2014년 11월 20일 목요일

Aphorismen zur Lebensweisheit 5

Aphorismen zur Lebensweisheit 5


So schwer es demnach ist, den Ruhm zu erlangen, so leicht ist es, ihn
zu behalten. Auch hierin steht er im Gegensatz mit der Ehre. Diese
wird jedem, sogar auf Kredit, verliehen: er hat sie nur zu bewahren.
Hier aber liegt die Aufgabe: denn durch eine einzige, nichtswurdige
Handlung geht sie unwiederbringlich verloren. Der Ruhm hingegen kann
eigentlich nie verloren gehn: denn die Tat, oder das Werk, durch die
er erlangt worden, stehen fur immer fest, und der Ruhm derselben
bleibt ihrem Urheber, auch wenn er keinen neuen hinzufugt. Wenn jedoch
der Ruhm wirklich verklingt, wenn er uberlebt wird; so war er unecht,
d. h. unverdient, durch augenblickliche Uberschatzung entstanden, wo
nicht gar so ein Ruhm wie Hegel ihn hatte und Lichtenberg ihn
beschreibt, ≫ausposaunt von einer freundschaftlichen Kandidatenjunta
und vom Echo leerer Kopfe widergehallt; -- -- aber die Nachwelt, wie
wird sie lacheln, wann sie dereinst an die bunten Wortergehause, die
schonen Nester ausgeflogener Mode und die Wohnungen weggestorbener
Verabredungen anklopfen und alles, alles leer finden wird, auch nicht
den kleinsten Gedanken, der mit Zuversicht sagen konnte: *herein*!≪ --

Der Ruhm beruht eigentlich auf dem, was einer im Vergleich mit den
Ubrigen ist. Demnach ist er wesentlich ein Relatives, kann daher auch
nur relativen Wert haben. Er fiele ganz weg, wenn die Ubrigen wurden
was der Geruhmte ist. Absoluten Wert kann nur das haben, was ihn unter
allen Umstanden behalt, also hier, was einer unmittelbar und fur sich
selbst ist: folglich muß hierin der Wert und das Gluck des großen
Herzens und des großen Kopfes liegen. Also nicht der Ruhm, sondern
das, wodurch man ihn verdient, ist das Wertvolle. Denn es ist
gleichsam die Substanz und der Ruhm nur das Akzidenz der Sache: ja
dieser wirkt auf den Geruhmten hauptsachlich als ein außerliches
Symptom, durch welches er die Bestatigung seiner eigenen hohen Meinung
von sich selbst erhalt; demnach man sagen konnte, daß, wie das Licht
gar nicht sichtbar ist, wenn es nicht von einem Korper zuruckgeworfen
wird; ebenso jede Trefflichkeit erst durch den Ruhm ihrer selbst recht
gewiß wird. Allein er ist nicht einmal ein untrugliches Symptom; da es
auch Ruhm ohne Verdienst und Verdienst ohne Ruhm gibt; weshalb ein
Ausdruck Lessings so artig herauskommt: ≫einige Leute sind beruhmt,
und andere verdienen es zu sein.≪ Auch ware es eine elende Existenz,
deren Wert oder Unwert darauf beruhte, wie sie in den Augen anderer
erschiene: eine solche aber ware das Leben des Helden und des Genies,
wenn dessen Wert im Ruhme, d. h. im Beifall anderer, bestande.
Vielmehr lebt und existiert ja jegliches Wesen seiner selbst wegen,
daher auch zunachst in sich und fur sich. -- Was einer ist, in welcher
Art und Weise es auch sei, das ist er zuvorderst und hauptsachlich fur
sich selbst: und wenn es hier nicht viel wert ist, so ist es uberhaupt
nicht viel. Hingegen ist das Abbild seines Wesens in den Kopfen
anderer ein Sekundares, Abgeleitetes und dem Zufall Unterworfenes,
welches nur sehr mittelbar sich auf das erstere zuruckbezieht. Zudem
sind die Kopfe der Menge ein zu elender Schauplatz, als daß auf ihm
das wahre Gluck seinen Ort haben konnte. Vielmehr ist daselbst nur ein
chimarisches Gluck zu finden. Welche gemischte Gesellschaft trifft
doch in jenem Tempel des allgemeinen Ruhms zusammen! Feldherren,
Minister, Quacksalber, Gaukler, Tanzer, Sanger, Millionare und Juden:
ja die Vorzuge aller dieser werden dort viel aufrichtiger geschatzt,
finden viel mehr _estime sentie_, als die geistigen, zumal der hohen
Art, die ja bei der großen Mehrzahl nur eine _estime sur parole_
erlangen. In eudamonologischer Hinsicht ist also der Ruhm nichts
weiter, als der seltenste und kostlichste Bissen fur unsern Stolz und
unsere Eitelkeit. Diese aber sind in den meisten Menschen, obwohl sie
es verbergen, ubermaßig vorhanden, vielleicht sogar am starkesten in
denen, die irgendwie geeignet sind, sich Ruhm zu erwerben und daher
meistens das unsichere Bewußtsein ihres uberwiegenden Wertes lange in
sich herumtragen mussen, ehe die Gelegenheit kommt, solchen zu
erproben und dann die Anerkennung desselben zu erfahren: bis dahin war
ihnen zu Mute, als erlitten sie ein heimliches Unrecht[J]. Uberhaupt
aber ist ja, wie am Anfange dieses Kapitels erortert worden, der Wert,
den der Mensch auf die Meinung anderer von ihm legt, ganz
unverhaltnismaßig und unvernunftig; so daß *Hobbes* die Sache zwar
sehr stark, aber vielleicht doch richtig ausgedruckt hat in den
Worten: _omnis animi voluptas, omnisque alacritas in eo sita est, quod
quis habeat quibuscum conferens se, possit magnifice sentire de se
ipso_ (_de cive. I, 5_). Hieraus ist der hohe Wert erklarlich, den man
allgemein auf den Ruhm legt, und die Opfer, welche man bringt, in der
bloßen Hoffnung, ihn dereinst zu erlangen:

    _Fame is the spur, that the clear spirit doth raise
    (That last infirmity of noble minds)
    To scorn delights and live laborious days._

wie auch:

                            _how hard it is to climb
    The hights where Fame's proud temple shines afar._

  [J] Da unser großtes Vergnugen darin besteht, *bewundert* zu werden,
  die Bewunderer aber, selbst wo alle Ursache ware, sich ungern dazu
  herbeilassen; so ist er der Glucklichste Der, welcher, gleichviel wie,
  es dahin gebracht hat, sich selbst aufrichtig zu bewundern. Nur mussen
  die andern ihn nicht irre machen.

