großem Druck, die literarischen Stumpereien der
uber ihn Gestellten, oder sonst Einflußreichen, als Meisterwerke; nur
er versteht zu betteln: folglich kann nur er, bei Zeiten, also in der
Jugend, sogar ein Epopte jener verborgenen Wahrheit werden, die Goethe
uns enthullt hat in den Worten:

    ≫Uber's Niedertrachtige
    Niemand sich beklage:
    Denn es ist das Machtige,
    Was man dir auch sage.≪

    *W. O. Divan.*

Hingegen der, welcher von Hause aus zu leben hat, wird sich meistens
ungebardig stellen: er ist gewohnt _tete levee_ zu gehn, hat alle jene
Kunste nicht gelernt, trotzt dazu vielleicht noch auf etwanige
Talente, deren Unzulanglichkeit vielmehr, dem _mediocre et rampant_
gegenuber, er begreifen sollte; er ist am Ende wohl gar imstande, die
Inferioritat der uber ihn Gestellten zu merken; und wenn es nun
vollends zu den Indignitaten kommt, da wird er statisch oder
kopfscheu. Damit poussirt man sich nicht in der Welt: vielmehr kann es
mit ihm zuletzt dahin kommen, daß er mit dem frechen Voltaire sagt:
_nous n'avons que deux jours a vivre: ce n'est pas la peine de les
passer a ramper sous des coquins meprisables_: -- leider ist,
beilaufig gesagt, dieses _coquin meprisable_ ein Pradikat, zu dem es
in der Welt verteufelt viele Subjekte gibt. Man sieht also, daß das
Juvenalische

    _Haud facile emergunt, quorum virtutibus obstat
    Res angusta domi,_

mehr von der Laufbahn der Virtuositaten als von der der Weltleute
gultig ist.

Zu dem, *was einer hat*, habe ich Frau und Kinder nicht gerechnet; da
er von diesen vielmehr gehabt wird. Eher ließen sich Freunde dazu
zahlen: doch muß auch hier der Besitzende im gleichen Maße der Besitz
des andern sein.




Kapitel IV.

Von dem, was einer vorstellt.


Dieses, also unser Dasein in der Meinung anderer, wird, infolge einer
besonderen Schwache unserer Natur, durchgangig viel zu hoch
angeschlagen; obgleich schon die leichteste Besinnung lehren konnte,
daß es, an sich selbst, fur unser Gluck, unwesentlich ist. Es ist
demnach kaum erklarlich, wie sehr jeder Mensch sich innerlich freut,
so oft er Zeichen der gunstigen Meinung anderer merkt und seiner
Eitelkeit irgendwie geschmeichelt wird. So unausbleiblich wie die
Katze spinnt, wenn man sie streichelt, malt suße Wonne sich auf das
Gesicht des Menschen, den man lobt und zwar in dem Felde seiner
Pratension, sei das Lob auch handgreiflich lugenhaft. Oft trosten ihn
uber reales Ungluck oder uber die Kargheit, mit der fur ihn die
beiden, bis hieher abgehandelten Hauptquellen unseres Gluckes fließen,
die Zeichen des fremden Beifalls: und, umgekehrt, ist es zum
Erstaunen, wie sehr jede Verletzung seines Ehrgeizes, in irgend einem
Sinne, Grad oder Verhaltnis, jede Geringschatzung, Zurucksetzung,
Nichtachtung ihn unfehlbar krankt und oft tief schmerzt. Sofern auf
dieser Eigenschaft das Gefuhl der Ehre beruht, mag sie fur das
Wohlverhalten vieler, als Surrogat ihrer Moralitat, von ersprießlichen
Folgen sein; aber auf das eigene *Gluck* des Menschen, zunachst auf
die diesem so wesentliche Gemutsruhe und Unabhangigkeit, wirkt sie
mehr storend und nachteilig als forderlich ein. Daher ist es, von
unserm Gesichtspunkt aus, ratsam, ihr Schranken zu setzen und, mittels
gehoriger Uberlegung und richtiger Abschatzung des Wertes der Guter,
jene große Empfindlichkeit gegen die fremde Meinung moglichst zu
maßigen, sowohl da, wo ihr geschmeichelt wird, als da, wo ihr wehe
geschieht: denn beides hangt am selben Faden. Außerdem bleibt man der
Sklave fremder Meinung und fremden Bedunkens:

    _Sic leve, sic parvum est, animum quod laudis avarum
    Subruit ac reficit._

Demnach wird eine richtige Abschatzung des Wertes dessen, was man in
und *fur sich selbst* ist, gegen das, was man bloß in den Augen
*anderer* ist, zu unserm Glucke viel beitragen. Zum ersteren gehort
die ganze Ausfullung der Zeit unsers eigenen Daseins, der innere
Gehalt desselben, mithin alle die Guter, welche unter den Titeln ≫was
einer ist≪ und ≫was einer hat≪ von uns in Betrachtung genommen worden
sind. Denn der Ort, in welchem alles dieses seine Wirkungssphare hat,
ist das eigene Bewußtsein. Hingegen ist der Ort dessen, was wir fur
*andere* sind, das fremde Bewußtsein: es ist die Vorstellung, unter
welcher wir darin erscheinen, nebst den Begriffen, die auf diese
angewandt werden[D]. Dies nun ist etwas, das unmittelbar gar nicht fur
uns vorhanden ist, sondern bloß mittelbar, namlich sofern das Betragen
der andern gegen uns dadurch bestimmt wird. Und auch dieses selbst
kommt eigentlich nur in Betracht, sofern es Einfluß hat auf irgend
etwas, wodurch das, was wir *in und fur uns selbst* sind, modifizirt
werden kann. Außerdem ist ja, was in einem fremden Bewußtsein vorgeht,
als solches, fur uns gleichgultig, und auch wir werden allmahlig
gleichgultig dagegen werden, wenn wir von der Oberflachlichkeit und
Futilitat der Gedanken, von der Beschranktheit der Begriffe, von der
Kleinlichkeit der Gesinnung, von der Verkehrtheit der Meinungen und
von der Anzahl der Irrtumer in den allermeisten Kopfen eine
hinlangliche Kenntnis erlangen, und dazu aus eigener Erfahrung lernen,
mit welcher Geringschatzung gelegentlich von jedem geredet wird,
sobald man ihn nicht zu furchten hat oder glaubt, es komme ihm nicht
zu Ohren; insbesondere aber nachdem wir einmal angehort haben, wie vom
großten Manne ein halbes Dutzend Schafskopfe mit Wegwerfung spricht.
Wir werden dann einsehen, daß, wer auf die Meinung der Menschen einen
großen Wert legt, ihnen zu viel Ehre erzeigt.

댓글 없음: