[D] Die hochsten Stande, in ihrem Glanz, in ihrer Pracht und
Prunk und Herrlichkeit und Reprasentation jeder Art konnen sagen: unser
Gluck liegt ganz außerhalb unserer selbst: sein Ort sind die Kopfe
anderer.
Jedenfalls ist der auf eine kummerliche Ressource hingewiesen,
der sein Gluck nicht in den beiden, bereits abgehandelten Klassen
von Gutern findet, sondern es in dieser dritten suchen muß, also nicht
in dem, was er wirklich, sondern in dem, was er in der fremden Vorstellung
ist. Denn uberhaupt ist die Basis unseres Wesens und folglich auch unseres
Glucks unsere animalische Natur. Daher ist, fur unsere Wohlfahrt, Gesundheit
das wesentlichste, nachst dieser aber die Mittel zu unserer Erhaltung, also
ein sorgenfreies Auskommen. Ehre, Glanz, Rang, Ruhm, so viel Wert auch
mancher darauf legen mag, konnen mit jenen wesentlichen Gutern nicht
kompetiren, noch sie ersetzen: vielmehr wurden sie, erforderlichen Falle,
unbedenklich fur jene hingegeben werden. Dieserwegen wird es zu unserm Glucke
beitragen, wenn wir beizeiten die simple Einsicht erlangen, daß jeder
zunachst und wirklich in seiner eigenen Haut lebt, nicht aber in der
Meinung anderer, und daß demnach unser realer und personlicher Zustand, wie
er durch Gesundheit, Temperament, Fahigkeiten, Einkommen, Weib,
Kind, Freunde, Wohnort usw. bestimmt wird, fur unser Gluck
hundertmal wichtiger ist, als was es andern beliebt aus uns zu machen.
Der entgegengesetzte Wahn macht unglucklich. Wird mit Emphase
ausgerufen ≫Uber's Leben geht noch die Ehre,≪ so besagt dies eigentlich:
≫Dasein und Wohlsein sind nichts; sondern was die andern von uns denken,
das ist die Sache.≪ Allenfalls kann der Ausspruch als eine
Hyperbel gelten, der die prosaische Wahrheit zum Grunde liegt, daß zu
unserm Fortkommen und Bestehn unter Menschen die Ehre, d. h. die
Meinung derselben von uns, oft unumganglich notig ist; worauf ich
weiterhin zuruckkommen werde. Wenn man hingegen sieht, wie fast alles,
wonach Menschen, ihr Leben lang, mit rastloser Anstrengung und unter
tausend Gefahren und Muhseligkeiten, unermudlich streben, zum letzten
Zweck, hat, sich dadurch in der Meinung anderer zu erhohen, indem
namlich nicht nur Amter, Titel und Orden, sondern auch Reichtum, und
selbst Wissenschaft[E] und Kunst, im Grunde und hauptsachlich
deshalb angestrebt werden, und der großere Respekt anderer das letzte
Ziel ist, darauf man hinarbeitet; so beweist dies leider nur die Große
der menschlichen Torheit. Viel zu viel Wert auf die Meinung anderer
zu legen, ist ein allgemein herrschender Irrwahn: mag er nun in
unserer Natur selbst wurzeln, oder in Folge der Gesellschaft und
Zivilisation entstanden sein; jedenfalls ubt er auf unser gesamtes Tun und
Lassen einen ganz ubermaßigen und unserem Glucke feindlichen Einfluß aus,
den wir verfolgen konnen, von da an, wo er sich in der angstlichen
und sklavischen Rucksicht auf das _qu'en dira-t-on_ zeigt, bis dahin,
wo er den Dolch des Virginius in das Herz seiner Tochter stoßt, oder
den Menschen verleitet, fur den Nachruhm, Ruhe, Reichtum und
Gesundheit, ja, das Leben zu opfern. Dieser Wahn bietet allerdings dem, der
die Menschen zu beherrschen oder sonst zu lenken hat, eine
bequeme Handhabe dar; weshalb in jeder Art von Menschendressierungskunst
die Weisung, das Ehrgefuhl rege zu erhalten und zu scharfen,
eine Hauptstelle einnimmt: aber in Hinsicht auf das eigene Gluck
des Menschen, welches hier unsere Absicht ist, verhalt die Sache sich
ganz anders, und ist vielmehr davon abzumahnen, daß man nicht zu viel
Wert auf die Meinung anderer lege. Wenn es, wie die tagliche
Erfahrung lehrt, dennoch geschieht, wenn die meisten Menschen gerade auf
die Meinung anderer von ihnen den hochsten Wert legen und es ihnen
darum mehr zu tun ist als um das, was, weil es in *ihrem eigenen
Bewußtsein* vorgeht, unmittelbar fur sie vorhanden ist; wenn demnach,
mittels Umkehrung der naturlichen Ordnung, ihnen jenes der reale, dieses
der bloß ideale Teil ihres Daseins zu sein scheint, wenn sie also
das Abgeleitete und Sekundare zur Hauptsache machen und ihnen mehr
das Bild ihres Wesens im Kopfe anderer, als dieses Wesen selbst am
Herzen liegt; so ist diese unmittelbare Wertschatzung dessen, was fur
uns unmittelbar gar nicht vorhanden ist, diejenige Torheit, welche
man *Eitelkeit*, _vanitas_, genannt hat, um dadurch das Leere
und Gehaltlose dieses Strebens zu bezeichnen. Auch ist aus dem
Obigen leicht einzusehn, daß sie zum Vergessen des Zwecks uber die
Mittel gehort, so gut wie der Geiz.
[E] _Scire tuum nihil est, nisi
te scire hoc sciat alter._
In der Tat uberschreitet der Wert, den wir auf
die Meinung anderer legen, und unsere bestandige Sorge in betreff derselben,
in der Regel, fast jede vernunftige Bezweckung, so daß sie als eine Art
allgemein verbreiteter oder vielmehr angeborener Manie angesehn werden kann.
