2014년 11월 20일 목요일

Aphorismen zur Lebensweisheit 3

Aphorismen zur Lebensweisheit 3


[D] Die hochsten Stande, in ihrem Glanz, in ihrer Pracht und Prunk und
  Herrlichkeit und Reprasentation jeder Art konnen sagen: unser Gluck
  liegt ganz außerhalb unserer selbst: sein Ort sind die Kopfe anderer.

Jedenfalls ist der auf eine kummerliche Ressource hingewiesen, der
sein Gluck nicht in den beiden, bereits abgehandelten Klassen von
Gutern findet, sondern es in dieser dritten suchen muß, also nicht in
dem, was er wirklich, sondern in dem, was er in der fremden
Vorstellung ist. Denn uberhaupt ist die Basis unseres Wesens und
folglich auch unseres Glucks unsere animalische Natur. Daher ist, fur
unsere Wohlfahrt, Gesundheit das wesentlichste, nachst dieser aber die
Mittel zu unserer Erhaltung, also ein sorgenfreies Auskommen. Ehre,
Glanz, Rang, Ruhm, so viel Wert auch mancher darauf legen mag, konnen
mit jenen wesentlichen Gutern nicht kompetiren, noch sie ersetzen:
vielmehr wurden sie, erforderlichen Falle, unbedenklich fur jene
hingegeben werden. Dieserwegen wird es zu unserm Glucke beitragen,
wenn wir beizeiten die simple Einsicht erlangen, daß jeder zunachst
und wirklich in seiner eigenen Haut lebt, nicht aber in der Meinung
anderer, und daß demnach unser realer und personlicher Zustand, wie er
durch Gesundheit, Temperament, Fahigkeiten, Einkommen, Weib, Kind,
Freunde, Wohnort usw. bestimmt wird, fur unser Gluck hundertmal
wichtiger ist, als was es andern beliebt aus uns zu machen. Der
entgegengesetzte Wahn macht unglucklich. Wird mit Emphase ausgerufen
≫Uber's Leben geht noch die Ehre,≪ so besagt dies eigentlich: ≫Dasein
und Wohlsein sind nichts; sondern was die andern von uns denken, das
ist die Sache.≪ Allenfalls kann der Ausspruch als eine Hyperbel
gelten, der die prosaische Wahrheit zum Grunde liegt, daß zu unserm
Fortkommen und Bestehn unter Menschen die Ehre, d. h. die Meinung
derselben von uns, oft unumganglich notig ist; worauf ich weiterhin
zuruckkommen werde. Wenn man hingegen sieht, wie fast alles, wonach
Menschen, ihr Leben lang, mit rastloser Anstrengung und unter tausend
Gefahren und Muhseligkeiten, unermudlich streben, zum letzten Zweck,
hat, sich dadurch in der Meinung anderer zu erhohen, indem namlich
nicht nur Amter, Titel und Orden, sondern auch Reichtum, und selbst
Wissenschaft[E] und Kunst, im Grunde und hauptsachlich deshalb
angestrebt werden, und der großere Respekt anderer das letzte Ziel
ist, darauf man hinarbeitet; so beweist dies leider nur die Große der
menschlichen Torheit. Viel zu viel Wert auf die Meinung anderer zu
legen, ist ein allgemein herrschender Irrwahn: mag er nun in unserer
Natur selbst wurzeln, oder in Folge der Gesellschaft und Zivilisation
entstanden sein; jedenfalls ubt er auf unser gesamtes Tun und Lassen
einen ganz ubermaßigen und unserem Glucke feindlichen Einfluß aus, den
wir verfolgen konnen, von da an, wo er sich in der angstlichen und
sklavischen Rucksicht auf das _qu'en dira-t-on_ zeigt, bis dahin, wo
er den Dolch des Virginius in das Herz seiner Tochter stoßt, oder den
Menschen verleitet, fur den Nachruhm, Ruhe, Reichtum und Gesundheit,
ja, das Leben zu opfern. Dieser Wahn bietet allerdings dem, der die
Menschen zu beherrschen oder sonst zu lenken hat, eine bequeme
Handhabe dar; weshalb in jeder Art von Menschendressierungskunst die
Weisung, das Ehrgefuhl rege zu erhalten und zu scharfen, eine
Hauptstelle einnimmt: aber in Hinsicht auf das eigene Gluck des
Menschen, welches hier unsere Absicht ist, verhalt die Sache sich ganz
anders, und ist vielmehr davon abzumahnen, daß man nicht zu viel Wert
auf die Meinung anderer lege. Wenn es, wie die tagliche Erfahrung
lehrt, dennoch geschieht, wenn die meisten Menschen gerade auf die
Meinung anderer von ihnen den hochsten Wert legen und es ihnen darum
mehr zu tun ist als um das, was, weil es in *ihrem eigenen Bewußtsein*
vorgeht, unmittelbar fur sie vorhanden ist; wenn demnach, mittels
Umkehrung der naturlichen Ordnung, ihnen jenes der reale, dieses der
bloß ideale Teil ihres Daseins zu sein scheint, wenn sie also das
Abgeleitete und Sekundare zur Hauptsache machen und ihnen mehr das
Bild ihres Wesens im Kopfe anderer, als dieses Wesen selbst am Herzen
liegt; so ist diese unmittelbare Wertschatzung dessen, was fur uns
unmittelbar gar nicht vorhanden ist, diejenige Torheit, welche man
*Eitelkeit*, _vanitas_, genannt hat, um dadurch das Leere und
Gehaltlose dieses Strebens zu bezeichnen. Auch ist aus dem Obigen
leicht einzusehn, daß sie zum Vergessen des Zwecks uber die Mittel
gehort, so gut wie der Geiz.