Hieraus endlich erklart es sich auch, daß die eitelste aller Nationen
bestandig _la gloire_ im Munde fuhrt und solche unbedenklich als die
Haupttriebfeder zu großen Taten und großen Werken ansieht. -- Allein,
da unstreitig der Ruhm nur das Sekundare ist, das bloße Echo, Abbild,
Schatten, Symptom des Verdienstes, und da jedenfalls das Bewunderte
mehr Wert haben muß als die Bewunderung, so kann das eigentlich
Begluckende nicht im Ruhme liegen, sondern in dem, wodurch man ihn
erlangt, also im Verdienste selbst, oder, genauer zu reden, in der
Gesinnung und den Fahigkeiten, aus denen es hervorging, es mag nun
moralischer oder intellektueller Art sein. Denn das Beste, was jeder
ist, muß er notwendig fur sich selbst sein: was davon in den Kopfen
anderer sich abspiegelt und er in ihrer Meinung gilt, ist Nebensache
und kann nur von untergeordnetem Interesse fur ihn sein. Wer demnach
nur den Ruhm *verdient*, auch ohne ihn zu erhalten, besitzt bei weitem
die Hauptsache, und was er entbehrt, ist etwas, daruber er sich mit
derselben trosten kann. Denn nicht daß einer von der urteilslosen, so
oft betorten Menge fur einen großen Mann gehalten werde, sondern daß
er es sei, macht ihn beneidenswert; auch nicht, daß die Nachwelt von
ihm erfahre, sondern daß in ihm sich Gedanken erzeugen, welche
verdienen, Jahrhunderte hindurch aufbewahrt und nachgedacht zu werden,
ist ein hohes Gluck. Zudem kann dieses ihm nicht entrissen werden: es
ist =ton eph' hemin=, jenes andere =ton ouk eph' hemin=. Ware hingegen
die Bewunderung selbst die Hauptsache; so ware das Bewunderte ihrer
nicht wert. Dies ist wirklich der Fall beim falschen, d. i.
unverdienten Ruhm. An diesem muß sein Besitzer zehren, ohne das, wovon
derselbe das Symptom, der bloße Abglanz, sein soll, wirklich zu haben.
Aber sogar dieser Ruhm selbst muß ihm oft verleidet werden, wann
bisweilen, trotz aller, aus der Eigenliebe entspringenden
Selbsttauschung, ihm auf der Hohe, fur die er nicht geeignet ist, doch
schwindelt, oder ihm zu Mute wird, als ware er ein kupferner Dukaten;
wo dann die Angst vor Enthullung und verdienter Demutigung ihn
ergreift, zumal wann er auf den Stirnen der Weiseren schon das Urteil
der Nachwelt liest. Er gleicht sonach dem Besitzer durch ein falsches
Testament. -- Den echtesten Ruhm, den Nachruhm, vernimmt sein
Gegenstand ja nie, und doch schatzt man ihn glucklich. Also bestand
sein Gluck in den großen Eigenschaften selbst, die ihm den Ruhm
erwarben, und darin, daß er Gelegenheit fand, sie zu entwickeln, also
daß ihm vergonnt wurde, zu handeln, wie es ihm angemessen war, oder zu
treiben, was er mit Lust und Liebe trieb: denn nur die aus dieser
entsprungenen Werke erlangen Nachruhm. Sein Gluck bestand also in
seinem großen Herzen, oder auch im Reichtum eines Geistes, dessen
Abdruck, in seinen Werken, die Bewunderung kommender Jahrhunderte
erhalt; es bestand in den Gedanken selbst, welchen nachzudenken, die
Beschaftigung und der Genuß der edelsten Geister einer unabsehbaren
Zukunft ward. Der Wert des Nachruhms liegt also im Verdienen
desselben, und dieses ist sein eigener Lohn. Ob nun die Werke, welche
ihn erwarben, unterweilen auch den Ruhm der Zeitgenossen hatten, hing
von zufalligen Umstanden ab und war nicht von großer Bedeutung. Denn
da die Menschen in der Regel ohne eigenes Urteil sind und zumal hohe
und schwierige Leistungen abzuschatzen durchaus keine Fahigkeit haben;
so folgen sie hier stets fremder Autoritat, und der Ruhm, in hoher
Gattung, beruht bei 99 unter 100 Ruhmern, bloß auf Treu und Glauben.
Daher kann auch der vielstimmigste Beifall der Zeitgenossen fur
denkende Kopfe nur wenig Wert haben, indem sie in ihm stets nur das
Echo weniger Stimmen horen, die zudem selbst nur sind, wie der Tag sie
gebracht hat. Wurde wohl ein Virtuose sich geschmeichelt fuhlen durch
das laute Beifallsklatschen seines Publikums, wenn ihm bekannt ware,
daß es, bis auf einen oder zwei, aus lauter vollig Tauben bestande,
die, um einander gegenseitig ihr Gebrechen zu verbergen, eifrig
klatschen, sobald sie die Hande jenes Einen in Bewegung sahen? Und nun
gar, wenn die Kenntnis hinzukame, daß jene Vorklatscher sich oft
bestechen ließen, um dem elendesten Geiger den lautesten Applaus zu
verschaffen! -- Hieraus ist erklarlich, warum der Ruhm der
Zeitgenossen so selten die Metamorphose in Nachruhm erlebt; weshalb
*d'Alembert*, in seiner uberaus schonen Beschreibung des Tempels des
literarischen Ruhmes, sagt: ≫das Innere des Tempels ist von lauter
Toten bewohnt, die wahrend ihres Lebens nicht darin waren, und von
einigen Lebenden, welche fast alle, wann sie sterben, hinausgeworfen
werden.≪ Und beilaufig sei es hier bemerkt, daß einem bei Lebzeiten
ein Monument setzen die Erklarung ablegen heißt, daß hinsichtlich
seiner der Nachwelt nicht zu trauen sei. -- Wenn dennoch einer den
Ruhm, welcher zum Nachruhm werden soll, erlebt, so wird es selten
fruher als im Alter geschehn: allenfalls gibt es bei Kunstlern und
Dichtern Ausnahmen von dieser Regel, am wenigsten bei Philosophen.
Eine Bestatigung derselben geben die Bildnisse der durch ihre Werke
beruhmten Manner, da dieselben meistens erst nach dem Eintritt ihrer
Zelebritat angefertigt wurden: in der Regel sind sie alt und grau
dargestellt, namentlich die Philosophen. Inzwischen steht,
eudamonologisch genommen, die Sache ganz recht. Ruhm und Jugend auf
einmal ist zu viel fur einen Sterblichen. Unser Leben ist so arm, daß
seine Guter haushalterischer verteilt werden mussen. Die Jugend hat
vollauf genug an ihrem eigenen Reichtum und kann sich daran genugen
lassen. Aber im Alter, wann alle Genusse und Freuden, wie die Baume im
Winter, abgestorben sind, dann schlagt am gelegensten der Baum des
Ruhmes aus, als ein achtes Wintergrun: auch kann man ihn den
Winterbirnen vergleichen, die im Sommer wachsen, aber im Winter
genossen werden. Im Alter gibt es keinen schonern Trost, als daß man
die ganze Kraft seiner Jugend *Werken* einverleibt hat, die nicht
*mit* altern.