Bei allem, was wir tun und lassen, wird, fast vor allem andern, die
fremde Meinung berucksichtigt, und aus der Sorge um sie werden wir,
bei genauer Untersuchung, fast die Halfte aller Bekummernisse und
Angste, die wir jemals empfunden haben, hervorgegangen sehn. Denn sie
liegt allem unserm, so oft gekrankten, weil so krankhaft
empfindlichen, Selbstgefuhl, allen unsern Eitelkeiten und Pratensionen, wie
auch unserm Prunken und Großtun, zum Grunde. Ohne diese Sorge und
Sucht wurde der Luxus kaum ein Zehntel dessen sein, was er ist. Aller
und jeder Stolz, _point d'honneur_ und _puntiglio_, so
verschiedener Gattung und Sphare er auch sein kann, beruht auf ihr -- und
welche Opfer heischt sie da nicht oft! Sie zeigt sich schon im Kinde,
sodann in jedem Lebensalter, jedoch am starksten im spaten; weil dann,
beim Versiegen der Fahigkeit zu sinnlichen Genussen, Eitelkeit und
Hochmut nur noch mit dem Geize die Herrschaft zu teilen haben. Am
deutlichsten laßt sie sich an den Franzosen beobachten, als bei welchen sie
ganz endemisch ist und sich oft in der abgeschmacktesten
Ehrsucht, lacherlichsten National-Eitelkeit und unverschamtesten Prahlerei
Luft macht; wodurch dann ihr Streben sich selbst vereitelt, indem es
sie zum Spotte der andern Nationen gemacht hat und die _grande nation_
ein Neckname geworden ist. Um nun aber die in Rede stehende
Verkehrtheit der uberschwanglichen Sorge um die Meinung anderer noch speziell
zu erlautern, mag hier ein, durch den Lichteffekt des Zusammentreffens der
Umstande mit dem angemessenen Charakter, in seltenem Grade begunstigtes,
recht superlatives Beispiel jener in der Menschennatur wurzelnden Torheit
Platz finden, da an demselben die Starke dieser hochst wunderlichen
Triebfeder sich ganz ermessen laßt. Es ist folgende, den _Times_ vom 31. Marz
1846 entnommene Stelle aus dem ausfuhrlichen Bericht von der soeben
vollzogenen Hinrichtung des *Thomas Wix*, eines Handwerksgesellen, der aus
Rache seinen Meister ermordet hatte: ≫An dem zur Hinrichtung festgesetzten
Morgen fand sich der hochwurdige Gefangniskaplan zeitig bei ihm ein. Allein
*Wix*, obwohl sich ruhig betragend, zeigte keinen Anteil an
seinen Ermahnungen: vielmehr war das einzige, was ihm am Herzen lag, daß
es ihm gelingen mochte, vor den Zuschauern seines schmachvollen
Endes, sich mit recht großer Bravour zu benehmen. -- -- -- Dies ist ihm
denn auch gelungen. Auf dem Hofraum, den er zu dem, hart am
Gefangnis errichteten Galgenschaffot zu durchschreiten hatte, sagte er:
>Wohlan denn, wie Doktor Dodd gesagt hat, bald werde ich das große
Geheimnis wissen!< Er ging, obwohl mit gebundenen Armen, die Leiter zum
Schaffot ohne die geringste Beihilfe hinauf: daselbst angelangt machte er
gegen die Zuschauer, rechts und links, Verbeugungen, welche denn auch
mit dem donnernden Beifallsruf der versammelten Menge beantwortet
und belohnt wurden, usw.≪ -- Dies ist ein Prachtexemplar der Ehrsucht,
den Tod, in schrecklichster Gestalt, nebst der Ewigkeit dahinter,
vor Augen, keine andere Sorge zu haben, als die um den Eindruck auf
den zusammengelaufenen Haufen der Gaffer und die Meinung, welche man
in deren Kopfen zurucklassen wird! -- Und doch war eben so der im
selben Jahr in Frankreich, wegen versuchten Konigsmordes,
hingerichtete *Lecomte*, bei seinem Prozeß, hauptsachlich daruber
verdrießlich, daß er nicht in anstandiger Kleidung vor der Pairskammer
erscheinen konnte, und selbst bei seiner Hinrichtung war es ihm ein
Hauptverdruß, daß man ihm nicht erlaubt hatte, sich vorher zu rasiren. Daß es
auch ehemals nicht anders gewesen, ersehen wir aus dem, was *Mateo
Aleman*, in der, seinem beruhmten Romane, Guzman de Alfarache,
vorgesetzten Einleitung (_declaracion_) anfuhrt, daß namlich viele
betorte Verbrecher die letzten Stunden, welche sie ausschließlich
ihrem Seelenheile widmen sollten, diesem entziehn, um eine kleine
Predigt, die sie auf der Galgenleiter halten wollen, auszuarbeiten und
zu memoriren. -- An solchen Zugen jedoch konnen wir selbst uns
spiegeln: denn kolossale Falle geben uberall die deutlichste Erlauterung.
Unser aller Sorgen, Kummern, Wurmen, Argern, Angstigen, Anstrengen
usw. betrifft, in vielleicht den meisten Fallen, eigentlich die
fremde Meinung und ist eben so absurd, wie das jener armen Sunder.
Nicht weniger entspringt unser Neid und Haß großtenteils aus
besagter Wurzel.
Offenbar nun konnte zu unserem Glucke, als welches
allergroßtenteils auf Gemutsruhe und Zufriedenheit beruht, kaum irgend etwas
so viel beitragen, als die Einschrankung und Herabstimmung dieser
Triebfeder auf ihr vernunftig zu rechtfertigendes Maß, welches vielleicht
ein funfzigstel des gegenwartigen sein wird, also das Herausziehn
dieses immerfort peinigenden Stachels aus unserm Fleisch. Dies ist
jedoch sehr schwer: denn wir haben es mit einer naturlichen und
angeborenen Verkehrtheit zu tun. _Etiam sapientibus cupido gloriae
novissima exuitur_ sagt Tacitus (_hist. VI, 6_). Um jene allgemeine Torheit
los zu werden, ware das alleinige Mittel, sie deutlich als eine solche
zu erkennen und zu diesem Zwecke sich klar zu machen, wie ganz
falsch, verkehrt, irrig und absurd die meisten Meinungen in den Kopfen
der Menschen zu sein pflegen, daher sie, an sich selbst, keiner
Beachtung wert sind; sodann, wie wenig realen Einfluß auf uns die
Meinung anderer, in den meisten Dingen und Fallen, haben kann; ferner,
wie ungunstig uberhaupt sie meistenteils ist, so daß fast jeder sich
krank argern wurde, wenn er vernahme, was alles von ihm gesagt und
in welchem Tone von ihm geredet wird; endlich, daß sogar die Ehre
selbst doch eigentlich nur von mittelbarem und nicht von unmittelbarem
Werte ist u. dgl. m. Wenn eine solche Bekehrung von der allgemeinen
Torheit uns gelange; so wurde die Folge ein unglaublich großer Zuwachs
an Gemutsruhe und Heiterkeit und ebenfalls ein festeres und
sichereres Auftreten, ein durchweg unbefangeneres und naturlicheres
Betragen sein. Der so uberaus wohltatige Einfluß, den eine
zuruckgezogene Lebensweise auf unsere Gemutsruhe hat, beruht großtenteils
darauf, daß eine solche uns dem fortwahrenden Leben vor den Augen
anderer, folglich der steten Berucksichtigung ihrer etwanigen Meinung
entzieht und dadurch uns uns selber zuruckgibt. Imgleichen wurden wir
sehr vielem realen Ungluck entgehn, in welches nur jenes rein
ideale Streben, richtiger jene heillose Torheit, uns zieht, wurden auch
viel mehr Sorgfalt fur solide Guter ubrig behalten und dann auch
diese ungestorter genießen. Aber, wie gesagt, =chalepa ta kala=.
Die
hier geschilderte Torheit unsrer Natur treibt hauptsachlich drei Sproßlinge:
Ehrgeiz, Eitelkeit und Stolz. Zwischen diesen zwei letzteren beruht der
Unterschied darauf, daß der *Stolz* die bereits feststehende Uberzeugung vom
eigenen uberwiegenden Werte, in irgendeiner Hinsicht, ist; *Eitelkeit*
hingegen der Wunsch, in andern eine solche Uberzeugung zu erwecken, meistens
begleitet von der stillen Hoffnung, sie, in Folge davon, auch selbst zu der
seinigen machen zu konnen. Demnach ist Stolz die von *innen*
ausgehende, folglich direkte Hochschatzung seiner selbst; hingegen Eitelkeit
das Streben, solche von *außen* her, also indirekt zu
erlangen. Dementsprechend macht die Eitelkeit gesprachig, der Stolz
schweigsam. Aber der Eitle sollte wissen, daß die hohe Meinung anderer, nach
der er trachtet, sehr viel leichter und sicherer durch
anhaltendes Schweigen zu erlangen ist, als durch Sprechen, auch wenn einer
die schonsten Dinge zu sagen hatte. -- Stolz ist nicht wer will,
sondern hochstens kann wer will Stolz affektiren, wird aber aus dieser,
wie aus jeder angenommenen Rolle bald herausfallen. Denn nur die
feste, innere, unerschutterliche Uberzeugung von uberwiegenden Vorzugen
und besonderem Werte macht wirklich stolz. Diese Uberzeugung mag nun
irrig sein, oder auch auf bloß außerlichen und konventionellen
Vorzugen beruhen, -- das schadet dem Stolze nicht, wenn sie nur wirklich
und ernstlich vorhanden ist. Weil also der Stolz seine Wurzel in
der *Uberzeugung* hat, steht er, wie alle Erkenntnis, nicht in
unserer *Willkur*. Sein schlimmster Feind, ich meine sein großtes
Hindernis, ist die Eitelkeit, als welche um den Beifall anderer buhlt, um
die eigene hohe Meinung von sich erst darauf zu grunden, in
welcher bereits ganz fest zu sein die Voraussetzung des Stolzes
ist.