  [E] _Scire tuum nihil est, nisi te scire hoc sciat alter._

In der Tat uberschreitet der Wert, den wir auf die Meinung anderer
legen, und unsere bestandige Sorge in betreff derselben, in der Regel,
fast jede vernunftige Bezweckung, so daß sie als eine Art allgemein
verbreiteter oder vielmehr angeborener Manie angesehn werden kann. Bei
allem, was wir tun und lassen, wird, fast vor allem andern, die fremde
Meinung berucksichtigt, und aus der Sorge um sie werden wir, bei
genauer Untersuchung, fast die Halfte aller Bekummernisse und Angste,
die wir jemals empfunden haben, hervorgegangen sehn. Denn sie liegt
allem unserm, so oft gekrankten, weil so krankhaft empfindlichen,
Selbstgefuhl, allen unsern Eitelkeiten und Pratensionen, wie auch
unserm Prunken und Großtun, zum Grunde. Ohne diese Sorge und Sucht
wurde der Luxus kaum ein Zehntel dessen sein, was er ist. Aller und
jeder Stolz, _point d'honneur_ und _puntiglio_, so verschiedener
Gattung und Sphare er auch sein kann, beruht auf ihr -- und welche
Opfer heischt sie da nicht oft! Sie zeigt sich schon im Kinde, sodann
in jedem Lebensalter, jedoch am starksten im spaten; weil dann, beim
Versiegen der Fahigkeit zu sinnlichen Genussen, Eitelkeit und Hochmut
nur noch mit dem Geize die Herrschaft zu teilen haben. Am deutlichsten
laßt sie sich an den Franzosen beobachten, als bei welchen sie ganz
endemisch ist und sich oft in der abgeschmacktesten Ehrsucht,
lacherlichsten National-Eitelkeit und unverschamtesten Prahlerei Luft
macht; wodurch dann ihr Streben sich selbst vereitelt, indem es sie
zum Spotte der andern Nationen gemacht hat und die _grande nation_ ein
Neckname geworden ist. Um nun aber die in Rede stehende Verkehrtheit
der uberschwanglichen Sorge um die Meinung anderer noch speziell zu
erlautern, mag hier ein, durch den Lichteffekt des Zusammentreffens
der Umstande mit dem angemessenen Charakter, in seltenem Grade
begunstigtes, recht superlatives Beispiel jener in der Menschennatur
wurzelnden Torheit Platz finden, da an demselben die Starke dieser
hochst wunderlichen Triebfeder sich ganz ermessen laßt. Es ist
folgende, den _Times_ vom 31. Marz 1846 entnommene Stelle aus dem
ausfuhrlichen Bericht von der soeben vollzogenen Hinrichtung des
*Thomas Wix*, eines Handwerksgesellen, der aus Rache seinen Meister
ermordet hatte: ≫An dem zur Hinrichtung festgesetzten Morgen fand sich
der hochwurdige Gefangniskaplan zeitig bei ihm ein. Allein *Wix*,
obwohl sich ruhig betragend, zeigte keinen Anteil an seinen
Ermahnungen: vielmehr war das einzige, was ihm am Herzen lag, daß es
ihm gelingen mochte, vor den Zuschauern seines schmachvollen Endes,
sich mit recht großer Bravour zu benehmen. -- -- -- Dies ist ihm denn
auch gelungen. Auf dem Hofraum, den er zu dem, hart am Gefangnis
errichteten Galgenschaffot zu durchschreiten hatte, sagte er: >Wohlan
denn, wie Doktor Dodd gesagt hat, bald werde ich das große Geheimnis
wissen!< Er ging, obwohl mit gebundenen Armen, die Leiter zum Schaffot
ohne die geringste Beihilfe hinauf: daselbst angelangt machte er gegen
die Zuschauer, rechts und links, Verbeugungen, welche denn auch mit
dem donnernden Beifallsruf der versammelten Menge beantwortet und
belohnt wurden, usw.≪ -- Dies ist ein Prachtexemplar der Ehrsucht, den
Tod, in schrecklichster Gestalt, nebst der Ewigkeit dahinter, vor
Augen, keine andere Sorge zu haben, als die um den Eindruck auf den
zusammengelaufenen Haufen der Gaffer und die Meinung, welche man in
deren Kopfen zurucklassen wird! -- Und doch war eben so der im selben
Jahr in Frankreich, wegen versuchten Konigsmordes, hingerichtete
*Lecomte*, bei seinem Prozeß, hauptsachlich daruber verdrießlich, daß
er nicht in anstandiger Kleidung vor der Pairskammer erscheinen
konnte, und selbst bei seiner Hinrichtung war es ihm ein Hauptverdruß,
daß man ihm nicht erlaubt hatte, sich vorher zu rasiren. Daß es auch
ehemals nicht anders gewesen, ersehen wir aus dem, was *Mateo Aleman*,
in der, seinem beruhmten Romane, Guzman de Alfarache, vorgesetzten
Einleitung (_declaracion_) anfuhrt, daß namlich viele betorte
Verbrecher die letzten Stunden, welche sie ausschließlich ihrem
Seelenheile widmen sollten, diesem entziehn, um eine kleine Predigt,
die sie auf der Galgenleiter halten wollen, auszuarbeiten und zu
memoriren. -- An solchen Zugen jedoch konnen wir selbst uns spiegeln:
denn kolossale Falle geben uberall die deutlichste Erlauterung. Unser
aller Sorgen, Kummern, Wurmen, Argern, Angstigen, Anstrengen usw.
betrifft, in vielleicht den meisten Fallen, eigentlich die fremde
Meinung und ist eben so absurd, wie das jener armen Sunder. Nicht
weniger entspringt unser Neid und Haß großtenteils aus besagter
Wurzel.

Offenbar nun konnte zu unserem Glucke, als welches allergroßtenteils
auf Gemutsruhe und Zufriedenheit beruht, kaum irgend etwas so viel
beitragen, als die Einschrankung und Herabstimmung dieser Triebfeder
auf ihr vernunftig zu rechtfertigendes Maß, welches vielleicht ein
funfzigstel des gegenwartigen sein wird, also das Herausziehn dieses
immerfort peinigenden Stachels aus unserm Fleisch. Dies ist jedoch
sehr schwer: denn wir haben es mit einer naturlichen und angeborenen
Verkehrtheit zu tun. _Etiam sapientibus cupido gloriae novissima
exuitur_ sagt Tacitus (_hist. VI, 6_). Um jene allgemeine Torheit los
zu werden, ware das alleinige Mittel, sie deutlich als eine solche zu
erkennen und zu diesem Zwecke sich klar zu machen, wie ganz falsch,
verkehrt, irrig und absurd die meisten Meinungen in den Kopfen der
Menschen zu sein pflegen, daher sie, an sich selbst, keiner Beachtung
wert sind; sodann, wie wenig realen Einfluß auf uns die Meinung
anderer, in den meisten Dingen und Fallen, haben kann; ferner, wie
ungunstig uberhaupt sie meistenteils ist, so daß fast jeder sich krank
argern wurde, wenn er vernahme, was alles von ihm gesagt und in
welchem Tone von ihm geredet wird; endlich, daß sogar die Ehre selbst
doch eigentlich nur von mittelbarem und nicht von unmittelbarem Werte
ist u. dgl. m. Wenn eine solche Bekehrung von der allgemeinen Torheit
uns gelange; so wurde die Folge ein unglaublich großer Zuwachs an
Gemutsruhe und Heiterkeit und ebenfalls ein festeres und sichereres
Auftreten, ein durchweg unbefangeneres und naturlicheres Betragen
sein. Der so uberaus wohltatige Einfluß, den eine zuruckgezogene
Lebensweise auf unsere Gemutsruhe hat, beruht großtenteils darauf, daß
eine solche uns dem fortwahrenden Leben vor den Augen anderer,
folglich der steten Berucksichtigung ihrer etwanigen Meinung entzieht
und dadurch uns uns selber zuruckgibt. Imgleichen wurden wir sehr
vielem realen Ungluck entgehn, in welches nur jenes rein ideale
Streben, richtiger jene heillose Torheit, uns zieht, wurden auch viel
mehr Sorgfalt fur solide Guter ubrig behalten und dann auch diese
ungestorter genießen. Aber, wie gesagt, =chalepa ta kala=.

Die hier geschilderte Torheit unsrer Natur treibt hauptsachlich drei
Sproßlinge: Ehrgeiz, Eitelkeit und Stolz. Zwischen diesen zwei
letzteren beruht der Unterschied darauf, daß der *Stolz* die bereits
feststehende Uberzeugung vom eigenen uberwiegenden Werte, in
irgendeiner Hinsicht, ist; *Eitelkeit* hingegen der Wunsch, in andern
eine solche Uberzeugung zu erwecken, meistens begleitet von der
stillen Hoffnung, sie, in Folge davon, auch selbst zu der seinigen
machen zu konnen. Demnach ist Stolz die von *innen* ausgehende,
folglich direkte Hochschatzung seiner selbst; hingegen Eitelkeit das
Streben, solche von *außen* her, also indirekt zu erlangen.
Dementsprechend macht die Eitelkeit gesprachig, der Stolz schweigsam.
Aber der Eitle sollte wissen, daß die hohe Meinung anderer, nach der
er trachtet, sehr viel leichter und sicherer durch anhaltendes
Schweigen zu erlangen ist, als durch Sprechen, auch wenn einer die
schonsten Dinge zu sagen hatte. -- Stolz ist nicht wer will, sondern
hochstens kann wer will Stolz affektiren, wird aber aus dieser, wie
aus jeder angenommenen Rolle bald herausfallen. Denn nur die feste,
innere, unerschutterliche Uberzeugung von uberwiegenden Vorzugen und
besonderem Werte macht wirklich stolz. Diese Uberzeugung mag nun irrig
sein, oder auch auf bloß außerlichen und konventionellen Vorzugen
beruhen, -- das schadet dem Stolze nicht, wenn sie nur wirklich und
ernstlich vorhanden ist. Weil also der Stolz seine Wurzel in der
*Uberzeugung* hat, steht er, wie alle Erkenntnis, nicht in unserer
*Willkur*. Sein schlimmster Feind, ich meine sein großtes Hindernis,
ist die Eitelkeit, als welche um den Beifall anderer buhlt, um die
eigene hohe Meinung von sich erst darauf zu grunden, in welcher
bereits ganz fest zu sein die Voraussetzung des Stolzes ist.