Wollen wir jetzt noch etwas naher die Wege betrachten, auf welchen
man, in den Wissenschaften, als dem uns zunachst liegenden, Ruhm
erlangt; so laßt sich hier folgende Regel aufstellen. Die durch
solchen Ruhm bezeichnete intellektuelle Uberlegenheit wird allemal an
den Tag gelegt durch eine neue Kombination irgendwelcher Data. Diese
nun konnen sehr verschiedener Art sein; jedoch wird der durch ihre
Kombination zu erlangende Ruhm um so großer und ausgebreiteter sein,
je mehr sie selbst allgemein bekannt und jedem zuganglich sind.
Bestehn z. B. die Data in einigen Zahlen oder Kurven, oder auch in
irgend einer speziellen physikalischen, zoologischen, botanischen oder
anatomischen Tatsache, oder auch in einigen verdorbenen Stellen alter
Autoren, oder in halbverloschten Inschriften, oder in solchen, deren
Alphabet uns fehlt, oder in dunkeln Punkten der Geschichte; so wird
der durch die richtige Kombination derselben zu erlangende Ruhm sich
nicht viel weiter erstrecken, als die Kenntnis der Data selbst, also
auf eine kleine Anzahl meistens zuruckgezogen lebender und auf den
Ruhm in ihrem Fache neidischer Leute. -- Sind hingegen die Data
solche, welche das ganze Menschengeschlecht kennt, sind es z. B.
wesentliche, allen gemeinsame Eigenschaften des menschlichen
Verstandes, oder Gemutes, oder Naturkrafte, deren ganze Wirkungsart
wir bestandig vor Augen haben, oder der allbekannte Lauf der Natur
uberhaupt; so wird der Ruhm, durch eine neue, wichtige und evidente
Kombination Licht uber sie verbreitet zu haben, sich mit der Zeit fast
uber die ganze zivilisirte Welt erstrecken. Denn, sind die Data jedem
zuganglich, so wird ihre Kombination es meistens auch sein. -- Dennoch
wird hiebei der Ruhm allemal nur der uberwundenen Schwierigkeit
entsprechen. Denn, je allbekannter die Data sind, desto schwerer ist
es, sie auf eine neue und doch richtige Weise zu kombiniren; da schon
eine uberaus große Anzahl von Kopfen sich an ihnen versucht und die
unmoglichen Kombinationen derselben erschopft hat. Hingegen werden
Data, welche, dem großen Publiko unzuganglich, nur auf muhsamen und
schwierigen Wegen erreichbar sind, fast immer noch neue Kombinationen
zulassen: wenn man daher an solche nur mit geradem Verstande und
gesunder Urteilskraft, also einer maßigen geistigen Uberlegenheit,
kommt; so ist es leicht moglich, daß man eine neue und richtige
Kombination derselben zu machen das Gluck habe. Allein der hiedurch
erworbene Ruhm wird ungefahr dieselben Grenzen haben, wie die Kenntnis
der Data. Denn zwar erfordert die Losung von Problemen solcher Art
großes Studium und Arbeit, schon um nur die Kenntnis der Data zu
erlangen; wahrend in jener andern Art, in welcher eben der großte und
ausgebreiteteste Ruhm zu erwerben ist, die Data unentgeltlich gegeben
sind: allein in dem Maße, wie diese letztere Art weniger Arbeit
erfordert, gehort mehr Talent ja Genie dazu, und mit diesen halt,
hinsichtlich des Wertes und der Wertschatzung, keine Arbeit oder
Studium den Vergleich aus.

Hieraus nun ergibt sich, daß die, welche einen tuchtigen Verstand und
ein richtiges Urteil in sich spuren, ohne jedoch die hochsten
Geistesgaben sich zuzutrauen, viel Studium und ermudende Arbeit nicht
scheuen durfen, um mittelst dieser sich aus dem großen Haufen der
Menschen, welchen die allbekannten Data vorliegen, herauszuarbeiten
und zu den entlegeneren Orten zu gelangen, welche nur dem gelehrten
Fleiße zuganglich sind. Denn hier, wo die Zahl der Mitbewerber
unendlich verringert ist, wird auch der nur einigermaßen uberlegene
Kopf bald zu einer neuen und richtigen Kombination der Data
Gelegenheit finden: sogar wird das Verdienst seiner Entdeckung sich
mit auf die Schwierigkeit, zu den Datis zu gelangen, stutzen. Aber der
also erworbene Applaus seiner Wissensgenossen, als welche die
alleinigen Kenner in diesem Fache sind, wird von der großen Menge der
Menschen nur von Weitem vernommen werden. -- Will man nun den hier
angedeuteten Weg bis zum Extrem verfolgen; so laßt sich der Punkt
nachweisen, wo die Data, wegen der großen Schwierigkeit ihrer
Erlangung, fur sich allein und ohne daß eine Kombination derselben
erfordert ware, den Ruhm zu begrunden hinreichen. Dies leisten Reisen
in sehr entlegene und wenig besuchte Lander: man wird beruhmt durch
das, was man gesehen, nicht durch das, was man gedacht hat. Dieser Weg
hat auch noch einen großen Vorteil darin, daß es viel leichter ist,
was man gesehn, als was man gedacht hat, andern mitzuteilen und es mit
dem Verstandnis sich ebenso verhalt: demgemaß wird man fur das Erstere
auch viel mehr Leser finden als fur das andere. Denn, wie schon Asmus
sagt:

    ≫Wenn jemand eine Reise tut,
    So kann er was erzahlen.≪

Diesem allen entspricht es aber auch, daß, bei der personlichen
Bekanntschaft beruhmter Leute dieser Art einem oft die Horazische
Bemerkung einfallt:

    _Coelum, non animum, mutant, qui trans mare currunt._

    (_Epist. I, 11, v. 27._)

Was aber nun andrerseits den mit hohen Fahigkeiten ausgestatteten Kopf
betrifft, als welcher allein sich an die Losung der großen, das
Allgemeine und Ganze betreffenden und daher schwierigsten Probleme
wagen darf; so wird dieser zwar wohl daran tun, seinen Horizont
moglichst auszudehnen, jedoch immer gleichmaßig, nach allen Seiten,
und ohne je sich zu weit in irgend eine der besonderen und nur Wenigen
bekannten Regionen zu verlieren, d. h. ohne auf die Spezialitaten
irgend einer einzelnen Wissenschaft weit einzugehen, geschweige sich
mit den Mikrologien zu befassen. Denn er hat nicht notig, sich an die
schwer zuganglichen Gegenstande zu machen, um dem Gedrange der
Mitbewerber zu entgehn; sondern eben das allen Vorliegende wird ihm
Stoff zu neuen, wichtigen und wahren Kombinationen geben. Dem nun aber
gemaß wird sein Verdienst von allen denen geschatzt werden konnen,
welchen die Data bekannt sind, also von einem großen Teile des
menschlichen Geschlechts. Hierauf grundet sich der machtige
Unterschied zwischen dem Ruhm, den Dichter und Philosophen erlangen,
und dem, welcher Physikern, Chemikern, Anatomen, Mineralogen,
Zoologen, Philologen, Historikern usw. erreichbar ist.




Kapitel V.

Paranesen und Maximen.


Weniger noch, als irgendwo, bezwecke ich hier Vollstandigkeit; da ich
sonst die vielen, von Denkern aller Zeiten aufgestellten, zum Teil
vortrefflichen Lebensregeln zu wiederholen haben wurde, vom Theognis
und Pseudo-Salomo an, bis auf den Rochefoucauld herab; wobei ich dann
auch viele, schon breit getretene Gemeinplatze nicht wurde vermeiden
konnen. Mit der Vollstandigkeit fallt aber auch die systematische
Anordnung großtenteils weg. Uber beide troste man sich damit, daß sie,
in Dingen dieser Art, fast unausbleiblich die Langeweile in ihrem
Gefolge haben. Ich habe bloß gegeben, was mir eben eingefallen ist,
der Mitteilung wert schien und, so viel mir erinnerlich, noch nicht,
wenigstens nicht ganz und eben so, gesagt worden ist, also eben nur
eine Nachlese zu dem auf diesem unabsehbaren Felde bereits von andern
Geleisteten.

Um jedoch in die große Mannigfaltigkeit der hierher gehorigen
Ansichten und Ratschlage einige Ordnung zu bringen, will ich sie
einteilen in allgemeine, in solche, welche unser Verhalten gegen uns
selbst, dann gegen andere, und endlich gegen den Weltlauf und das
Schicksal betreffen.