So sehr nun auch durchgangig der Stolz getadelt und verschrien
wird; so vermute ich doch, daß dies hauptsachlich von solchen
ausgegangen ist, die nichts haben, darauf sie stolz sein konnten.
Der Unverschamtheit und Dummdreistigkeit der meisten Menschen
gegenuber, tut jeder, der irgend welche Vorzuge hat, ganz wohl, sie selbst
im Auge zu behalten, um nicht sie ganzlich in Vergessenheit geraten
zu lassen: denn wer, solche gutmutig ignorirend, mit jenen sich
gerirt, als ware er ganz ihresgleichen, den werden sie treuherzig sofort
dafur halten. Am meisten aber mochte ich solches denen anempfehlen,
deren Vorzuge von der hochsten Art, d. h. reale, und also rein
personliche sind, da diese nicht, wie Orden und Titel, jeden Augenblick
durch sinnliche Einwirkung in Erinnerung gebracht werden: denn sonst
werden sie oft genug das _sus Minervam_ exemplifizirt sehn. ≫Scherze mit
dem Sklaven; bald wird er dir den Hintern zeigen≪ -- ist
ein vortreffliches arabisches Sprichwort, und das Horazische
_sume superbiam, quaesitam meritis_ ist nicht zu verwerfen. Wohl aber
ist die Tugend der Bescheidenheit eine erkleckliche Erfindung fur
die Lumpe; da ihr gemaß jeder von sich zu reden hat, als ware auch er
ein solcher, welches herrlich nivellirt, indem es dann so herauskommt,
als gabe es uberhaupt nichts als Lumpe.
Die wohlfeilste Art des
Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrat in dem damit
Behafteten den Mangel an *individuellen* Eigenschaften, auf die er stolz sein
konnte, indem er sonst nicht zu dem greifen wurde, was er mit so vielen
Millionen teilt. Wer bedeutende personliche Vorzuge besitzt, wird vielmehr
die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie bestandig vor Augen hat,
am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbarmliche Tropf, der nichts in
der Welt hat, darauf er stolz sein konnte, ergreift das letzte Mittel,
auf die Nation, der er gerade angehort, stolz zu sein: hieran erholt
er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr
eigen sind, =pyx kai lax= zu verteidigen. Daher wird man z. B. unter funfzig
Englandern kaum mehr als einen finden, welcher mit einstimmt, wenn man von
der stupiden und degradirenden Bigotterie seiner Nation mit gebuhrender
Verachtung spricht: der eine aber pflegt ein Mann von Kopf zu sein. -- Die
Deutschen sind frei von Nationalstolz und legen hierdurch einen Beweis der
ihnen nachgeruhmten Ehrlichkeit ab; vom Gegenteil aber die unter ihnen,
welche einen solchen vorgeben und lacherlicher Weise affektiren; wie dies
zumeist die ≫deutschen Bruder≪ und Demokraten tun, die dem Volke
schmeicheln, um es zu verfuhren. Es heißt zwar, die Deutschen hatten das
Pulver erfunden: ich kann jedoch dieser Meinung nicht beitreten.
Und Lichtenberg fragt: ≫warum gibt sich nicht leicht jemand, der es
nicht ist, fur einen Deutschen aus, sondern gemeiniglich, wenn er sich
fur etwas ausgeben will, fur einen Franzosen oder Englander?≪
Ubrigens uberwiegt die Individualitat bei weitem die Nationalitat, und in
einem gegebenen Menschen verdient jene tausendmal mehr Berucksichtigung
als diese. Dem Nationalcharakter wird, da er von der Menge redet, nie
viel Gutes ehrlicherweise nachzuruhmen sein. Vielmehr erscheint nur
die menschliche Beschranktheit, Verkehrtheit und Schlechtigkeit in
jedem Lande in einer andern Form und diese nennt man den
Nationalcharakter. Von *einem* derselben degoutirt loben wir den andern, bis
es uns mit ihm eben so ergangen ist. -- Jede Nation spottet uber die andere,
und alle haben recht.
Der Gegenstand dieses Kapitels, also was wir in
der Welt *vorstellen*, d. h. in den Augen anderer sind, laßt sich nun, wie
schon oben bemerkt, einteilen in *Ehre*, *Rang* und *Ruhm*.
Der
*Rang*, so wichtig er in den Augen des großen Haufens und der Philister, und
so groß sein Nutzen im Getriebe der Staatsmaschine sein mag, laßt sich, fur
unsern Zweck, mit wenigen Worten abfertigen. Es ist ein konventioneller, d.
h. eigentlich ein simulirter Wert: seine Wirkung ist eine simulirte
Hochachtung, und das ganze eine Komodie fur den großen Haufen. -- Orden sind
Wechselbriefe, gezogen auf die offentliche Meinung: ihr Wert beruht auf dem
Kredit des Ausstellers. Inzwischen sind sie, auch ganz abgesehn von dem
vielen Gelde, welches sie, als Substitut pekuniarer Belohnungen, dem Staat
ersparen, eine ganz zweckmaßige Einrichtung; vorausgesetzt, daß ihre
Verteilung mit Einsicht und Gerechtigkeit geschehe. Der große Haufe namlich
hat Augen und Ohren, aber nicht viel mehr, zumal blutwenig Urteilskraft
und selbst wenig Gedachtnis. Manche Verdienste liegen ganz außerhalb
der Sphare seines Verstandnisses, andere versteht und bejubelt er,
bei ihrem Eintritt, hat sie aber nachher bald vergessen. Da finde ich
es ganz passend, durch Kreuz oder Stern, der Menge jederzeit und
uberall zuzurufen: ≫der Mann ist nicht euresgleichen: er hat
Verdienste!≪ Durch ungerechte, oder urteilslose, oder ubermaßige
Verteilung verlieren aber die Orden diesen Wert, daher ein Furst mit
ihrer Erteilung so vorsichtig sein sollte, wie ein Kaufmann mit
dem Unterschreiben der Wechsel. Die Inschrift _pour le merite_ auf
einem Kreuze ist ein Pleonasmus: jeder Orden sollte _pour le merite_
sein, -- _ca va sans dire_. --
Viel schwerer und weitlaufiger, als die
des Ranges, ist die Erorterung der *Ehre*. Zuvorderst hatten wir sie zu
definiren. Wenn ich nun in dieser Absicht etwan sagte: die Ehre ist das
außere Gewissen, und das Gewissen die innere Ehre; -- so konnte dies
vielleicht manchem gefallen; wurde jedoch mehr eine glanzende, als eine
deutliche und grundliche Erklarung sein. Daher sage ich: die Ehre ist,
objektiv, die Meinung anderer von unserm Wert, und subjektiv, unsere Furcht
vor dieser Meinung. In letzterer Eigenschaft hat sie oft eine
sehr heilsame, wenn auch keineswegs rein moralische Wirkung, -- im Mann
von Ehre.
Die Wurzel und der Ursprung des jedem, nicht ganz
verdorbenen Menschen einwohnenden Gefuhls fur Ehre und Schande, wie auch des
hohen Wertes, welcher ersterer zuerkannt wird, liegt in Folgendem. Der Mensch
fur sich allein vermag gar wenig und ist ein verlassener Robinson: nur
in der Gemeinschaft mit den andern ist und vermag er viel.