So sehr nun auch durchgangig der Stolz getadelt und verschrien wird;
so vermute ich doch, daß dies hauptsachlich von solchen ausgegangen
ist, die nichts haben, darauf sie stolz sein konnten. Der
Unverschamtheit und Dummdreistigkeit der meisten Menschen gegenuber,
tut jeder, der irgend welche Vorzuge hat, ganz wohl, sie selbst im
Auge zu behalten, um nicht sie ganzlich in Vergessenheit geraten zu
lassen: denn wer, solche gutmutig ignorirend, mit jenen sich gerirt,
als ware er ganz ihresgleichen, den werden sie treuherzig sofort dafur
halten. Am meisten aber mochte ich solches denen anempfehlen, deren
Vorzuge von der hochsten Art, d. h. reale, und also rein personliche
sind, da diese nicht, wie Orden und Titel, jeden Augenblick durch
sinnliche Einwirkung in Erinnerung gebracht werden: denn sonst werden
sie oft genug das _sus Minervam_ exemplifizirt sehn. ≫Scherze mit dem
Sklaven; bald wird er dir den Hintern zeigen≪ -- ist ein
vortreffliches arabisches Sprichwort, und das Horazische _sume
superbiam, quaesitam meritis_ ist nicht zu verwerfen. Wohl aber ist
die Tugend der Bescheidenheit eine erkleckliche Erfindung fur die
Lumpe; da ihr gemaß jeder von sich zu reden hat, als ware auch er ein
solcher, welches herrlich nivellirt, indem es dann so herauskommt, als
gabe es uberhaupt nichts als Lumpe.

Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn
er verrat in dem damit Behafteten den Mangel an *individuellen*
Eigenschaften, auf die er stolz sein konnte, indem er sonst nicht zu
dem greifen wurde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer
bedeutende personliche Vorzuge besitzt, wird vielmehr die Fehler
seiner eigenen Nation, da er sie bestandig vor Augen hat, am
deutlichsten erkennen. Aber jeder erbarmliche Tropf, der nichts in der
Welt hat, darauf er stolz sein konnte, ergreift das letzte Mittel, auf
die Nation, der er gerade angehort, stolz zu sein: hieran erholt er
sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die
ihr eigen sind, =pyx kai lax= zu verteidigen. Daher wird man z. B.
unter funfzig Englandern kaum mehr als einen finden, welcher mit
einstimmt, wenn man von der stupiden und degradirenden Bigotterie
seiner Nation mit gebuhrender Verachtung spricht: der eine aber pflegt
ein Mann von Kopf zu sein. -- Die Deutschen sind frei von
Nationalstolz und legen hierdurch einen Beweis der ihnen nachgeruhmten
Ehrlichkeit ab; vom Gegenteil aber die unter ihnen, welche einen
solchen vorgeben und lacherlicher Weise affektiren; wie dies zumeist
die ≫deutschen Bruder≪ und Demokraten tun, die dem Volke schmeicheln,
um es zu verfuhren. Es heißt zwar, die Deutschen hatten das Pulver
erfunden: ich kann jedoch dieser Meinung nicht beitreten. Und
Lichtenberg fragt: ≫warum gibt sich nicht leicht jemand, der es nicht
ist, fur einen Deutschen aus, sondern gemeiniglich, wenn er sich fur
etwas ausgeben will, fur einen Franzosen oder Englander?≪ Ubrigens
uberwiegt die Individualitat bei weitem die Nationalitat, und in einem
gegebenen Menschen verdient jene tausendmal mehr Berucksichtigung als
diese. Dem Nationalcharakter wird, da er von der Menge redet, nie viel
Gutes ehrlicherweise nachzuruhmen sein. Vielmehr erscheint nur die
menschliche Beschranktheit, Verkehrtheit und Schlechtigkeit in jedem
Lande in einer andern Form und diese nennt man den Nationalcharakter.
Von *einem* derselben degoutirt loben wir den andern, bis es uns mit
ihm eben so ergangen ist. -- Jede Nation spottet uber die andere, und
alle haben recht.

Der Gegenstand dieses Kapitels, also was wir in der Welt *vorstellen*,
d. h. in den Augen anderer sind, laßt sich nun, wie schon oben
bemerkt, einteilen in *Ehre*, *Rang* und *Ruhm*.

Der *Rang*, so wichtig er in den Augen des großen Haufens und der
Philister, und so groß sein Nutzen im Getriebe der Staatsmaschine sein
mag, laßt sich, fur unsern Zweck, mit wenigen Worten abfertigen. Es
ist ein konventioneller, d. h. eigentlich ein simulirter Wert: seine
Wirkung ist eine simulirte Hochachtung, und das ganze eine Komodie fur
den großen Haufen. -- Orden sind Wechselbriefe, gezogen auf die
offentliche Meinung: ihr Wert beruht auf dem Kredit des Ausstellers.
Inzwischen sind sie, auch ganz abgesehn von dem vielen Gelde, welches
sie, als Substitut pekuniarer Belohnungen, dem Staat ersparen, eine
ganz zweckmaßige Einrichtung; vorausgesetzt, daß ihre Verteilung mit
Einsicht und Gerechtigkeit geschehe. Der große Haufe namlich hat Augen
und Ohren, aber nicht viel mehr, zumal blutwenig Urteilskraft und
selbst wenig Gedachtnis. Manche Verdienste liegen ganz außerhalb der
Sphare seines Verstandnisses, andere versteht und bejubelt er, bei
ihrem Eintritt, hat sie aber nachher bald vergessen. Da finde ich es
ganz passend, durch Kreuz oder Stern, der Menge jederzeit und uberall
zuzurufen: ≫der Mann ist nicht euresgleichen: er hat Verdienste!≪
Durch ungerechte, oder urteilslose, oder ubermaßige Verteilung
verlieren aber die Orden diesen Wert, daher ein Furst mit ihrer
Erteilung so vorsichtig sein sollte, wie ein Kaufmann mit dem
Unterschreiben der Wechsel. Die Inschrift _pour le merite_ auf einem
Kreuze ist ein Pleonasmus: jeder Orden sollte _pour le merite_ sein,
-- _ca va sans dire_. --

Viel schwerer und weitlaufiger, als die des Ranges, ist die Erorterung
der *Ehre*. Zuvorderst hatten wir sie zu definiren. Wenn ich nun in
dieser Absicht etwan sagte: die Ehre ist das außere Gewissen, und das
Gewissen die innere Ehre; -- so konnte dies vielleicht manchem
gefallen; wurde jedoch mehr eine glanzende, als eine deutliche und
grundliche Erklarung sein. Daher sage ich: die Ehre ist, objektiv, die
Meinung anderer von unserm Wert, und subjektiv, unsere Furcht vor
dieser Meinung. In letzterer Eigenschaft hat sie oft eine sehr
heilsame, wenn auch keineswegs rein moralische Wirkung, -- im Mann von
Ehre.