A. Allgemeine.

1. Als die oberste Regel aller Lebensweisheit sehe ich einen Satz an,
den *Aristoteles* beilaufig ausgesprochen hat, in der Nikomachaischen
Ethik (_VII, 12_): =ho phronimos to alypon diokei, ou to hedy= (_quod
dolore vacat, non quod suave est, persequitur vir prudens_). Besser
noch deutsch ließe sich dieser Satz etwan so wiedergeben: ≫Nicht dem
Vergnugen, der Schmerzlosigkeit geht der Vernunftige nach≪; oder: ≫Der
Vernunftige geht auf Schmerzlosigkeit, nicht auf Genuß aus.≪ Die
Wahrheit desselben beruht darauf, daß aller Genuß und alles Gluck
negativer, hingegen der Schmerz positiver Natur ist. Die Ausfuhrung
und Begrundung dieses letzteren Satzes findet man in meinem Hauptwerke
Bd. I, § 58. Doch will ich denselben hier noch an einer taglich zu
beobachtenden Tatsache erlautern. Wenn der ganze Leib gesund und heil
ist, bis auf irgend eine kleine wunde, oder sonst schmerzende Stelle;
so tritt jene Gesundheit des Ganzen weiter nicht ins Bewußtsein,
sondern die Aufmerksamkeit ist bestandig auf den Schmerz der
verletzten Stelle gerichtet und das Behagen der gesamten
Lebensempfindung ist aufgehoben. -- Ebenso, wenn alle unsere
Angelegenheiten nach unserem Sinne gehen, bis auf *eine*, die unserer
Absicht zuwider lauft, so kommt diese, auch wenn sie von geringer
Bedeutung ist, uns immer wieder in den Kopf: wir denken haufig an sie
und wenig an alle jene andern wichtigeren Dinge, die nach unserem
Sinne gehn. -- In beiden Fallen nun ist das Beeintrachtigte der Wille,
einmal, wie er sich im Organismus, das andere, wie er sich im Streben
des Menschen objektivirt, und in beiden sehen wir, daß seine
Befriedigung immer nur negativ wirkt und daher gar nicht direkt
empfunden wird, sondern hochstens auf dem Wege der Reflexion ins
Bewußtsein kommt. Hingegen ist seine Hemmung das Positive und daher
sich selbst Ankundigende. Jeder Genuß besteht bloß in der Aufhebung
dieser Hemmung, in der Befreiung davon, ist mithin von kurzer Dauer.

Hierauf nun also beruht die oben belobte Aristotelische Regel, welche
uns anweist, unser Augenmerk nicht auf die Genusse und Annehmlichkeiten
des Lebens zu richten, sondern darauf, daß wir den zahllosen Ubeln
desselben, so weit es moglich ist, entgehn. Ware dieser Weg nicht der
richtige: so mußte auch *Voltaires* Ausspruch, _le bonheur n'est qu'un
reve, et la douleur est reelle_, so falsch sein, wie er in der Tat
wahr ist. Demnach soll auch der, welcher das Resultat seines Lebens,
in eudamonologischer Rucksicht, ziehn will, die Rechnung nicht nach
den Freuden, die er genossen, sondern nach den Ubeln, denen er
entgangen ist, aufstellen. Ja, die Eudamonologie hat mit der Belehrung
anzuheben, daß ihr Name selbst ein Euphemismus ist und daß unter
≫glucklich leben≪ nur zu verstehn ist ≫weniger unglucklich≪, also
ertraglich leben. Allerdings ist das Leben nicht eigentlich da, um
genossen, sondern um uberstanden, abgetan zu werden; dies bezeichnen
auch manche Ausdrucke, wie _degere vitam, vita defungi_, das
Italienische _si scampa cosi_, das Deutsche ≫man muß suchen
durchzukommen≪, ≫er wird schon durch die Welt kommen≪, u. dgl. m. Ja,
es ist ein Trost im Alter, daß man die Arbeit des Lebens hinter sich
hat. Demnach nun hat das glucklichste Los der, welcher sein Leben ohne
ubergroße Schmerzen, sowohl geistige, als korperliche, hinbringt;
nicht aber der, dem die lebhaftesten Freuden oder die großten Genusse
zuteil geworden. Wer nach diesen letzteren das Gluck eines
Lebenslaufes bemessen will, hat einen falschen Maßstab ergriffen. Denn
die Genusse sind und bleiben negativ: daß sie beglucken, ist ein Wahn,
den der Neid, zu seiner eigenen Strafe, hegt. Die Schmerzen hingegen
werden positiv empfunden: daher ist ihre Abwesenheit der Maßstab des
Lebensgluckes. Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die
Abwesenheit der Langenweile; so ist das irdische Gluck im Wesentlichen
erreicht: denn das Ubrige ist Chimare. Hieraus nun folgt, daß man nie
Genusse durch Schmerzen, ja, auch nur durch die Gefahr derselben,
erkaufen soll; weil man sonst ein Negatives und daher Chimarisches mit
einem Positiven und Realen bezahlt. Hingegen bleibt man im Gewinn,
wenn man Genusse opfert, um Schmerzen zu entgehn. In beiden Fallen ist
es gleichgultig, ob die Schmerzen den Genussen nachfolgen, oder
vorhergehn. Es ist wirklich die großte Verkehrtheit, diesen Schauplatz
des Jammers in einen Lustort verwandeln zu wollen und, statt der
moglichsten Schmerzlosigkeit, Genusse und Freuden sich zum Ziele zu
stecken, wie doch so viele tun. Viel weniger irrt, wer, mit zu
finsterem Blicke, diese Welt als eine Art Holle ansieht und demnach
nur darauf bedacht ist, sich in derselben eine feuerfeste Stube zu
verschaffen. Der Tor lauft den Genussen des Lebens nach und sieht sich
betrogen: der Weise vermeidet die Ubel. Sollte ihm jedoch auch dieses
mißglucken; so ist es dann die Schuld des Geschicks, nicht die seiner
Torheit. So weit es ihm aber gluckt, ist er nicht betrogen: denn die
Ubel, denen er aus dem Wege ging, sind hochst real. Selbst wenn er
etwan ihnen zu weit aus dem Wege gegangen sein sollte und Genusse
unnotigerweise geopfert hatte; so ist eigentlich doch nichts verloren:
denn alle Genusse sind chimarisch, und uber die Versaumnis derselben
zu trauern ware kleinlich, ja lacherlich.

Das Verkennen dieser Wahrheit, durch den Optimismus begunstigt, ist
die Quelle vielen Unglucks. Wahrend wir namlich von Leiden frei sind,
spiegeln unruhige Wunsche uns die Chimaren eines Gluckes vor, das gar
nicht existirt, und verleiten uns sie zu verfolgen: dadurch bringen
wir den Schmerz, der unleugbar real ist, auf uns herab. Dann jammern
wir uber den verlorenen schmerzlosen Zustand, der, wie ein
verscherztes Paradies, hinter uns liegt, und wunschen vergeblich, das
Geschehene ungeschehen machen zu konnen. So scheint es, als ob ein
boser Damon uns aus dem schmerzlosen Zustande, der das hochste
wirkliche Gluck ist, stets herauslockte, durch die Gaukelbilder der
Wunsche. -- Unbesehens glaubt der Jungling, die Welt sei da, um
genossen zu werden, sie sei der Wohnsitz eines positiven Gluckes,
welches nur die verfehlen, denen es an Geschick gebricht, sich seiner
zu bemeistern. Hierin bestarken ihn Romane und Gedichte, wie auch die
Gleißnerei, welche die Welt, durchgangig und uberall, mit dem außern
Scheine treibt und auf die ich bald zuruckkommen werde. Von nun an ist
sein Leben eine, mit mehr oder weniger Uberlegung angestellte Jagd
nach dem positiven Gluck, welches, als solches, aus positiven Genussen
bestehn soll. Die Gefahren, denen man sich dabei aussetzt, mussen in
die Schanze geschlagen werden. Da fuhrt denn diese Jagd nach einem
Wilde, welches gar nicht existiert, in der Regel, zu sehr realem,
positivem Ungluck. Dies stellt sich ein als Schmerz, Leiden,
Krankheit, Verlust, Sorge, Armut, Schande und tausend Note. Die
Enttauschung kommt zu spat. -- Ist hingegen, durch Befolgung der hier
in Betracht genommenen Regel, der Plan des Lebens auf Vermeidung der
Leiden, also auf Entfernung des Mangels, der Krankheit und jeder Not,
gerichtet; so ist das Ziel ein reales: da laßt sich etwas ausrichten,
und um so mehr, je weniger dieser Plan gestort wird durch das Streben
nach der Chimare des positiven Glucks. Hiezu stimmt auch, was
*Goethe*, in den Wahlverwandtschaften, den fur das Gluck der andern
stets tatigen *Mittler* sagen laßt: ≫Wer ein Ubel los sein will, der
weiß immer was er will: wer was besseres will, als er hat, der ist
ganz staarblind.≪ Und dieses erinnert an den schonen franzosischen
Ausspruch: _le mieux est l'ennemi du bien_. Ja, hieraus ist sogar der
Grundgedanke des Zynismus abzuleiten, wie ich ihn dargelegt habe, in
meinem Hauptwerke, Bd. 2, Kap. 16. Denn, was bewog die Zyniker zur
Verwerfung aller Genusse, wenn es nicht eben der Gedanke an die mit
ihnen, naher oder ferner, verknupften Schmerzen war, welchen aus dem
Wege zu gehn ihnen viel wichtiger schien, als die Erlangung jener. Sie
waren tief ergriffen von der Erkenntnis der Negativitat des Genusses
und der Positivitat des Schmerzes; daher sie, konsequent, alles taten
fur die Vermeidung der Ubel, hierzu aber die vollige und absichtliche
Verwerfung der Genusse notig erachteten; weil sie in diesen nur
Fallstricke sahen, die uns dem Schmerze uberliefern.