Dieses Verhaltnisses wird er inne, sobald sein Bewußtsein sich irgend
zu entwickeln anfangt, und alsbald entsteht in ihm das Bestreben, fur
ein taugliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu gelten, also
fur eines, das fahig ist, _pro parte virili_ mitzuwirken, und
dadurch berechtigt, der Vorteile der menschlichen Gemeinschaft teilhaft
zu werden. Ein solches nun ist er dadurch, daß er, erstlich, das
leistet, was man von jedem uberall, und sodann das, was man von ihm in
der besonderen Stelle, die er eingenommen hat, fordert und erwartet.
Eben so bald aber erkennt er, daß es hierbei nicht darauf ankommt, daß
er es in seiner eigenen, sondern daß er es in der Meinung der anderen sei.
Hieraus entspringt demnach sein eifriges Streben nach der gunstigen *Meinung*
anderer und der hohe Wert, den er auf diese legt: beides zeigt sich mit der
Ursprunglichkeit eines angeborenen Gefuhls, welches man Ehrgefuhl und, nach
Umstanden, Gefuhl der Scham (_verecundia_) nennt. Dieses ist es, was seine
Wangen rotet, sobald er glaubt, plotzlich in der Meinung anderer verlieren zu
mussen, selbst wo er sich unschuldig weiß; sogar da, wo der sich aufdeckende
Mangel eine nur relative, namlich willkurlich ubernommene
Verpflichtung betrifft: und andrerseits starkt nichts seinen Lebensmut mehr,
als die erlangte, oder erneuerte Gewißheit von der gunstigen Meinung
anderer; weil sie ihm den Schutz und die Hilfe der vereinten Krafte
aller verspricht, welche eine unendlich großere Wehrmauer gegen die Ubel
des Lebens sind, als seine eigenen.
Aus den verschiedenen Beziehungen,
in denen der Mensch zu andern stehen kann und in Hinsicht auf welche sie
Zutrauen zu ihm, also eine gewisse gute Meinung von ihm, zu hegen haben,
entstehen mehrere *Arten der Ehre*. Diese Beziehungen sind hauptsachlich das
Mein und Dein, sodann die Leistungen der Anheischigen, endlich das
Sexualverhaltnis: ihnen entsprechen die burgerliche Ehre, die Amtsehre und
die Sexualehre, jede von welchen noch wieder Unterarten hat.
Die
weiteste Sphare hat die *burgerliche Ehre*: sie besteht in der Voraussetzung,
daß wir die Rechte eines jeden unbedingt achten und daher uns nie
ungerechter, oder gesetzlich unerlaubter Mittel zu unserm Vorteile bedienen
werden. Sie ist die Bedingung zur Teilnahme an allem friedlichen Verkehr. Sie
geht verloren durch eine einzige offenbar und stark dawider laufende
Handlung, folglich auch durch jede Kriminalstrafe; wiewohl nur unter
Voraussetzung der Gerechtigkeit derselben. Immer aber beruht die Ehre, in
ihrem letzten Grunde, auf der Uberzeugung von der Unveranderlichkeit des
moralischen Charakters, vermoge welcher eine einzige schlechte Handlung die
gleiche moralische Beschaffenheit aller folgenden, sobald ahnliche Umstande
eintreten werden, verburgt: dies bezeugt auch der englische Ausdruck
_character_ fur Ruf, Reputation, Ehre. Deshalb eben ist die verlorene Ehre
nicht wieder herzustellen; es sei denn, daß der Verlust auf Tauschung,
wie Verlaumdung, oder falschem Schein, beruht hatte. Demgemaß gibt
es Gesetze gegen Verlaumdung, Pasquille, auch Injurien; denn die
Injurie, das bloße Schimpfen, ist eine summarische Verlaumdung, ohne Angabe
der Grunde: dies ließe sich Griechisch gut ausdrucken: =esti he
loidoria diabole syntomos=, -- welches jedoch nirgends vorkommt. Freilich
legt der, welcher schimpft, dadurch an den Tag, daß er nichts
Wirkliches und Wahres gegen den andern vorzubringen hat; da er sonst dieses
als die Pramissen geben und die Konklusion getrost den Horern
uberlassen wurde; statt dessen er die Konklusion gibt und die Pramissen
schuldig bleibt: allein er verlaßt sich auf die Prasumtion, daß dies
nur beliebter Kurze halber geschehe. -- Die burgerliche Ehre hat
zwar ihren Namen vom Burgerstande; allein ihre Geltung erstreckt sich
uber alle Stande, ohne Unterschied, sogar die allerhochsten
nicht ausgenommen: kein Mensch kann ihrer entraten und ist es mit ihr
eine ganz ernsthafte Sache, die jeder sich huten soll leicht zu nehmen.
Wer Treu und Glauben bricht, hat Treu und Glauben verloren, auf immer,
was er auch tun und wer er auch sein mag; die bittern Fruchte,
welche dieser Verlust mit sich bringt, werden nicht ausbleiben.
Die
*Ehre* hat, in gewissem Sinne, einen *negativen* Charakter, namlich im
Gegensatz des Ruhmes, der einen *positiven* Charakter hat. Denn die Ehre ist
nicht die Meinung von besonderen, diesem Subjekt allein zukommenden
Eigenschaften, sondern nur von den, der Regel nach, vorauszusetzenden, als
welche auch ihm nicht abgehen sollen. Sie besagt daher nur, daß dies Subjekt
keine Ausnahme mache; wahrend der Ruhm besagt, daß er eine mache. Ruhm muß
daher erst erworben werden: die Ehre hingegen braucht bloß nicht verloren zu
gehn. Dem entsprechend ist Ermangelung des Ruhmes Obskuritat, ein
Negatives; Ermangelung der Ehre ist Schande, ein Positives. -- Diese
Negativitat darf aber nicht mit Passivitat verwechselt werden: vielmehr hat
die Ehre einen ganz aktiven Charakter. Sie geht namlich allein von
dem *Subjekt* derselben aus, beruht auf *seinem* Tun und Lassen, nicht
aber auf dem, was andere tun und was ihm widerfahrt: sie ist also =ton
eph' hemin=. Dies ist, wie wir bald sehn werden, ein
Unterscheidungsmerkmal der wahren Ehre von der ritterlichen, oder Afterehre.
Bloß durch Verlaumdung ist ein Angriff von außen auf die Ehre moglich:
das einzige Gegenmittel ist Widerlegung derselben, mit ihr
angemessener Offentlichkeit und Entlarvung des Verlaumders.
Die
Achtung vor dem Alter scheint darauf zu beruhen, daß die Ehre junger Leute
zwar als Voraussetzung angenommen, aber noch nicht erprobt ist, daher
eigentlich auf Kredit besteht. Bei den Alteren aber hat es sich im Laufe des
Lebens ausweisen mussen, ob sie, durch ihren Wandel, ihre Ehre behaupten
konnten. Denn weder die Jahre an sich, als welche auch Tiere, und einige in
viel hoherer Zahl, erreichen, noch auch die Erfahrung, als bloße, nahere
Kenntnis vom Laufe der Welt, sind hinreichender Grund fur die Achtung der
Jungeren gegen die Alteren, welche doch uberall gefordert wird: die bloße
Schwache des hoheren Alters wurde mehr auf Schonung als auf Achtung Anspruch
geben. Merkwurdig aber ist es, daß dem Menschen ein gewisser Respekt
vor weißen Haaren angeboren und daher wirklich instinktiv ist.
Runzeln, ein ungleich sichereres Kennzeichen des Alters, erregen diesen
Respekt keineswegs: nie wird von ehrwurdigen Runzeln, aber stets
vom ehrwurdigen weißen Haare geredet.