Die Wurzel und der Ursprung des jedem, nicht ganz verdorbenen Menschen
einwohnenden Gefuhls fur Ehre und Schande, wie auch des hohen Wertes,
welcher ersterer zuerkannt wird, liegt in Folgendem. Der Mensch fur
sich allein vermag gar wenig und ist ein verlassener Robinson: nur in
der Gemeinschaft mit den andern ist und vermag er viel. Dieses
Verhaltnisses wird er inne, sobald sein Bewußtsein sich irgend zu
entwickeln anfangt, und alsbald entsteht in ihm das Bestreben, fur ein
taugliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu gelten, also fur
eines, das fahig ist, _pro parte virili_ mitzuwirken, und dadurch
berechtigt, der Vorteile der menschlichen Gemeinschaft teilhaft zu
werden. Ein solches nun ist er dadurch, daß er, erstlich, das leistet,
was man von jedem uberall, und sodann das, was man von ihm in der
besonderen Stelle, die er eingenommen hat, fordert und erwartet. Eben
so bald aber erkennt er, daß es hierbei nicht darauf ankommt, daß er
es in seiner eigenen, sondern daß er es in der Meinung der anderen
sei. Hieraus entspringt demnach sein eifriges Streben nach der
gunstigen *Meinung* anderer und der hohe Wert, den er auf diese legt:
beides zeigt sich mit der Ursprunglichkeit eines angeborenen Gefuhls,
welches man Ehrgefuhl und, nach Umstanden, Gefuhl der Scham
(_verecundia_) nennt. Dieses ist es, was seine Wangen rotet, sobald er
glaubt, plotzlich in der Meinung anderer verlieren zu mussen, selbst
wo er sich unschuldig weiß; sogar da, wo der sich aufdeckende Mangel
eine nur relative, namlich willkurlich ubernommene Verpflichtung
betrifft: und andrerseits starkt nichts seinen Lebensmut mehr, als die
erlangte, oder erneuerte Gewißheit von der gunstigen Meinung anderer;
weil sie ihm den Schutz und die Hilfe der vereinten Krafte aller
verspricht, welche eine unendlich großere Wehrmauer gegen die Ubel des
Lebens sind, als seine eigenen.

Aus den verschiedenen Beziehungen, in denen der Mensch zu andern
stehen kann und in Hinsicht auf welche sie Zutrauen zu ihm, also eine
gewisse gute Meinung von ihm, zu hegen haben, entstehen mehrere *Arten
der Ehre*. Diese Beziehungen sind hauptsachlich das Mein und Dein,
sodann die Leistungen der Anheischigen, endlich das Sexualverhaltnis:
ihnen entsprechen die burgerliche Ehre, die Amtsehre und die
Sexualehre, jede von welchen noch wieder Unterarten hat.

Die weiteste Sphare hat die *burgerliche Ehre*: sie besteht in der
Voraussetzung, daß wir die Rechte eines jeden unbedingt achten und
daher uns nie ungerechter, oder gesetzlich unerlaubter Mittel zu
unserm Vorteile bedienen werden. Sie ist die Bedingung zur Teilnahme
an allem friedlichen Verkehr. Sie geht verloren durch eine einzige
offenbar und stark dawider laufende Handlung, folglich auch durch jede
Kriminalstrafe; wiewohl nur unter Voraussetzung der Gerechtigkeit
derselben. Immer aber beruht die Ehre, in ihrem letzten Grunde, auf
der Uberzeugung von der Unveranderlichkeit des moralischen Charakters,
vermoge welcher eine einzige schlechte Handlung die gleiche moralische
Beschaffenheit aller folgenden, sobald ahnliche Umstande eintreten
werden, verburgt: dies bezeugt auch der englische Ausdruck _character_
fur Ruf, Reputation, Ehre. Deshalb eben ist die verlorene Ehre nicht
wieder herzustellen; es sei denn, daß der Verlust auf Tauschung, wie
Verlaumdung, oder falschem Schein, beruht hatte. Demgemaß gibt es
Gesetze gegen Verlaumdung, Pasquille, auch Injurien; denn die Injurie,
das bloße Schimpfen, ist eine summarische Verlaumdung, ohne Angabe der
Grunde: dies ließe sich Griechisch gut ausdrucken: =esti he loidoria
diabole syntomos=, -- welches jedoch nirgends vorkommt. Freilich legt
der, welcher schimpft, dadurch an den Tag, daß er nichts Wirkliches
und Wahres gegen den andern vorzubringen hat; da er sonst dieses als
die Pramissen geben und die Konklusion getrost den Horern uberlassen
wurde; statt dessen er die Konklusion gibt und die Pramissen schuldig
bleibt: allein er verlaßt sich auf die Prasumtion, daß dies nur
beliebter Kurze halber geschehe. -- Die burgerliche Ehre hat zwar
ihren Namen vom Burgerstande; allein ihre Geltung erstreckt sich uber
alle Stande, ohne Unterschied, sogar die allerhochsten nicht
ausgenommen: kein Mensch kann ihrer entraten und ist es mit ihr eine
ganz ernsthafte Sache, die jeder sich huten soll leicht zu nehmen. Wer
Treu und Glauben bricht, hat Treu und Glauben verloren, auf immer, was
er auch tun und wer er auch sein mag; die bittern Fruchte, welche
dieser Verlust mit sich bringt, werden nicht ausbleiben.

Die *Ehre* hat, in gewissem Sinne, einen *negativen* Charakter,
namlich im Gegensatz des Ruhmes, der einen *positiven* Charakter hat.
Denn die Ehre ist nicht die Meinung von besonderen, diesem Subjekt
allein zukommenden Eigenschaften, sondern nur von den, der Regel nach,
vorauszusetzenden, als welche auch ihm nicht abgehen sollen. Sie
besagt daher nur, daß dies Subjekt keine Ausnahme mache; wahrend der
Ruhm besagt, daß er eine mache. Ruhm muß daher erst erworben werden:
die Ehre hingegen braucht bloß nicht verloren zu gehn. Dem
entsprechend ist Ermangelung des Ruhmes Obskuritat, ein Negatives;
Ermangelung der Ehre ist Schande, ein Positives. -- Diese Negativitat
darf aber nicht mit Passivitat verwechselt werden: vielmehr hat die
Ehre einen ganz aktiven Charakter. Sie geht namlich allein von dem
*Subjekt* derselben aus, beruht auf *seinem* Tun und Lassen, nicht aber
auf dem, was andere tun und was ihm widerfahrt: sie ist also =ton eph'
hemin=. Dies ist, wie wir bald sehn werden, ein Unterscheidungsmerkmal
der wahren Ehre von der ritterlichen, oder Afterehre. Bloß durch
Verlaumdung ist ein Angriff von außen auf die Ehre moglich: das
einzige Gegenmittel ist Widerlegung derselben, mit ihr angemessener
Offentlichkeit und Entlarvung des Verlaumders.

Die Achtung vor dem Alter scheint darauf zu beruhen, daß die Ehre
junger Leute zwar als Voraussetzung angenommen, aber noch nicht
erprobt ist, daher eigentlich auf Kredit besteht. Bei den Alteren aber
hat es sich im Laufe des Lebens ausweisen mussen, ob sie, durch ihren
Wandel, ihre Ehre behaupten konnten. Denn weder die Jahre an sich, als
welche auch Tiere, und einige in viel hoherer Zahl, erreichen, noch
auch die Erfahrung, als bloße, nahere Kenntnis vom Laufe der Welt,
sind hinreichender Grund fur die Achtung der Jungeren gegen die
Alteren, welche doch uberall gefordert wird: die bloße Schwache des
hoheren Alters wurde mehr auf Schonung als auf Achtung Anspruch geben.
Merkwurdig aber ist es, daß dem Menschen ein gewisser Respekt vor
weißen Haaren angeboren und daher wirklich instinktiv ist. Runzeln,
ein ungleich sichereres Kennzeichen des Alters, erregen diesen Respekt
keineswegs: nie wird von ehrwurdigen Runzeln, aber stets vom
ehrwurdigen weißen Haare geredet.