In Arkadien geboren, wie Schiller sagt, sind wir freilich alle: d. h.
wir treten in die Welt, voll Anspruche auf Gluck und Genuß, und hegen
die torichte Hoffnung, solche durchzusetzen. In der Regel jedoch kommt
bald das Schicksal, packt uns unsanft an und belehrt uns, daß nichts
*unser* ist, sondern alles *sein*, indem es ein unbestrittenes Recht
hat, nicht nur auf allen unsern Besitz und Erwerb und auf Weib und
Kind, sondern sogar auf Arm und Bein, Auge und Ohr, ja, auf die Nase
mitten im Gesicht. Jedenfalls aber kommt, nach einiger Zeit die
Erfahrung und bringt die Einsicht, daß Gluck und Genuß eine Fata
Morgana sind, welche, nur aus der Ferne sichtbar, verschwindet, wenn
man herangekommen ist; daß hingegen Leiden und Schmerz Realitat haben,
sich selbst unmittelbar vertreten und keiner Illusion noch Erwartung
bedurfen. Fruchtet nun die Lehre; so horen wir auf, nach Gluck und
Genuß zu jagen, und sind vielmehr darauf bedacht, dem Schmerz und
Leiden moglichst den Zugang zu versperren. Wir erkennen alsdann, daß
das Beste, was die Welt zu bieten hat, eine schmerzlose, ruhige,
ertragliche Existenz ist, und beschranken unsere Anspruche auf diese,
um sie desto sicherer durchzusetzen. Denn, um nicht sehr unglucklich
zu werden, ist das sicherste Mittel, daß man nicht verlange, sehr
glucklich zu sein. Dies hatte auch Goethes Jugendfreund *Merck*
erkannt, da er schrieb: ≫die garstige Pratension an Gluckseligkeit,
und zwar an das Maß, das wir uns traumen, verdirbt alles auf dieser
Welt. Wer sich davon losmachen kann und nichts begehrt, als was er vor
sich hat, kann sich durchschlagen≪ (Briefe an und von Merck, S. 100).
Demnach ist es geraten, seine Anspruche auf Genuß, Besitz, Rang, Ehre
usw. auf ein ganz Maßiges herabzusetzen; weil gerade das Streben und
Ringen nach Gluck, Glanz und Genuß es ist, was die großen
Unglucksfalle herbeizieht. Aber schon darum ist jenes weise und
ratsam, weil sehr unglucklich zu sein gar leicht ist; sehr glucklich
hingegen nicht etwan schwer, sondern ganz unmoglich. Mit großem Rechte
also singt der Dichter der Lebensweisheit:

    _Auream quisquis mediocritatem
    Diligit, tutus caret obsoleti
    Sordibus tecti, caret invidenda
            Sobrius aula._

    _Saevius ventis agitatur ingens
    Pinus: et scelsae graviore casu
    Decidunt turres: feriuntque summos
            Fulgura montes._

Wer aber vollends die Lehre meiner Philosophie in sich aufgenommen hat
und daher weiß, daß unser ganzes Dasein etwas ist, das besser nicht
ware und welches zu verneinen und abzuweisen die großte Weisheit ist,
der wird auch von keinem Dinge oder Zustand große Erwartungen hegen,
nach nichts auf der Welt mit Leidenschaft streben, noch große Klagen
erheben uber sein Verfehlen irgend einer Sache; sondern er wird von
Platos ≫=oute ti ton anthropinon axion megales spoudes=≪ (_rep. X,
604_) durchdrungen sein, sowie auch hievon:

    Ist einer Welt Besitz fur dich zerronnen,
      Sei nicht in Leid daruber, es ist nichts;
    Und hast du einer Welt Besitz genommen,
      Sei nicht erfreut daruber, es ist nichts.
    Voruber gehn die Schmerzen und die Wonnen,
      Geh' an der Welt voruber, es ist nichts.

    *Anwari Soheili.*

    (Siehe das Motto zu Sadis Gulistan, ubers. von Graf.)

Was jedoch die Erlangung dieser heilsamen Einsichten besonders
erschwert, ist die schon oben erwahnte Gleißnerei der Welt, welche man
daher der Jugend fruh aufdecken sollte. Die allermeisten
Herrlichkeiten sind bloßer Schein, wie die Theaterdekoration, und das
Wesen der Sache fehlt. Z. B. bewimpelte und bekranzte Schiffe,
Kanonenschusse, Illumination, Pauken und Trompeten, Jauchzen und
Schreien usw., dies alles ist das Aushangeschild, die Andeutung, die
Hieroglyphe der *Freude*: aber die Freude ist daselbst meistens nicht
zu finden: sie allein hat beim Feste abgesagt. Wo sie sich wirklich
einfindet, da kommt sie, in der Regel, ungeladen und ungemeldet, von
selbst und _sans facon_, ja, still herangeschlichen, oft bei den
unbedeutendesten, futilsten Anlassen, unter den alltaglichsten
Umstanden, ja, bei nichts weniger als glanzenden oder ruhmvollen
Gelegenheiten: sie ist, wie das Gold in Australien, hierhin und
dorthin gestreuet, nach der Laune des Zufalls, ohne alle Regel und
Gesetz, meist nur in ganz kleinen Kornchen, hochst selten in großen
Massen. Bei allen jenen oben erwahnten Dingen hingegen ist auch der
Zweck bloß, andere glauben zu machen, hier ware die Freude eingekehrt:
dieser Schein, im Kopfe anderer, ist die Absicht. Nicht anders als mit
der Freude verhalt es sich mit der Trauer. Wie schwermutig kommt jener
lange und langsame Leichenzug daher! der Reihe der Kutschen ist kein
Ende. Aber seht nur hinein: sie sind alle leer, und der Verblichene
wird eigentlich bloß von samtlichen Kutschern der ganzen Stadt zu
Grabe geleitet. Sprechendes Bild der Freundschaft und Hochachtung
dieser Welt! Dies also ist die Falschheit, Hohlheit und Gleißnerei des
menschlichen Treibens. -- Ein anderes Beispiel wieder geben viele
geladene Gaste in Feierkleidern, unter festlichem Empfange; sie sind
das Aushangeschild der edelen, erhohten Geselligkeit: aber statt ihrer
ist in der Regel nur Zwang, Pein und Langeweile gekommen: denn schon
wo viel Gaste sind, ist viel Pack, -- und hatten sie auch samtlich
Sterne auf der Brust. Die wirklich gute Gesellschaft namlich ist,
uberall und notwendig, sehr klein. Uberhaupt aber tragen glanzende,
rauschende Feste und Lustbarkeiten stets eine Leere, wohl gar einen
Mißton im Innern; schon weil sie dem Elend und der Durftigkeit unsers
Daseins laut widersprechen, und der Kontrast erhoht die Wahrheit.
Jedoch von außen gesehn wirkt jenes alles: und das war der Zweck. Ganz
allerliebst sagt daher *Chamfort*: _la societe, les cercles, les
salons, ce qu'on appelle le monde, est une piece miserable, un mauvais
opera, sans interet, qui se soutient un peu par les machines, les
costumes, et les decorations_. -- Desgleichen sind nun auch Akademien
und philosophische Katheder das Aushangeschild, der außere Schein der
*Weisheit*: aber auch sie hat meistens abgesagt und ist ganz wo anders
zu finden. -- Glockengebimmel, Priesterkostume, fromme Gebarden und
fratzenhaftes Tun ist das Aushangeschild, der falsche Schein der
Andacht, usw. -- So ist denn fast alles in der Welt hohle Nusse zu
nennen: der Kern ist an sich selten, und noch seltener steckt er in
der Schale. Er ist ganz wo anders zu suchen und wird meistens nur
zufallig gefunden.