Der Wert der Ehre ist nur ein
mittelbarer. Denn, wie bereits am Eingang dieses Kapitels auseinander gesetzt
ist, die Meinung anderer von uns kann nur insofern Wert fur uns haben, als
sie ihr Handeln gegen uns bestimmt, oder gelegentlich bestimmen kann. Dies
ist jedoch der Fall, so lange wir mit oder unter Menschen leben. Denn, da
wir, im zivilisirten Zustande, Sicherheit und Besitz nur der
Gesellschaft verdanken, auch der anderen, bei allen Unternehmungen, bedurfen
und sie Zutrauen zu uns haben mussen, um sich mit uns einzulassen; so
ist ihre Meinung von uns von hohem, wiewohl immer nur mittelbarem
Werte fur uns; einen unmittelbaren kann ich ihr nicht zuerkennen.
In Ubereinstimmung hiemit sagt auch *Cicero*: _de bona autem
fama Chrysippus quidem et Diogenes, detracta utilitate, ne digitum
quidem, ejus causa, porrigendum esse dicebant. Quibus ego
vehementer assentior._ (_fin. III, 17._) Imgleichen gibt eine
weitlaufige Auseinandersetzung dieser Wahrheit *Helvetius*, in
seinem Meisterwerke, _de l'esprit_ (_Disc. III, ch. 13_), deren Resultat
ist: _nous n'aimons pas l'estime pour l'estime, mais uniquement pour
les avantages qu'elle procure_. Da nun das Mittel nicht mehr wert
sein kann als der Zweck; so ist der Paradespruch ≫die Ehre geht uber
das Leben,≪ wie gesagt, eine Hyperbel.
Soviel von der burgerlichen
Ehre. Die *Amtsehre* ist die allgemeine Meinung anderer, daß ein Mann, der
ein Amt versieht, alle dazu erforderlichen Eigenschaften wirklich habe und
auch in allen Fallen seine amtlichen Obliegenheiten punktlich erfulle. Je
wichtiger und großer der Wirkungskreis eines Mannes im Staate ist, also je
hoher und einflußreicher der Posten, auf dem er steht, desto großer muß
die Meinung von den intellektuellen Fahigkeiten und
moralischen Eigenschaften sein, die ihn dazu tauglich machen: mithin hat er
einen um so hohern Grad von Ehre, deren Ausdruck seine Titel, Orden
usw. sind, wie auch das sich unterordnende Betragen anderer gegen ihn.
Nach dem selben Maßstabe bestimmt nun durchgangig der Stand den
besonderen Grad der Ehre, wiewohl dieser modifizirt wird durch die Fahigkeit
der Menge uber die Wichtigkeit des Standes zu urteilen. Immer aber
erkennt man dem, der besondere Obliegenheiten hat und erfullt, mehr Ehre
zu, als dem gemeinen Burger, dessen Ehre hauptsachlich auf
negativen Eigenschaften beruht.
Die Amtsehre erfordert ferner, daß wer
ein Amt versieht, das Amt selbst, seiner Kollegen und Nachfolger wegen, im
Respekt erhalte, eben durch jene punktliche Erfullung seiner Pflichten und
auch dadurch, daß er Angriffe auf das Amt selbst und auf sich, soferne er es
versieht, d. h. Außerungen, daß er das Amt nicht punktlich versehe, oder daß
das Amt selbst nicht zum allgemeinen Besten gereiche, nicht
ungeahndet lasse, sondern durch die gesetzliche Strafe beweise, daß jene
Angriffe ungerecht waren.
Unterordnungen der Amtsehre sind die des
Staatsdieners, des Arztes, des Advokaten, jedes offentlichen Lehrers, ja
jedes Graduirten, kurz eines jeden, der durch offentliche Erklarung fur eine
gewisse Leistung geistiger Art qualifizirt erklart worden ist und sich eben
deshalb selbst dazu anheischig gemacht hat; also mit einem Wort die Ehre
aller offentlich Anheischigen als solcher. Daher gehort auch hieher
die wahre *Soldatenehre*: sie besteht darin, daß wer sich zur
Verteidigung des gemeinsamen Vaterlandes anheischig gemacht hat, die dazu
notigen Eigenschaften, also vor allem Mut, Tapferkeit und Kraft
wirklich besitze und ernstlich bereit sei, sein Vaterland bis in den Tod
zu verteidigen und uberhaupt die Fahne, zu der er einmal geschworen,
um nichts auf der Welt zu verlassen. -- Ich habe hier die *Amtsehre*
in einem weiteren Sinne genommen, als gewohnlich, wo sie den dem
Amt selbst gebuhrenden Respekt der Burger bedeutet.
Die *Sexualehre*
scheint mir einer naheren Betrachtung und Zuruckfuhrung ihrer Grundsatze auf
die Wurzel derselben zu bedurfen, welche zugleich bestatigen wird, daß alle
Ehre zuletzt auf Nutzlichkeitsrucksichten beruht. Die Sexualehre zerfallt,
ihrer Natur nach, in Weiber- und Mannerehre, und ist von beiden Seiten
ein wohlverstandener _esprit de corps_. Die erstere ist bei weitem
die wichtigste von beiden: weil im weiblichen Leben das
Sexualverhaltnis die Hauptsache ist. -- Die *weibliche Ehre* also ist die
allgemeine Meinung von einem Madchen, daß sie sich gar keinem Manne, und
von einer Frau, daß sie sich nur dem ihr angetrauten hingegeben habe.
Die Wichtigkeit dieser Meinung beruht auf Folgendem. Das
weibliche Geschlecht verlangt und erwartet vom mannlichen alles, namlich
alles, was es wunscht und braucht: das mannliche verlangt vom
weiblichen zunachst und unmittelbar nur eines. Daher mußte die
Einrichtung getroffen werden, daß das mannliche Geschlecht vom weiblichen
jenes eine nur erlangen kann gegen Ubernahme der Sorge fur alles und
zudem fur die aus der Verbindung entspringenden Kinder: auf
dieser Einrichtung beruht die Wohlfahrt des ganzen weiblichen Geschlechts.
Um sie durchzusetzen, muß notwendig das weibliche
Geschlecht zusammenhalten und _esprit de corps_ beweisen. Dann aber steht es
als ein Ganzes und in geschlossener Reihe dem gesamten
mannlichen Geschlechte, welches durch das Ubergewicht seiner Korper-
und Geisteskrafte von Natur im Besitz aller irdischen Guter ist, als
dem gemeinschaftlichen Feinde gegenuber, der besiegt und erobert
werden muß, um, mittelst seines Besitzes, in den Besitz der irdischen
Guter zu gelangen. Zu diesem Ende nun ist die Ehrenmaxime des
ganzen weiblichen Geschlechts, daß dem mannlichen jeder uneheliche
Beischlaf durchaus versagt bleibe; damit jeder einzelne zur Ehe, als welche
eine Art von Kapitulation ist, gezwungen und dadurch das ganze
weibliche Geschlecht versorgt werde. Dieser Zweck kann aber nur
vermittelst strenger Beobachtung der obigen Maxime vollkommen erreicht
werden: daher wacht das ganze weibliche Geschlecht, mit wahrem _esprit
de corps_, uber die Aufrechterhaltung derselben unter allen
seinen Mitgliedern. Demgemaß wird jedes Madchen, welches durch
unehelichen Beischlaf einen Verrat gegen das ganze weibliche Geschlecht
begangen hat, weil dessen Wohlfahrt durch das Allgemeinwerden
dieser Handlungsweise untergraben werden wurde, von demselben ausgestoßen
und mit Schande belegt: es hat seine Ehre verloren. Kein Weib darf
mehr mit ihm umgehen: es wird, gleich einer Verpesteten, gemieden.