Der Wert der Ehre ist nur ein mittelbarer. Denn, wie bereits am
Eingang dieses Kapitels auseinander gesetzt ist, die Meinung anderer
von uns kann nur insofern Wert fur uns haben, als sie ihr Handeln
gegen uns bestimmt, oder gelegentlich bestimmen kann. Dies ist jedoch
der Fall, so lange wir mit oder unter Menschen leben. Denn, da wir, im
zivilisirten Zustande, Sicherheit und Besitz nur der Gesellschaft
verdanken, auch der anderen, bei allen Unternehmungen, bedurfen und
sie Zutrauen zu uns haben mussen, um sich mit uns einzulassen; so ist
ihre Meinung von uns von hohem, wiewohl immer nur mittelbarem Werte
fur uns; einen unmittelbaren kann ich ihr nicht zuerkennen. In
Ubereinstimmung hiemit sagt auch *Cicero*: _de bona autem fama
Chrysippus quidem et Diogenes, detracta utilitate, ne digitum quidem,
ejus causa, porrigendum esse dicebant. Quibus ego vehementer
assentior._ (_fin. III, 17._) Imgleichen gibt eine weitlaufige
Auseinandersetzung dieser Wahrheit *Helvetius*, in seinem
Meisterwerke, _de l'esprit_ (_Disc. III, ch. 13_), deren Resultat ist:
_nous n'aimons pas l'estime pour l'estime, mais uniquement pour les
avantages qu'elle procure_. Da nun das Mittel nicht mehr wert sein
kann als der Zweck; so ist der Paradespruch ≫die Ehre geht uber das
Leben,≪ wie gesagt, eine Hyperbel.

Soviel von der burgerlichen Ehre. Die *Amtsehre* ist die allgemeine
Meinung anderer, daß ein Mann, der ein Amt versieht, alle dazu
erforderlichen Eigenschaften wirklich habe und auch in allen Fallen
seine amtlichen Obliegenheiten punktlich erfulle. Je wichtiger und
großer der Wirkungskreis eines Mannes im Staate ist, also je hoher und
einflußreicher der Posten, auf dem er steht, desto großer muß die
Meinung von den intellektuellen Fahigkeiten und moralischen
Eigenschaften sein, die ihn dazu tauglich machen: mithin hat er einen
um so hohern Grad von Ehre, deren Ausdruck seine Titel, Orden usw.
sind, wie auch das sich unterordnende Betragen anderer gegen ihn. Nach
dem selben Maßstabe bestimmt nun durchgangig der Stand den besonderen
Grad der Ehre, wiewohl dieser modifizirt wird durch die Fahigkeit der
Menge uber die Wichtigkeit des Standes zu urteilen. Immer aber erkennt
man dem, der besondere Obliegenheiten hat und erfullt, mehr Ehre zu,
als dem gemeinen Burger, dessen Ehre hauptsachlich auf negativen
Eigenschaften beruht.

Die Amtsehre erfordert ferner, daß wer ein Amt versieht, das Amt
selbst, seiner Kollegen und Nachfolger wegen, im Respekt erhalte, eben
durch jene punktliche Erfullung seiner Pflichten und auch dadurch, daß
er Angriffe auf das Amt selbst und auf sich, soferne er es versieht,
d. h. Außerungen, daß er das Amt nicht punktlich versehe, oder daß das
Amt selbst nicht zum allgemeinen Besten gereiche, nicht ungeahndet
lasse, sondern durch die gesetzliche Strafe beweise, daß jene Angriffe
ungerecht waren.

Unterordnungen der Amtsehre sind die des Staatsdieners, des Arztes,
des Advokaten, jedes offentlichen Lehrers, ja jedes Graduirten, kurz
eines jeden, der durch offentliche Erklarung fur eine gewisse Leistung
geistiger Art qualifizirt erklart worden ist und sich eben deshalb
selbst dazu anheischig gemacht hat; also mit einem Wort die Ehre aller
offentlich Anheischigen als solcher. Daher gehort auch hieher die
wahre *Soldatenehre*: sie besteht darin, daß wer sich zur Verteidigung
des gemeinsamen Vaterlandes anheischig gemacht hat, die dazu notigen
Eigenschaften, also vor allem Mut, Tapferkeit und Kraft wirklich
besitze und ernstlich bereit sei, sein Vaterland bis in den Tod zu
verteidigen und uberhaupt die Fahne, zu der er einmal geschworen, um
nichts auf der Welt zu verlassen. -- Ich habe hier die *Amtsehre* in
einem weiteren Sinne genommen, als gewohnlich, wo sie den dem Amt
selbst gebuhrenden Respekt der Burger bedeutet.