2. Wenn man den Zustand eines Menschen, seiner Glucklichkeit nach,
abschatzen will, soll man nicht fragen nach dem, was ihn vergnugt,
sondern nach dem, was ihn betrubt: denn, je geringfugiger dieses, an
sich selbst genommen, ist, desto glucklicher ist der Mensch; weil ein
Zustand des Wohlbefindens dazu gehort, um gegen Kleinigkeiten
empfindlich zu sein: im Ungluck spuren wir sie gar nicht.

3. Man hute sich, das Gluck seines Lebens mittelst vieler
Erfordernisse zu demselben, auf ein *breites Fundament* zu bauen: denn
auf einem solchen stehend sturzt es am leichtesten ein, weil es viel
mehr Unfallen Gelegenheit darbietet und diese nicht ausbleiben. Das
Gebaude unsers Gluckes verhalt sich also, in dieser Hinsicht,
umgekehrt wie alle anderen, als welche auf breitem Fundament am
festesten stehn. Seine Anspruche, im Verhaltniß zu seinen Mitteln
jeder Art, moglichst niedrig zu stellen, ist demnach der sicherste Weg
großem Ungluck zu entgehn.

Uberhaupt ist es eine der großten und haufigsten Torheiten, daß man
*weitlauftige Anstalten* zum Leben macht, in welcher Art auch immer
das geschehe. Bei solchen namlich ist zuvorderst auf ein ganzes und
volles Menschenleben gerechnet; welches jedoch sehr Wenige erreichen.
Sodann fallt es, selbst wenn sie so lange leben, doch fur die
gemachten Plane zu kurz aus; da deren Ausfuhrung immer sehr viel mehr
Zeit erfordert, als angenommen war: ferner sind solche, wie alle
menschlichen Dinge, dem Mißlingen, den Hindernissen so vielfach
ausgesetzt, daß sie sehr selten zum Ziele gebracht werden. Endlich,
wenn zuletzt auch alles erreicht wird, so waren die Umwandlungen,
welche die Zeit an *uns selbst* hervorbringt, außer Acht und Rechnung
gelassen; also nicht bedacht worden, daß weder zum Leisten noch zum
Genießen unsere Fahigkeiten das ganze Leben hindurch vorhalten. Daher
kommt es, daß wir oft auf Dinge hinarbeiten, welche, wenn endlich
erlangt, uns nicht mehr angemessen sind; wie auch, daß wir mit den
Vorarbeiten zu einem Werke die Jahre hinbringen, welche derweilen
unvermerkt uns die Krafte zur Ausfuhrung desselben rauben. So
geschieht es denn oft, daß der mit so langer Muhe und vieler Gefahr
erworbene Reichtum uns nicht mehr genießbar ist und wir fur andere
gearbeitet haben; oder auch, daß wir den durch vieljahriges Treiben
und Trachten endlich erreichten Posten auszufullen nicht mehr im
Stande sind: die Dinge sind zu spat fur uns gekommen. Oder auch
umgekehrt, wir kommen zu spat mit den Dingen; da namlich, wo es sich
um Leistungen, oder Produktionen handelt: der Geschmack der Zeit hat
sich geandert; ein neues Geschlecht ist herangewachsen, welches an den
Sachen keinen Anteil nimmt; andere sind, auf kurzeren Wegen, uns
zuvorgekommen usw. Alles unter dieser Nummer Angefuhrte hat Horaz im
Sinne, wenn er sagt:

        _quid aeternis minorem
    Consiliis animum fatigas?_

Der Anlaß zu diesem haufigen Mißgriff ist die unvermeidliche optische
Tauschung des geistigen Auges, vermoge welcher das Leben, vom Eingange
aus gesehn, endlos, aber wenn man vom Ende der Bahn zuruckblickt, sehr
kurz erscheint. Freilich hat sie ihr Gutes: denn ohne sie kame
schwerlich etwas Großes zustande.

Uberhaupt aber ergeht es uns im Leben wie dem Wanderer, vor welchem,
indem er vorwarts schreitet, die Gegenstande andere Gestalten annehmen,
als die sie von ferne zeigten, und sich gleichsam verwandeln, indem er
sich nahert. Besonders geht es mit unseren Wunschen so. Oft finden wir
etwas ganz anderes, ja, Besseres, als wir suchten; oft auch das Gesuchte
selbst auf einem ganz anderen Wege, als den wir zuerst vergeblich danach
eingeschlagen hatten. Zumal wird uns oft da, wo wir Genuß, Gluck, Freude
suchten, statt ihrer Belehrung, Einsicht, Erkenntnis, -- ein bleibendes,
wahrhaftes Gut, statt eines verganglichen und scheinbaren. Dies ist auch
der Gedanke, welcher im Wilhelm Meister als Grundbaß durchgeht, indem
dieser ein intellektueller Roman und eben dadurch hoherer Art ist, als
alle ubrigen, sogar die von Walter Scott, als welche samtlich nur
ethisch sind, d. h. die menschliche Natur bloß von der Willens-Seite
auffassen. Ebenfalls in der Zauberflote, dieser grotesken, aber
bedeutsamen und vieldeutigen Hieroglyphe, ist jener selbe Grundgedanke,
in großen und groben Zugen, wie die der Theaterdekorationen sind,
symbolisirt; sogar wurde er es vollkommen sein, wenn, am Schlusse, der
Tamino, vom Wunsche, die Tamina zu besitzen, zuruckgebracht, statt
ihrer, allein die Weihe im Tempel der Weisheit verlangte und erhielte;
hingegen seinem notwendigen Gegensatze, dem Papageno, richtig seine
Papagena wurde. -- Vorzugliche und edle Menschen werden jener Erziehung
des Schicksals bald inne und fugen sich bildsam und dankbar in dieselbe:
sie sehn ein, daß in der Welt wohl Belehrung, aber nicht Gluck zu finden
sei, werden es sonach gewohnt und zufrieden, Hoffnungen gegen Einsichten
zu vertauschen, und sagen endlich mit Petrarka:

    _Altro diletto, che 'mparar, non provo._

Es kann damit sogar dahin kommen, daß sie ihren Wunschen und
Bestrebungen gewissermaßen nur noch zum Schein und tandelnd nachgehn,
eigentlich aber und im Ernst ihres Innern, bloß Belehrung erwarten;
welches ihnen alsdann einen beschaulichen, genialen, erhabenen
Anstrich gibt. -- Man kann in diesem Sinne auch sagen, es gehe uns wie
den Alchemisten, welche, indem sie nur Gold suchten, Schießpulver,
Porzellan, Arzeneien, ja Naturgesetze entdeckten.