Das gleiche Schicksal trifft die Ehebrecherin; weil diese dem Manne
die von ihm eingegangene Kapitulation nicht gehalten hat, durch
solches Beispiel aber die Manner vom Eingehen derselben abgeschreckt
werden; wahrend auf ihr das Heil des ganzen weiblichen Geschlechts
beruht. Aber noch uberdies verliert die Ehebrecherin, wegen der
groben Wortbruchigkeit und des Betruges in ihrer Tat, mit der
Sexualehre zugleich die burgerliche. Daher sagt man wohl, mit
einem entschuldigenden Ausdruck, ≫ein gefallenes Madchen≪, aber nicht
≫eine gefallene Frau≪, und der Verfuhrer kann jene, durch die Ehe,
wieder ehrlich machen; nicht so der Ehebrecher diese, nachdem sie
geschieden worden. -- Wenn man nun, infolge dieser klaren Einsicht, einen
zwar heilsamen, ja notwendigen, aber wohlberechneten und auf
Interesse gestutzten _esprit de corps_ als die Grundlage des Prinzips
der weiblichen Ehre erkennt; so wird man dieser zwar die
großte Wichtigkeit fur das weibliche Dasein und daher einen großen
relativen, jedoch keinen absoluten, uber das Leben und seine
Zwecke hinausliegenden und demnach mit diesem selbst zu erkaufenden
Wert beilegen konnen. Demnach nun wird man den uberspannten, zu
tragischen Farcen ausartenden Taten der Lukretia und des Virginius keinen
Beifall schenken konnen. Daher eben hat der Schluß der Emilia Galotti etwas
so Emporendes, daß man das Schauspielhaus in volliger Verstimmung verlaßt.
Hingegen kann man nicht umhin, der Sexualehre zum Trotz, mit dem Klarchen des
Egmont zu sympathisiren. Jenes auf die Spitze Treiben des weiblichen
Ehrenprinzips gehort, wie so manches, zum Vergessen des Zwecks uber die
Mittel: denn die Sexualehre wird, durch solche Uberspannung, ein absoluter
Wert angedichtet; wahrend sie, noch mehr als alle andere Ehre, einen bloß
relativen hat; ja, man mochte sagen, einen bloß konventionellen, wenn man aus
dem _Thomasius de concubinatu_ ersieht, wie in fast allen Landern und Zeiten,
bis zur Lutherischen Reformation, das Konkubinat ein gesetzlich erlaubtes
und anerkanntes Verhaltnis gewesen ist, bei welchem die Konkubine
ehrlich blieb; der Mylitta zu Babylon (Herodot I, 199) usw. gar nicht
zu gedenken. Auch gibt es allerdings burgerliche Verhaltnisse, welche
die außere Form der Ehe unmoglich machen, besonders in
katholischen Landern, wo keine Scheidung stattfindet; uberall aber fur
regierende Herren, als welche, meiner Meinung nach, viel moralischer
handeln, wenn sie eine Matresse halten, als wenn sie eine morganatische
Ehe eingehen, deren Deszendenz, beim etwanigen Aussterben der
legitimen, einst Anspruche erheben konnte; weshalb, sei es auch noch so
entfernt, durch solche Ehe die Moglichkeit eines Burgerkrieges
herbeigefuhrt wird. Uberdies ist eine solche morganatische, d. h. eigentlich
allen außern Verhaltnissen zum Trotz geschlossene Ehe, im letzten
Grunde, eine den Weibern und den Pfaffen gemachte Konzession, zweien
Klassen, denen man etwas einzuraumen sich moglichst huten sollte. Ferner ist
zu erwagen, daß jeder im Lande das Weib seiner Wahl ehelichen kann,
bis auf einen, dem dieses naturliche Recht benommen ist: dieser arme
Mann ist der Furst. Seine Hand gehort dem Lande und wird nach
der Staatsraison, d. h. dem Wohl des Landes gemaß, vergeben. Nun aber
ist er doch ein Mensch und will auch einmal dem Hange seines
Herzens folgen. Daher ist es so ungerecht und undankbar, wie
es spießburgerlich ist, dem Fursten das Halten einer Matresse
verwehren, oder vorwerfen zu wollen; versteht sich, so lange ihr kein Einfluß
auf die Regierung gestattet wird. Auch ihrerseits ist eine
solche Matresse, hinsichtlich der Sexualehre, gewissermaßen
eine Ausnahmsperson, eine Eximirte von der allgemeinen Regel: denn sie
hat sich bloß einem Manne ergeben, der sie und den sie lieben,
aber nimmermehr heiraten konnte. -- Uberhaupt aber zeugen von dem
nicht rein naturlichen Ursprunge des weiblichen Ehrenprinzips die
vielen blutigen Opfer, welche demselben gebracht werden, -- im
Kindermorde und Selbstmorde der Mutter. Allerdings begeht ein Madchen, die
sich ungesetzlich preisgibt, dadurch einen Treuebruch gegen ihr
ganzes Geschlecht: jedoch ist diese Treue nur stillschweigend angenommen
und nicht beschworen. Und da, im gewohnlichen Fall, ihr eigener Vorteil
am unmittelbarsten darunter leidet, so ist ihre Torheit dabei
unendlich großer als ihre Schlechtigkeit.
Die Geschlechtsehre der
Manner wird durch die der Weiber hervorgerufen, als der entgegengesetzte
_esprit de corps_, welcher verlangt, daß jeder, der die dem Gegenpart so sehr
gunstige Kapitulation, die Ehe, eingegangen ist, jetzt daruber wache, daß
sie ihm gehalten werde; damit nicht selbst dieses Paktum, durch
das Einreißen einer laxen Observanz desselben, seine Festigkeit
verliere und die Manner, indem sie alles hingeben, nicht einmal des
einen versichert seien, was sie dafur erhandeln, des Alleinbesitzes
des Weibes. Demgemaß fordert die Ehre des Mannes, daß er den
Ehebruch seiner Frau ahnde und, wenigstens durch Trennung von ihr,
strafe. Duldet er ihn wissentlich, so wird er von der Mannergemeinschaft
mit Schande belegt: jedoch ist diese lange nicht so durchgreifend, wie
die durch den Verlust der Geschlechtsehre das Weib treffende, vielmehr
nur eine _levioris notae macula_; weil beim Manne die
Geschlechtsbeziehung eine untergeordnete ist, indem er in noch vielen anderen
und wichtigeren steht. Die zwei großen dramatischen Dichter der
neueren Zeit haben, jeder zweimal, diese Mannerehre zu ihrem Thema
genommen: Shakespeare, im Othello und im Wintermarchen, und Calderon, in
_el medico de su honra_ (der Arzt seiner Ehre) und _a secreto
agravio secreta venganza_ (fur geheime Schmach geheime Rache).
Ubrigens fordert diese Ehre nur die Bestrafung des Weibes, nicht die
ihres Buhlen; welche bloß ein _opus supererogationis_ ist: hiedurch
bestatigt sich der angegebene Ursprung derselben aus dem _esprit de corps_
der Manner. --
Die Ehre, wie ich sie bis hieher, in ihren Gattungen
und Grundsatzen, betrachtet habe, findet sich bei allen Volkern und zu allen
Zeiten als allgemein geltend; wenn gleich der Weiberehre sich einige lokale
und temporare Modifikationen ihre Grundsatze nachweisen lassen.
Hingegen gibt es noch eine, von jener allgemein und uberall gultigen
ganzlich verschiedene Gattung der Ehre, von welcher weder Griechen noch
Romer einen Begriff hatten, so wenig wie Chinesen, Hindu und
Mohammedaner, bis auf den heutigen Tag, irgend etwas von ihr wissen. Denn sie
ist erst im Mittelalter entstanden und bloß im christlichen
Europa einheimisch geworden, ja, selbst hier nur unter einer außerst
kleinen Fraktion der Bevolkerung, namlich unter den hoheren Standen
der Gesellschaft und was ihnen nacheifert. Es ist die *ritterliche
Ehre*, oder das _point d'honneur_. Da ihre Grundsatze von denen der
bis hieher erorterten Ehre ganzlich verschieden, sogar diesen zum
Teil entgegengesetzt sind, indem jene erstere den *Ehrenmann*,
diese hingegen den *Mann von Ehre* macht; so will ich ihre Prinzipien
hier besonders ausstellen, als einen Kodex, oder Spiegel der
ritterlichen Ehre.