Die *Sexualehre* scheint mir einer naheren Betrachtung und
Zuruckfuhrung ihrer Grundsatze auf die Wurzel derselben zu bedurfen,
welche zugleich bestatigen wird, daß alle Ehre zuletzt auf
Nutzlichkeitsrucksichten beruht. Die Sexualehre zerfallt, ihrer Natur
nach, in Weiber- und Mannerehre, und ist von beiden Seiten ein
wohlverstandener _esprit de corps_. Die erstere ist bei weitem die
wichtigste von beiden: weil im weiblichen Leben das Sexualverhaltnis
die Hauptsache ist. -- Die *weibliche Ehre* also ist die allgemeine
Meinung von einem Madchen, daß sie sich gar keinem Manne, und von
einer Frau, daß sie sich nur dem ihr angetrauten hingegeben habe. Die
Wichtigkeit dieser Meinung beruht auf Folgendem. Das weibliche
Geschlecht verlangt und erwartet vom mannlichen alles, namlich alles,
was es wunscht und braucht: das mannliche verlangt vom weiblichen
zunachst und unmittelbar nur eines. Daher mußte die Einrichtung
getroffen werden, daß das mannliche Geschlecht vom weiblichen jenes
eine nur erlangen kann gegen Ubernahme der Sorge fur alles und zudem
fur die aus der Verbindung entspringenden Kinder: auf dieser
Einrichtung beruht die Wohlfahrt des ganzen weiblichen Geschlechts. Um
sie durchzusetzen, muß notwendig das weibliche Geschlecht
zusammenhalten und _esprit de corps_ beweisen. Dann aber steht es als
ein Ganzes und in geschlossener Reihe dem gesamten mannlichen
Geschlechte, welches durch das Ubergewicht seiner Korper- und
Geisteskrafte von Natur im Besitz aller irdischen Guter ist, als dem
gemeinschaftlichen Feinde gegenuber, der besiegt und erobert werden
muß, um, mittelst seines Besitzes, in den Besitz der irdischen Guter
zu gelangen. Zu diesem Ende nun ist die Ehrenmaxime des ganzen
weiblichen Geschlechts, daß dem mannlichen jeder uneheliche Beischlaf
durchaus versagt bleibe; damit jeder einzelne zur Ehe, als welche eine
Art von Kapitulation ist, gezwungen und dadurch das ganze weibliche
Geschlecht versorgt werde. Dieser Zweck kann aber nur vermittelst
strenger Beobachtung der obigen Maxime vollkommen erreicht werden:
daher wacht das ganze weibliche Geschlecht, mit wahrem _esprit de
corps_, uber die Aufrechterhaltung derselben unter allen seinen
Mitgliedern. Demgemaß wird jedes Madchen, welches durch unehelichen
Beischlaf einen Verrat gegen das ganze weibliche Geschlecht begangen
hat, weil dessen Wohlfahrt durch das Allgemeinwerden dieser
Handlungsweise untergraben werden wurde, von demselben ausgestoßen und
mit Schande belegt: es hat seine Ehre verloren. Kein Weib darf mehr
mit ihm umgehen: es wird, gleich einer Verpesteten, gemieden. Das
gleiche Schicksal trifft die Ehebrecherin; weil diese dem Manne die
von ihm eingegangene Kapitulation nicht gehalten hat, durch solches
Beispiel aber die Manner vom Eingehen derselben abgeschreckt werden;
wahrend auf ihr das Heil des ganzen weiblichen Geschlechts beruht.
Aber noch uberdies verliert die Ehebrecherin, wegen der groben
Wortbruchigkeit und des Betruges in ihrer Tat, mit der Sexualehre
zugleich die burgerliche. Daher sagt man wohl, mit einem
entschuldigenden Ausdruck, ≫ein gefallenes Madchen≪, aber nicht ≫eine
gefallene Frau≪, und der Verfuhrer kann jene, durch die Ehe, wieder
ehrlich machen; nicht so der Ehebrecher diese, nachdem sie geschieden
worden. -- Wenn man nun, infolge dieser klaren Einsicht, einen zwar
heilsamen, ja notwendigen, aber wohlberechneten und auf Interesse
gestutzten _esprit de corps_ als die Grundlage des Prinzips der
weiblichen Ehre erkennt; so wird man dieser zwar die großte
Wichtigkeit fur das weibliche Dasein und daher einen großen relativen,
jedoch keinen absoluten, uber das Leben und seine Zwecke
hinausliegenden und demnach mit diesem selbst zu erkaufenden Wert
beilegen konnen. Demnach nun wird man den uberspannten, zu tragischen
Farcen ausartenden Taten der Lukretia und des Virginius keinen Beifall
schenken konnen. Daher eben hat der Schluß der Emilia Galotti etwas so
Emporendes, daß man das Schauspielhaus in volliger Verstimmung
verlaßt. Hingegen kann man nicht umhin, der Sexualehre zum Trotz, mit
dem Klarchen des Egmont zu sympathisiren. Jenes auf die Spitze Treiben
des weiblichen Ehrenprinzips gehort, wie so manches, zum Vergessen des
Zwecks uber die Mittel: denn die Sexualehre wird, durch solche
Uberspannung, ein absoluter Wert angedichtet; wahrend sie, noch mehr
als alle andere Ehre, einen bloß relativen hat; ja, man mochte sagen,
einen bloß konventionellen, wenn man aus dem _Thomasius de
concubinatu_ ersieht, wie in fast allen Landern und Zeiten, bis zur
Lutherischen Reformation, das Konkubinat ein gesetzlich erlaubtes und
anerkanntes Verhaltnis gewesen ist, bei welchem die Konkubine ehrlich
blieb; der Mylitta zu Babylon (Herodot I, 199) usw. gar nicht zu
gedenken. Auch gibt es allerdings burgerliche Verhaltnisse, welche die
außere Form der Ehe unmoglich machen, besonders in katholischen
Landern, wo keine Scheidung stattfindet; uberall aber fur regierende
Herren, als welche, meiner Meinung nach, viel moralischer handeln,
wenn sie eine Matresse halten, als wenn sie eine morganatische Ehe
eingehen, deren Deszendenz, beim etwanigen Aussterben der legitimen,
einst Anspruche erheben konnte; weshalb, sei es auch noch so entfernt,
durch solche Ehe die Moglichkeit eines Burgerkrieges herbeigefuhrt
wird. Uberdies ist eine solche morganatische, d. h. eigentlich allen
außern Verhaltnissen zum Trotz geschlossene Ehe, im letzten Grunde,
eine den Weibern und den Pfaffen gemachte Konzession, zweien Klassen,
denen man etwas einzuraumen sich moglichst huten sollte. Ferner ist zu
erwagen, daß jeder im Lande das Weib seiner Wahl ehelichen kann, bis
auf einen, dem dieses naturliche Recht benommen ist: dieser arme Mann
ist der Furst. Seine Hand gehort dem Lande und wird nach der
Staatsraison, d. h. dem Wohl des Landes gemaß, vergeben. Nun aber ist
er doch ein Mensch und will auch einmal dem Hange seines Herzens
folgen. Daher ist es so ungerecht und undankbar, wie es
spießburgerlich ist, dem Fursten das Halten einer Matresse verwehren,
oder vorwerfen zu wollen; versteht sich, so lange ihr kein Einfluß auf
die Regierung gestattet wird. Auch ihrerseits ist eine solche
Matresse, hinsichtlich der Sexualehre, gewissermaßen eine
Ausnahmsperson, eine Eximirte von der allgemeinen Regel: denn sie hat
sich bloß einem Manne ergeben, der sie und den sie lieben, aber
nimmermehr heiraten konnte. -- Uberhaupt aber zeugen von dem nicht
rein naturlichen Ursprunge des weiblichen Ehrenprinzips die vielen
blutigen Opfer, welche demselben gebracht werden, -- im Kindermorde
und Selbstmorde der Mutter. Allerdings begeht ein Madchen, die sich
ungesetzlich preisgibt, dadurch einen Treuebruch gegen ihr ganzes
Geschlecht: jedoch ist diese Treue nur stillschweigend angenommen und
nicht beschworen. Und da, im gewohnlichen Fall, ihr eigener Vorteil am
unmittelbarsten darunter leidet, so ist ihre Torheit dabei unendlich
großer als ihre Schlechtigkeit.

Die Geschlechtsehre der Manner wird durch die der Weiber
hervorgerufen, als der entgegengesetzte _esprit de corps_, welcher
verlangt, daß jeder, der die dem Gegenpart so sehr gunstige
Kapitulation, die Ehe, eingegangen ist, jetzt daruber wache, daß sie
ihm gehalten werde; damit nicht selbst dieses Paktum, durch das
Einreißen einer laxen Observanz desselben, seine Festigkeit verliere
und die Manner, indem sie alles hingeben, nicht einmal des einen
versichert seien, was sie dafur erhandeln, des Alleinbesitzes des
Weibes. Demgemaß fordert die Ehre des Mannes, daß er den Ehebruch
seiner Frau ahnde und, wenigstens durch Trennung von ihr, strafe.
Duldet er ihn wissentlich, so wird er von der Mannergemeinschaft mit
Schande belegt: jedoch ist diese lange nicht so durchgreifend, wie die
durch den Verlust der Geschlechtsehre das Weib treffende, vielmehr nur
eine _levioris notae macula_; weil beim Manne die Geschlechtsbeziehung
eine untergeordnete ist, indem er in noch vielen anderen und
wichtigeren steht. Die zwei großen dramatischen Dichter der neueren
Zeit haben, jeder zweimal, diese Mannerehre zu ihrem Thema genommen:
Shakespeare, im Othello und im Wintermarchen, und Calderon, in _el
medico de su honra_ (der Arzt seiner Ehre) und _a secreto agravio
secreta venganza_ (fur geheime Schmach geheime Rache). Ubrigens
fordert diese Ehre nur die Bestrafung des Weibes, nicht die ihres
Buhlen; welche bloß ein _opus supererogationis_ ist: hiedurch bestatigt
sich der angegebene Ursprung derselben aus dem _esprit de corps_ der
Manner. --

Die Ehre, wie ich sie bis hieher, in ihren Gattungen und Grundsatzen,
betrachtet habe, findet sich bei allen Volkern und zu allen Zeiten als
allgemein geltend; wenn gleich der Weiberehre sich einige lokale und
temporare Modifikationen ihre Grundsatze nachweisen lassen. Hingegen
gibt es noch eine, von jener allgemein und uberall gultigen ganzlich
verschiedene Gattung der Ehre, von welcher weder Griechen noch Romer
einen Begriff hatten, so wenig wie Chinesen, Hindu und Mohammedaner,
bis auf den heutigen Tag, irgend etwas von ihr wissen. Denn sie ist
erst im Mittelalter entstanden und bloß im christlichen Europa
einheimisch geworden, ja, selbst hier nur unter einer außerst kleinen
Fraktion der Bevolkerung, namlich unter den hoheren Standen der
Gesellschaft und was ihnen nacheifert. Es ist die *ritterliche Ehre*,
oder das _point d'honneur_. Da ihre Grundsatze von denen der bis
hieher erorterten Ehre ganzlich verschieden, sogar diesen zum Teil
entgegengesetzt sind, indem jene erstere den *Ehrenmann*, diese
hingegen den *Mann von Ehre* macht; so will ich ihre Prinzipien hier
besonders ausstellen, als einen Kodex, oder Spiegel der ritterlichen
Ehre.