B. Unser Verhalten gegen uns selbst betreffend.

4. Wie der Arbeiter, welcher ein Gebaude auffuhren hilft, den Plan des
ganzen entweder nicht kennt, oder doch nicht immer gegenwartig hat; so
verhalt der Mensch, indem er die einzelnen Tage und Stunden seines
Lebens abspinnt, sich zum Ganzen seines Lebenslaufes und des
Charakters desselben. Je wurdiger, bedeutender, planvoller und
individueller dieser ist; desto mehr ist es notig und wohltatig, daß
der verkleinerte Grundriß desselben, der Plan, ihm bisweilen vor die
Augen komme. Freilich gehort auch dazu, daß er einen kleinen Anfang in
dem =gnothi sauton= gemacht habe, also wisse, was er eigentlich,
hauptsachlich und vor allem andern will, was also fur sein Gluck das
Wesentlichste ist, sodann was die zweite und dritte Stelle nach diesem
einnimmt; wie auch, daß er erkenne, welches, im ganzen, sein Beruf,
seine Rolle und sein Verhaltnis zur Welt sei. Ist nun dieses
bedeutender und grandioser Art; so wird der Anblick des Planes seines
Lebens, im verjungten Maßstabe, ihn, mehr als irgend etwas, starken,
aufrichten, erheben, zur Tatigkeit ermuntern und von Abwegen
zuruckhalten.

Wie der Wanderer erst, wenn er auf einer Hohe angekommen ist, den
zuruckgelegten Weg, mit allen seinen Wendungen und Krummungen, im
Zusammenhange uberblickt und erkennt; so erkennen wir erst am Ende
einer Periode unsers Lebens, oder gar des ganzen, den wahren
Zusammenhang unserer Taten, Leistungen und Werke, die genaue
Konsequenz und Verkettung, ja, auch den Wert derselben. Denn, solange
wir darin begriffen sind, handeln wir nur immer nach den feststehenden
Eigenschaften unsers Charakters, unter dem Einfluß der Motive, und
nach dem Maße unserer Fahigkeiten, also durchweg mit Notwendigkeit,
indem wir in jedem Augenblicke bloß tun, was uns jetzt eben das Rechte
und Angemessene dunkt. Erst der Erfolg zeigt, was dabei
herausgekommen, und der Ruckblick auf den ganzen Zusammenhang das Wie
und Wodurch. Daher eben auch sind wir, wahrend wir die großten Taten
vollbringen, oder unsterbliche Werke schaffen, uns derselben nicht als
solcher bewußt, sondern bloß als des unsern gegenwartigen Zwecken
Angemessenen, unsern dermaligen Absichten Entsprechenden, also jetzt
gerade Rechten: aber erst aus dem Ganzen in seinem Zusammenhang
leuchtet nachher unser Charakter und unsere Fahigkeiten hervor: und im
einzelnen sehn wir dann, wie wir, als ware es durch Inspiration
geschehn, den einzig richtigen Weg, unter tausend Abwegen,
eingeschlagen haben, -- von unserm Genius geleitet. Dies alles gilt
vom Theoretischen wie vom Praktischen, und im umgekehrten Sinne vom
Schlechten und Verfehlten.

5. Ein wichtiger Punkt der Lebensweisheit besteht in dem richtigen
Verhaltnis, in welchem wir unsere Aufmerksamkeit teils der Gegenwart,
teils der Zukunft widmen, damit nicht die eine uns die andere
verderbe. Viele leben zu sehr in der Gegenwart: die Leichtsinnigen; --
andere zu sehr in der Zukunft: die Angstlichen und Besorglichen.
Selten wird einer genau das rechte Maß halten. Die, welche, mittelst
Streben und Hoffen, nur in der Zukunft leben, immer vorwarts sehn und
mit Ungeduld den kommenden Dingen entgegeneilen, als welche allererst
das wahre Gluck bringen sollen, inzwischen aber die Gegenwart
unbeachtet und ungenossen vorbeiziehn lassen, sind, trotz ihren
altklugen Mienen, jenen Eseln in Italien zu vergleichen, deren Schritt
dadurch beschleunigt wird, daß an einem, ihrem Kopf angehefteten Stock
ein Bundel Heu hangt, welches sie daher stets dicht vor sich sehen und
zu erreichen hoffen. Denn sie betrugen sich selbst um ihr ganzes
Dasein, indem sie stets nur _ad interim_ leben, -- bis sie tot sind.
-- Statt also mit den Planen und Sorgen fur die Zukunft ausschließlich
und immerdar beschaftigt zu sein, oder aber uns der Sehnsucht nach der
Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, daß die Gegenwart
allein real und allein gewiß ist; hingegen die Zukunft fast immer
anders ausfallt, als wir sie denken; ja, auch die Vergangenheit anders
war; und zwar so, daß es mit beiden, im ganzen, weniger auf sich hat,
als es uns scheint. Denn die Ferne, welche dem Auge die Gegenstande
verkleinert, vergroßert sie dem Gedanken. Die Gegenwart allein ist
wahr und wirklich: sie ist die real erfullte Zeit, und ausschließlich
in ihr liegt unser Dasein. Daher sollten wir sie stets einer heitern
Aufnahme wurdigen, folglich jede ertragliche und von unmittelbaren
Widerwartigkeiten oder Schmerzen freie Stunde mit Bewußtsein als
solche genießen, d. h. sie nicht truben durch verdrießliche Gesichter
uber verfehlte Hoffnungen in der Vergangenheit, oder Besorgnisse fur
die Zukunft. Denn es ist durchaus toricht, eine gute gegenwartige
Stunde von sich zu stoßen oder sie sich mutwillig zu verderben, aus
Verdruß uber das Vergangene, oder Besorgnis wegen des Kommenden. Der
Sorge, ja, selbst der Reue sei ihre bestimmte Zeit gewidmet: danach
aber soll man uber das Geschehene denken:

    =Alla ta men protetychthai easomen achnymenoi per,
    Thymon eni stethessi philon damasantes ananke=,

und uber das Kunftige:

    =Etoi tauta theon en gounasi keitai=,

hingegen uber die Gegenwart: _singulas dies singulas vitas puta_
(_Sen._) und diese allein reale Zeit sich so angenehm wie moglich
machen.

Uns zu beunruhigen sind bloß solche kunftige Ubel berechtigt, welche
gewiß sind und deren Eintrittszeit ebenfalls gewiß ist. Dies werden
aber sehr wenige sein: denn die Ubel sind entweder bloß moglich,
allenfalls wahrscheinlich; oder sie sind zwar gewiß; allein ihre
Eintrittszeit ist vollig ungewiß. Laßt man nun auf die beiden Arten
sich ein, so hat man keinen ruhigen Augenblick mehr. Um also nicht der
Ruhe unsers Lebens durch ungewisse oder unbestimmte Ubel verlustig zu
werden, mussen wir uns gewohnen, jene anzusehn, als kamen sie nie;
diese, als kamen sie gewiß nicht sobald.