1. Die Ehre besteht *nicht* in der Meinung anderer
von unserm Wert, sondern ganz allein in den *Außerungen* einer solchen
Meinung; gleichviel ob die geaußerte Meinung wirklich vorhanden sei oder
nicht; geschweige, ob sie Grund habe. Demnach mogen andere, in Folge
unsers Lebenswandels, eine noch so schlechte Meinung von uns hegen, uns
noch so sehr verachten; solange nur keiner sich untersteht, solches laut
zu außern, schadet es der Ehre durchaus nicht. Umgekehrt aber, wenn
wir auch durch unsere Eigenschaften und Handlungen alle andern
zwingen, uns sehr hoch zu achten (denn das hangt nicht von ihrer Willkur
ab); so darf dennoch nur irgend einer, -- und ware es der Schlechteste
und Dummste --, seine Geringschatzung uber uns aussprechen, und
alsbald ist unsere Ehre verletzt, ja, sie ist auf immer verloren; wenn
sie nicht wieder hergestellt wird. -- Ein uberflussiger Beleg dazu, daß
es keineswegs auf die *Meinung* anderer, sondern allein auf die *Außerung*
einer solchen ankomme, ist der, daß Verunglimpfungen *zuruckgenommen*,
notigenfalls abgebeten werden konnen, wodurch es dann ist, als waren sie nie
geschehn: ob dabei die Meinung, aus der sie entsprungen, sich ebenfalls
geandert habe und weshalb dies geschehn sein sollte, tut nichts zur Sache:
nur die Außerung wird annullirt, und dann ist alles gut. Hier ist es demnach
nicht darauf abgesehn, Respekt zu verdienen, sondern ihn zu
ertrotzen.
2. Die Ehre eines Mannes beruht nicht auf dem, was er *tut*,
sondern auf dem, was er *leidet*, was ihm widerfahrt. Wenn, nach
den Grundsatzen der zuerst erorterten, allgemein geltenden Ehre,
diese allein abhangt von dem, was *er selbst* sagt oder tut; so
hangt hingegen die ritterliche Ehre ab von dem, was irgend ein anderer
sagt oder tut. Sie liegt sonach in der Hand, ja, hangt an der
Zungenspitze eines jeden, und kann, wenn dieser zugreift, jeden Augenblick
auf immer verloren gehn, falls nicht der Betroffene, durch einen bald
zu erwahnenden Herstellungsprozeß, sie wieder an sich reißt,
welches jedoch nur mit Gefahr seines Lebens, seiner Gesundheit,
seiner Freiheit, seines Eigentums und seiner Gemutsruhe geschehn kann.
Diesem zufolge mag das Tun und Lassen eines Mannes das rechtschaffenste
und edelste, sein Gemut das reinste und sein Kopf der eminenteste sein;
so kann dennoch seine Ehre jeden Augenblick verloren gehn, sobald
es namlich irgend einem, -- der nur noch nicht diese Ehrengesetze verletzt
hat, ubrigens aber der nichtswurdigste Lump, das stupideste Vieh, ein
Tagedieb, Spieler, Schuldenmacher, kurz, ein Mensch, der nicht wert ist, daß
jener ihn ansieht, sein kann, -- beliebt, ihn zu *schimpfen*. Sogar wird es
meistenteils gerade ein Subjekt solcher Art sein, dem dies beliebt; weil
eben, wie *Seneka* richtig bemerkt, _ut quisque contemtissimus et ludibrio
est, ita solutissimae linguae est_ (_de constantia, 11_): auch wird ein
solcher gerade gegen einen, wie der zuerst Geschilderte, am leichtesten
aufgereizt werden; weil die Gegensatze sich hassen und weil der Anblick
uberwiegender Vorzuge die stille Wut der Nichtswurdigkeit zu erzeugen pflegt;
daher eben Goethe sagt:
Was klagst du uber Feinde? Sollten
solche je werden Freunde, Denen das Wesen, wie du bist, Im Stillen
ein ewiger Vorwurf ist?
*W. O. Divan.*
Man sieht, wie sehr
viel gerade die Leute der zuletzt geschilderten Art dem Ehrenprinzip zu
danken haben; da es sie mit denen nivellirt, welche ihnen sonst in jeder
Beziehung unerreichbar waren. -- Hat nun ein solcher geschimpft, d. h. dem
andern eine schlechte Eigenschaft zugesprochen; so gilt dies, vor der Hand,
als ein objektiv wahres und gegrundetes Urteil, ein rechtskraftiges Dekret,
ja, es bleibt fur alle Zukunft wahr und gultig, wenn es nicht alsbald mit
Blut ausgeloscht wird: d. h. der Geschimpfte bleibt (in den Augen aller
≫Leute von Ehre≪) das, was der Schimpfer (und ware dieser der letzte
aller Erdensohne) ihn genannt hat: denn er hat es (dies ist der
_terminus technicus_) ≫auf sich sitzen lassen.≪ Demgemaß werden die ≫Leute
von Ehre≪ ihn jetzt durchaus verachten, ihn wie einen Verpesteten
fliehen, z. B. sich laut und offentlich weigern, in eine Gesellschaft zu
gehn, wo er Zutritt hat usw. -- Den Ursprung dieser weisen
Grundansicht glaube ich mit Sicherheit darauf zuruckfuhren zu konnen, daß
(nach C. G. von Wachters ≫Beitrage zur deutschen Geschichte, besonders
des deutschen Strafrechts≪ 1845) im Mittelalter, bis ins 15.
Jahrhundert, bei Kriminalprozessen nicht der Anklager die Schuld, sondern
der Angeklagte seine Unschuld zu beweisen hatte. Dies konnte
geschehen durch einen Reinigungseid, zu welchem er jedoch noch der
Eideshelfer (_consacramentales_) bedurfte, welche beschworen, sie seien
uberzeugt, daß er keines Meineides fahig sei. Hatte er diese nicht, oder ließ
der Anklager sie nicht gelten; so trat Gottesurteil ein, und
dieses bestand gewohnlich im Zweikampf. Denn der Angeklagte war jetzt
ein ≫Bescholtener≪ und hatte sich zu reinigen. Wir sehn hier den
Ursprung des Begriffs des Bescholtenseins und des ganzen Hergangs der
Dinge, wie er noch heute unter den ≫Leuten von Ehre≪ stattfindet, nur
mit Weglassung des Eides. Eben hier ergibt sich auch die Erklarung
der obligaten, hohen Indignation, mit welcher ≫Leute von Ehre≪ den
Vorwurf der Luge empfangen und blutige Rache dafur fordern, welches, bei
der Alltaglichkeit der Lugen, sehr seltsam erscheint, aber besonders
in England zum tiefwurzelnden Aberglauben erwachsen ist. (Wirklich
mußte jeder, der den Vorwurf der Luge mit dem Tode zu strafen droht,
in seinem Leben nicht gelogen haben.) Namlich in jenen
Kriminalprozessen des Mittelalters war die kurzere Form, daß der Angeklagte
dem Anklager erwiderte: ≫das lugst du;≪ worauf dann sofort auf Gottesurteil
erkannt wurde: daher also schreibt es sich, daß, nach dem
ritterlichen Ehrenkodex, auf den Vorwurf der Luge sogleich die Appellation an
die Waffen erfolgen muß. -- So viel, was das Schimpfen betrifft. Nun
aber gibt es sogar noch etwas Argeres als Schimpfen, etwas
so Erschreckliches, daß ich wegen dessen bloßer Erwahnung in diesem
Kodex der ritterlichen Ehre, die ≫Leute von Ehre≪ um Verzeihung zu
bitten habe, da ich weiß, daß beim bloßen Gedanken daran ihnen die
Haut schaudert und ihr Haar sich emporstraubt, indem es das _summum
malum_, der Ubel großtes auf der Welt, und arger als Tod und Verdammnis
ist. Es kann namlich, _horribile dictu_, einer dem andern einen Klaps
oder Schlag versetzen. Dies ist eine entsetzliche Begebenheit und
fuhrt einen so kompleten Ehrentod herbei, daß, wenn alle andern
Verletzungen der Ehre schon durch Blutlassen zu heilen sind, diese zu
ihrer grundlichen Heilung einen kompleten Totschlag erfordert.