1. Die Ehre besteht *nicht* in der Meinung anderer von unserm Wert,
sondern ganz allein in den *Außerungen* einer solchen Meinung;
gleichviel ob die geaußerte Meinung wirklich vorhanden sei oder nicht;
geschweige, ob sie Grund habe. Demnach mogen andere, in Folge unsers
Lebenswandels, eine noch so schlechte Meinung von uns hegen, uns noch
so sehr verachten; solange nur keiner sich untersteht, solches laut zu
außern, schadet es der Ehre durchaus nicht. Umgekehrt aber, wenn wir
auch durch unsere Eigenschaften und Handlungen alle andern zwingen,
uns sehr hoch zu achten (denn das hangt nicht von ihrer Willkur ab);
so darf dennoch nur irgend einer, -- und ware es der Schlechteste und
Dummste --, seine Geringschatzung uber uns aussprechen, und alsbald
ist unsere Ehre verletzt, ja, sie ist auf immer verloren; wenn sie
nicht wieder hergestellt wird. -- Ein uberflussiger Beleg dazu, daß es
keineswegs auf die *Meinung* anderer, sondern allein auf die
*Außerung* einer solchen ankomme, ist der, daß Verunglimpfungen
*zuruckgenommen*, notigenfalls abgebeten werden konnen, wodurch es
dann ist, als waren sie nie geschehn: ob dabei die Meinung, aus der
sie entsprungen, sich ebenfalls geandert habe und weshalb dies
geschehn sein sollte, tut nichts zur Sache: nur die Außerung wird
annullirt, und dann ist alles gut. Hier ist es demnach nicht darauf
abgesehn, Respekt zu verdienen, sondern ihn zu ertrotzen.

2. Die Ehre eines Mannes beruht nicht auf dem, was er *tut*, sondern
auf dem, was er *leidet*, was ihm widerfahrt. Wenn, nach den
Grundsatzen der zuerst erorterten, allgemein geltenden Ehre, diese
allein abhangt von dem, was *er selbst* sagt oder tut; so hangt
hingegen die ritterliche Ehre ab von dem, was irgend ein anderer sagt
oder tut. Sie liegt sonach in der Hand, ja, hangt an der Zungenspitze
eines jeden, und kann, wenn dieser zugreift, jeden Augenblick auf
immer verloren gehn, falls nicht der Betroffene, durch einen bald zu
erwahnenden Herstellungsprozeß, sie wieder an sich reißt, welches
jedoch nur mit Gefahr seines Lebens, seiner Gesundheit, seiner
Freiheit, seines Eigentums und seiner Gemutsruhe geschehn kann. Diesem
zufolge mag das Tun und Lassen eines Mannes das rechtschaffenste und
edelste, sein Gemut das reinste und sein Kopf der eminenteste sein; so
kann dennoch seine Ehre jeden Augenblick verloren gehn, sobald es
namlich irgend einem, -- der nur noch nicht diese Ehrengesetze
verletzt hat, ubrigens aber der nichtswurdigste Lump, das stupideste
Vieh, ein Tagedieb, Spieler, Schuldenmacher, kurz, ein Mensch, der
nicht wert ist, daß jener ihn ansieht, sein kann, -- beliebt, ihn zu
*schimpfen*. Sogar wird es meistenteils gerade ein Subjekt solcher Art
sein, dem dies beliebt; weil eben, wie *Seneka* richtig bemerkt, _ut
quisque contemtissimus et ludibrio est, ita solutissimae linguae est_
(_de constantia, 11_): auch wird ein solcher gerade gegen einen, wie
der zuerst Geschilderte, am leichtesten aufgereizt werden; weil die
Gegensatze sich hassen und weil der Anblick uberwiegender Vorzuge die
stille Wut der Nichtswurdigkeit zu erzeugen pflegt; daher eben Goethe
sagt:

    Was klagst du uber Feinde?
    Sollten solche je werden Freunde,
    Denen das Wesen, wie du bist,
    Im Stillen ein ewiger Vorwurf ist?

    *W. O. Divan.*

Man sieht, wie sehr viel gerade die Leute der zuletzt geschilderten
Art dem Ehrenprinzip zu danken haben; da es sie mit denen nivellirt,
welche ihnen sonst in jeder Beziehung unerreichbar waren. -- Hat nun
ein solcher geschimpft, d. h. dem andern eine schlechte Eigenschaft
zugesprochen; so gilt dies, vor der Hand, als ein objektiv wahres und
gegrundetes Urteil, ein rechtskraftiges Dekret, ja, es bleibt fur alle
Zukunft wahr und gultig, wenn es nicht alsbald mit Blut ausgeloscht
wird: d. h. der Geschimpfte bleibt (in den Augen aller ≫Leute von
Ehre≪) das, was der Schimpfer (und ware dieser der letzte aller
Erdensohne) ihn genannt hat: denn er hat es (dies ist der _terminus
technicus_) ≫auf sich sitzen lassen.≪ Demgemaß werden die ≫Leute von
Ehre≪ ihn jetzt durchaus verachten, ihn wie einen Verpesteten fliehen,
z. B. sich laut und offentlich weigern, in eine Gesellschaft zu gehn,
wo er Zutritt hat usw. -- Den Ursprung dieser weisen Grundansicht
glaube ich mit Sicherheit darauf zuruckfuhren zu konnen, daß (nach C.
G. von Wachters ≫Beitrage zur deutschen Geschichte, besonders des
deutschen Strafrechts≪ 1845) im Mittelalter, bis ins 15. Jahrhundert,
bei Kriminalprozessen nicht der Anklager die Schuld, sondern der
Angeklagte seine Unschuld zu beweisen hatte. Dies konnte geschehen
durch einen Reinigungseid, zu welchem er jedoch noch der Eideshelfer
(_consacramentales_) bedurfte, welche beschworen, sie seien uberzeugt,
daß er keines Meineides fahig sei. Hatte er diese nicht, oder ließ der
Anklager sie nicht gelten; so trat Gottesurteil ein, und dieses
bestand gewohnlich im Zweikampf. Denn der Angeklagte war jetzt ein
≫Bescholtener≪ und hatte sich zu reinigen. Wir sehn hier den Ursprung
des Begriffs des Bescholtenseins und des ganzen Hergangs der Dinge,
wie er noch heute unter den ≫Leuten von Ehre≪ stattfindet, nur mit
Weglassung des Eides. Eben hier ergibt sich auch die Erklarung der
obligaten, hohen Indignation, mit welcher ≫Leute von Ehre≪ den Vorwurf
der Luge empfangen und blutige Rache dafur fordern, welches, bei der
Alltaglichkeit der Lugen, sehr seltsam erscheint, aber besonders in
England zum tiefwurzelnden Aberglauben erwachsen ist. (Wirklich mußte
jeder, der den Vorwurf der Luge mit dem Tode zu strafen droht, in
seinem Leben nicht gelogen haben.) Namlich in jenen Kriminalprozessen
des Mittelalters war die kurzere Form, daß der Angeklagte dem Anklager
erwiderte: ≫das lugst du;≪ worauf dann sofort auf Gottesurteil erkannt
wurde: daher also schreibt es sich, daß, nach dem ritterlichen
Ehrenkodex, auf den Vorwurf der Luge sogleich die Appellation an die
Waffen erfolgen muß. -- So viel, was das Schimpfen betrifft. Nun aber
gibt es sogar noch etwas Argeres als Schimpfen, etwas so
Erschreckliches, daß ich wegen dessen bloßer Erwahnung in diesem Kodex
der ritterlichen Ehre, die ≫Leute von Ehre≪ um Verzeihung zu bitten
habe, da ich weiß, daß beim bloßen Gedanken daran ihnen die Haut
schaudert und ihr Haar sich emporstraubt, indem es das _summum malum_,
der Ubel großtes auf der Welt, und arger als Tod und Verdammnis ist.
Es kann namlich, _horribile dictu_, einer dem andern einen Klaps oder
Schlag versetzen. Dies ist eine entsetzliche Begebenheit und fuhrt
einen so kompleten Ehrentod herbei, daß, wenn alle andern Verletzungen
der Ehre schon durch Blutlassen zu heilen sind, diese zu ihrer
grundlichen Heilung einen kompleten Totschlag erfordert.

3. Die Ehre hat mit dem, was der Mensch an und fur sich sein mag, oder
mit der Frage, ob seine moralische Beschaffenheit sich jemals andern
konne, und allen solchen Schulfuchsereien, ganz und gar nichts zu tun;
sondern wann sie verletzt, oder vor der Hand verloren ist, kann sie,
wenn man nur schleunig dazutut, recht bald und vollkommen wieder
hergestellt werden, durch ein einziges Universalmittel, das Duell. Ist
jedoch der Verletzer nicht aus den Standen, die sich zum Kodex der
ritterlichen Ehre bekennen, oder hat derselbe diesem schon ein Mal
zuwider gehandelt; so kann man, zumal wenn die Ehrenverletzung eine
tatliche, aber auch, wenn sie eine bloß wortliche gewesen sein sollte,
eine sichere Operation vornehmen, indem man, wenn man bewaffnet ist,
ihn auf der Stelle, allenfalls auch noch eine Stunde nachher,
niedersticht, wodurch dann die Ehre wieder heil ist. Außerdem aber,
oder wenn man, aus Besorgnis vor daraus entstehenden Unannehmlichkeiten,
diesen Schritt vermeiden mochte, oder wenn man bloß ungewiß ist, ob
der Beleidiger sich den Gesetzen der ritterlichen Ehre unterwerfe,
oder nicht, hat man ein Palliativmittel, an der ≫Avantage.≪ Diese
besteht darin, daß, wenn er grob gewesen ist, man noch merklich grober
sei: geht dies mit Schimpfen nicht mehr an, so schlagt man drein, und
zwar ist auch hier ein Klimax der Ehrenrettung: Ohrfeigen werden durch
Stockschlage kurirt, diese durch Hetzpeitschenhiebe: selbst gegen
letztere wird von einigen das Anspucken als probat empfohlen. Nur wenn
man mit diesen Mitteln nicht mehr zur Zeit kommt, muß durchaus zu
blutigen Operationen geschritten werden. Diese Palliativmethode hat
ihren Grund eigentlich in der folgenden Maxime.

4. Wie Geschimpftwerden eine Schande, so ist Schimpfen eine Ehre. Z.
B. auf der Seite meines Gegners sei Wahrheit, Recht und Vernunft; ich
aber schimpfe; so mussen diese alle einpacken, und Recht und Ehre ist
auf meiner Seite: er hingegen hat vorlaufig seine Ehre verloren, --
bis er sie herstellt, nicht etwan durch Recht und Vernunft, sondern
durch Schießen und Stechen. Demnach ist die Grobheit eine Eigenschaft,
welche, im Punkte der Ehre, jede andere ersetzt oder uberwiegt: der
Grobste hat allemal Recht: _quid multa?_ Welche Dummheit,
Ungezogenheit, Schlechtigkeit einer auch begangen haben mag; -- durch
eine Grobheit wird sie als solche ausgeloscht und sofort legitimiert.
Zeigt etwan in einer Diskussion, oder sonst im Gesprach ein anderer
richtigere Sachkenntnis, strengere Wahrheitsliebe, gesunderes Urteil,
mehr Verstand als wir, oder uberhaupt, laßt er geistige Vorzuge
blicken, die uns in Schatten stellen; so konnen wir alle dergleichen
Uberlegenheiten und unsere eigene durch sie aufgedeckte Durftigkeit
sogleich aufheben und nun umgekehrt selbst uberlegen sein, indem wir
beleidigend und grob werden. Denn eine Grobheit besiegt jedes Argument
und eklipzirt allen Geist: wenn daher nicht etwan der Gegner sich
darauf einlaßt und sie mit einer großeren erwidert, wodurch wir in den
edlen Wettkampf der Avantage geraten; so bleiben wir Sieger und die
Ehre ist auf unserer Seite: Wahrheit, Kenntnis, Verstand, Geist, Witz
mussen einpacken und sind aus dem Felde geschlagen von der gottlichen
Grobheit. Daher werden ≫Leute von Ehre≪, sobald jemand eine Meinung
außert, die von der ihrigen abweicht, oder auch nur mehr Verstand
zeigt, als sie ins Feld stellen konnen, sogleich Miene machen, jenes
Kampfroß zu besteigen; und wenn etwan, in einer Kontroverse, es ihnen
an einem Gegenargument fehlt, so suchen sie nach einer Grobheit, als
welche ja denselben Dienst leistet und leichter zu finden ist: darauf
gehn sie siegreich von dannen. Man sieht schon hier, wie sehr mit
Recht dem Ehrenprinzip die Veredelung des Tones in der Gesellschaft
nachgeruhmt wird. -- Diese Maxime beruht nun wieder auf der folgenden,
welche die eigentliche Grundmaxime und die Seele des ganzen Kodex ist.

5. Der oberste Richterstuhl des Rechts, an den man, in allen
Differenzen, von jedem andern, soweit es die Ehre betrifft, appelliren
kann, ist der der physischen Gewalt, d. h. der Tierheit. Denn jede
Grobheit ist eigentlich eine Appellation an die Tierheit, indem sie
den Kampf der geistigen Krafte, oder des moralischen Rechts, fur
inkompetent erklart und an deren Stelle den Kampf der physischen
Krafte setzt, welcher bei der Spezies Mensch, die von *Franklin* ein
_toolmaking animal_ (Werkzeuge verfertigendes Tier) definirt wird, mit
den ihr demnach eigentumlichen Waffen, im Duell, vollzogen wird und
eine unwiderrufliche Entscheidung herbeifuhrt. -- Diese Grundmaxime
wird bekanntlich, mit einem Worte, durch den Ausdruck *Faustrecht*,
welcher dem Ausdruck *Aberwitz* analog und daher, wie dieser, ironisch
ist, bezeichnet: demnach sollte, ihm gemaß, die ritterliche Ehre die
Faust-Ehre heißen. --

6. Hatten wir, weiter oben, die burgerliche Ehre sehr skrupulos
gefunden im Punkte des Mein und Dein, der eingegangenen
Verpflichtungen und des gegebenen Wortes; so zeigt hingegen der hier
in Betrachtung genommene Kodex darin die nobelste Liberalitat. Namlich
nur *ein* Wort darf nicht gebrochen werden, das Ehrenwort, d. h. das
Wort, bei dem man gesagt hat ≫auf Ehre!≪ -- woraus die Prasumtion
entsteht, daß jedes andere Wort gebrochen werden darf. Sogar bei dem
Bruch dieses Ehrenworts laßt sich zur Not die Ehre noch retten, durch
das Universalmittel, das Duell, hier mit denjenigen, welche behaupten,
wir hatten das Ehrenwort gegeben. -- Ferner: nur *eine* Schuld gibt es,
die unbedingt bezahlt werden muß, -- die Spielschuld, welche auch
demgemaß den Namen ≫Ehrenschuld≪ fuhrt. Um alle ubrigen Schulden mag
man Juden und Christen prellen: das schadet der ritterlichen Ehre durchaus nicht. --

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