3. Die
Ehre hat mit dem, was der Mensch an und fur sich sein mag, oder mit der
Frage, ob seine moralische Beschaffenheit sich jemals andern konne, und allen
solchen Schulfuchsereien, ganz und gar nichts zu tun; sondern wann sie
verletzt, oder vor der Hand verloren ist, kann sie, wenn man nur schleunig
dazutut, recht bald und vollkommen wieder hergestellt werden, durch ein
einziges Universalmittel, das Duell. Ist jedoch der Verletzer nicht aus den
Standen, die sich zum Kodex der ritterlichen Ehre bekennen, oder hat derselbe
diesem schon ein Mal zuwider gehandelt; so kann man, zumal wenn die
Ehrenverletzung eine tatliche, aber auch, wenn sie eine bloß wortliche
gewesen sein sollte, eine sichere Operation vornehmen, indem man, wenn man
bewaffnet ist, ihn auf der Stelle, allenfalls auch noch eine Stunde
nachher, niedersticht, wodurch dann die Ehre wieder heil ist. Außerdem
aber, oder wenn man, aus Besorgnis vor daraus entstehenden
Unannehmlichkeiten, diesen Schritt vermeiden mochte, oder wenn man bloß
ungewiß ist, ob der Beleidiger sich den Gesetzen der ritterlichen Ehre
unterwerfe, oder nicht, hat man ein Palliativmittel, an der ≫Avantage.≪
Diese besteht darin, daß, wenn er grob gewesen ist, man noch merklich
grober sei: geht dies mit Schimpfen nicht mehr an, so schlagt man drein,
und zwar ist auch hier ein Klimax der Ehrenrettung: Ohrfeigen werden
durch Stockschlage kurirt, diese durch Hetzpeitschenhiebe: selbst
gegen letztere wird von einigen das Anspucken als probat empfohlen. Nur
wenn man mit diesen Mitteln nicht mehr zur Zeit kommt, muß durchaus
zu blutigen Operationen geschritten werden. Diese Palliativmethode
hat ihren Grund eigentlich in der folgenden Maxime.
4. Wie
Geschimpftwerden eine Schande, so ist Schimpfen eine Ehre. Z. B. auf der
Seite meines Gegners sei Wahrheit, Recht und Vernunft; ich aber schimpfe; so
mussen diese alle einpacken, und Recht und Ehre ist auf meiner Seite: er
hingegen hat vorlaufig seine Ehre verloren, -- bis er sie herstellt, nicht
etwan durch Recht und Vernunft, sondern durch Schießen und Stechen. Demnach
ist die Grobheit eine Eigenschaft, welche, im Punkte der Ehre, jede andere
ersetzt oder uberwiegt: der Grobste hat allemal Recht: _quid multa?_ Welche
Dummheit, Ungezogenheit, Schlechtigkeit einer auch begangen haben mag; --
durch eine Grobheit wird sie als solche ausgeloscht und sofort
legitimiert. Zeigt etwan in einer Diskussion, oder sonst im Gesprach ein
anderer richtigere Sachkenntnis, strengere Wahrheitsliebe, gesunderes
Urteil, mehr Verstand als wir, oder uberhaupt, laßt er geistige
Vorzuge blicken, die uns in Schatten stellen; so konnen wir alle
dergleichen Uberlegenheiten und unsere eigene durch sie aufgedeckte
Durftigkeit sogleich aufheben und nun umgekehrt selbst uberlegen sein, indem
wir beleidigend und grob werden. Denn eine Grobheit besiegt jedes
Argument und eklipzirt allen Geist: wenn daher nicht etwan der Gegner
sich darauf einlaßt und sie mit einer großeren erwidert, wodurch wir in
den edlen Wettkampf der Avantage geraten; so bleiben wir Sieger und
die Ehre ist auf unserer Seite: Wahrheit, Kenntnis, Verstand, Geist,
Witz mussen einpacken und sind aus dem Felde geschlagen von der
gottlichen Grobheit. Daher werden ≫Leute von Ehre≪, sobald jemand eine
Meinung außert, die von der ihrigen abweicht, oder auch nur mehr
Verstand zeigt, als sie ins Feld stellen konnen, sogleich Miene machen,
jenes Kampfroß zu besteigen; und wenn etwan, in einer Kontroverse, es
ihnen an einem Gegenargument fehlt, so suchen sie nach einer Grobheit,
als welche ja denselben Dienst leistet und leichter zu finden ist:
darauf gehn sie siegreich von dannen. Man sieht schon hier, wie sehr
mit Recht dem Ehrenprinzip die Veredelung des Tones in der
Gesellschaft nachgeruhmt wird. -- Diese Maxime beruht nun wieder auf der
folgenden, welche die eigentliche Grundmaxime und die Seele des ganzen Kodex
ist.
5. Der oberste Richterstuhl des Rechts, an den man, in
allen Differenzen, von jedem andern, soweit es die Ehre betrifft,
appelliren kann, ist der der physischen Gewalt, d. h. der Tierheit. Denn
jede Grobheit ist eigentlich eine Appellation an die Tierheit, indem
sie den Kampf der geistigen Krafte, oder des moralischen Rechts,
fur inkompetent erklart und an deren Stelle den Kampf der
physischen Krafte setzt, welcher bei der Spezies Mensch, die von *Franklin*
ein _toolmaking animal_ (Werkzeuge verfertigendes Tier) definirt wird,
mit den ihr demnach eigentumlichen Waffen, im Duell, vollzogen wird
und eine unwiderrufliche Entscheidung herbeifuhrt. -- Diese
Grundmaxime wird bekanntlich, mit einem Worte, durch den Ausdruck
*Faustrecht*, welcher dem Ausdruck *Aberwitz* analog und daher, wie dieser,
ironisch ist, bezeichnet: demnach sollte, ihm gemaß, die ritterliche Ehre
die Faust-Ehre heißen. --
6. Hatten wir, weiter oben, die burgerliche
Ehre sehr skrupulos gefunden im Punkte des Mein und Dein, der
eingegangenen Verpflichtungen und des gegebenen Wortes; so zeigt hingegen der
hier in Betrachtung genommene Kodex darin die nobelste Liberalitat.
Namlich nur *ein* Wort darf nicht gebrochen werden, das Ehrenwort, d. h.
das Wort, bei dem man gesagt hat ≫auf Ehre!≪ -- woraus die
Prasumtion entsteht, daß jedes andere Wort gebrochen werden darf. Sogar bei
dem Bruch dieses Ehrenworts laßt sich zur Not die Ehre noch retten,
durch das Universalmittel, das Duell, hier mit denjenigen, welche
behaupten, wir hatten das Ehrenwort gegeben. -- Ferner: nur *eine* Schuld
gibt es, die unbedingt bezahlt werden muß, -- die Spielschuld, welche
auch demgemaß den Namen ≫Ehrenschuld≪ fuhrt. Um alle ubrigen Schulden
mag man Juden und Christen prellen: das schadet der ritterlichen Ehre
durchaus nicht. -- |
|
댓글 없음:
댓글 쓰기