Je mehr nun aber einem die Furcht Ruhe laßt, desto mehr beunruhigen
ihn die Wunsche, die Begierden und Anspruche. *Goethes* so beliebtes
Lied, ≫ich hab' mein' Sach' auf nichts gestellt,≪ besagt eigentlich,
daß erst nachdem der Mensch aus allen moglichen Anspruchen
herausgetrieben und auf das nackte, kahle Dasein zuruckgewiesen ist,
er derjenigen Geistesruhe teilhaft wird, welche die Grundlage des
menschlichen Gluckes ausmacht, indem sie notig ist, um die Gegenwart
und somit das ganze Leben genießbar zu finden. Zu eben diesem Zwecke
sollten wir stets eingedenk sein, daß der heutige Tag nur einmal kommt
und nimmer wieder. Aber wir wahnen, er komme morgen wieder: morgen ist
jedoch ein anderer Tag, der auch nur einmal kommt. Wir aber vergessen,
daß jeder Tag ein integrirender und daher unersetzlicher Teil des
Lebens ist, und betrachten ihn vielmehr als unter demselben so
enthalten, wie die Individuen unter dem Gemeinbegriff. -- Ebenfalls
wurden wir die Gegenwart besser wurdigen und genießen, wenn wir, in
guten und gesunden Tagen, uns stets bewußt waren, wie, in Krankheiten
oder Betrubnissen, die Erinnerung uns jede schmerz- und
entbehrungslose Stunde als unendlich beneidenswert, als ein verlorenes
Paradies, als einen verkannten Freund vorhalt. Aber wir verleben unsre
schonen Tage, ohne sie zu bemerken: erst wann die schlimmen kommen,
wunschen wir jene zuruck. Tausend heitere, angenehme Stunden lassen
wir, mit verdrießlichem Gesicht, ungenossen an uns voruberziehn, um
nachher, zur truben Zeit, mit vergeblicher Sehnsucht ihnen
nachzuseufzen. Statt dessen sollten wir jede ertragliche Gegenwart,
auch die alltagliche, welche wir jetzt so gleichgultig voruberziehn
lassen, und wohl gar noch ungeduldig nachschieben, -- in Ehren halten,
stets eingedenk, daß sie eben jetzt hinuberwallt in jene Apotheose der
Vergangenheit, woselbst sie fortan, vom Lichte der Unverganglichkeit
umstrahlt, vom Gedachtnisse aufbewahrt wird, um, wann dieses einst,
besonders zur schlimmen Stunde, den Vorhang luftet, als ein Gegenstand
unsrer innigen Sehnsucht sich darzustellen.

6. *Alle Beschrankung begluckt.* Je enger unser Gesichts-, Wirkungs-
und Beruhrungskreis, desto glucklicher sind wir: je weiter, desto
ofter fuhlen wir uns gequalt, oder geangstigt. Denn mit ihm vermehren
und vergroßern sich die Sorgen, Wunsche und Schrecknisse. Darum sind
sogar Blinde nicht so unglucklich, wie es uns _a priori_ scheinen muß;
dies bezeugt die sanfte, fast heitere Ruhe in ihren Gesichtszugen.
Auch beruht es zum Teil auf dieser Regel, daß die zweite Halfte des
Lebens trauriger ausfallt als die erste. Denn im Laufe des Lebens wird
der Horizont unserer Zwecke und Beziehungen immer weiter. In der
Kindheit ist er auf die nachste Umgebung und die engsten Verhaltnisse
beschrankt; im Junglingsalter reicht er schon bedeutend weiter; im
Mannesalter umfaßt er unsern ganzen Lebenslauf, ja, erstreckt sich oft
auf die entferntesten Verhaltnisse, auf Staaten und Volker; im
Greisenalter umfaßt er die Nachkommen. -- Jede Beschrankung hingegen,
sogar die geistige, ist unserm Glucke forderlich. Denn je weniger
Erregung des Willens, desto weniger Leiden: und wir wissen, daß das
Leiden das Positive, das Gluck bloß negativ ist. Beschranktheit des
Wirkungskreises benimmt dem Willen die außeren Veranlassungen zur
Erregung; Beschranktheit des Geistes die innern. Nur hat letztere den
Nachteil, daß sie der Langenweile die Tur offnet, welche mittelbar die
Quelle unzahliger Leiden wird, indem man, um nur sie zu bannen, nach
allem greift, also Zerstreuung, Gesellschaft, Luxus, Spiel, Trunk usw.
versucht, welche jedoch Schaden, Ruin und Ungluck jeder Art
herbeiziehen. _Difficilis in otio quies._ Wie sehr hingegen die
*außere* Beschrankung dem menschlichen Glucke, so weit es gehen kann,
forderlich, ja, notwendig sei, ist daran ersichtlich, daß die einzige
Dichtungsart, welche gluckliche Menschen zu schildern unternimmt, das
Idyll, sie stets und wesentlich in hochst beschrankter Lage und
Umgebung darstellt. Das Gefuhl der Sache liegt auch unserem
Wohlgefallen an den sogenannten Genre-Bildern zum Grunde. -- Demgemaß
wird die moglichste *Einfachheit* unserer Verhaltnisse und sogar die
*Einformigkeit* der Lebensweise, so lange sie nicht Langeweile
erzeugt, beglucken; weil sie das Leben selbst, folglich auch die ihm
wesentliche Last, am wenigsten spuren laßt: es fließt dahin, wie ein
Bach, ohne Wellen und Strudel.

7. In Hinsicht auf unser Wohl und Wehe kommt es in letzter Instanz
darauf an, womit das Bewußtsein erfullt und beschaftigt sei. Hier wird
nun im ganzen jede rein intellektuelle Beschaftigung dem ihrer fahigen
Geiste viel mehr leisten als das wirkliche Leben mit seinem
bestandigen Wechsel des Gelingens und Mißlingens, nebst seinen
Erschutterungen und Plagen. Nur sind dazu freilich schon uberwiegende
geistige Anlagen erfordert. Sodann ist hiebei zu bemerken, daß, wie
das nach außen tatige Leben uns von den Studien zerstreut und ablenkt,
auch dem Geiste die dazu erforderliche Ruhe und Sammlung benimmt;
ebenso andrerseits die anhaltende Geistesbeschaftigung zum Treiben und
Tummeln des wirklichen Lebens, mehr oder weniger, untuchtig macht:
daher ist es ratsam, dieselbe auf eine Weile ganz einzustellen, wann
Umstande eintreten, die irgendwie eine energische praktische Tatigkeit
erfordern.

8. Um mit vollkommener *Besonnenheit* zu leben und aus der eigenen
Erfahrung alle Belehrung, die sie enthalt, herauszuziehn, ist
erfordert, daß man oft zuruckdenke und was man erlebt, getan, erfahren
und dabei empfunden hat, rekapitulire, auch sein ehemaliges Urteil mit
seinem gegenwartigen, seinen Vorsatz und Streben mit dem Erfolg und
der Befriedigung durch denselben vergleiche. Dies ist die Repetition
des Privatissimums, welches jedem die Erfahrung ließ. Auch laßt die
eigene Erfahrung sich ansehn als der Text; Nachdenken und Kenntnisse
als der Kommentar dazu. Viel Nachdenken und Kenntnisse, bei wenig
Erfahrung, gleicht den Ausgaben, deren Seiten zwei Zeilen Text und
vierzig Zeilen Kommentar darbieten. Viel Erfahrung, bei wenig
Nachdenken und geringen Kenntnissen, gleicht den bipontinischen
Ausgaben, ohne Noten, welche Vieles unverstanden lassen.

Auf die hier gegebene Anempfehlung zielt auch die Regel des
Pythagoras, daß man abends, vor dem Einschlafen, durchmustern solle,
was man den Tag uber getan hat. Wer im Getummel der Geschafte oder
Vergnugungen dahinlebt, ohne je seine Vergangenheit zu ruminiren,
vielmehr nur immerfort sein Leben abhaspelt, dem geht die klare
Besonnenheit verloren: sein Gemut wird ein Chaos, und eine gewisse
Verworrenheit kommt in seine Gedanken, von welcher alsbald das
Abrupte, Fragmentarische, gleichsam Kleingehackte seiner Konversation
zeugt. Dies ist um so mehr der Fall, je großer die außere Unruhe, die
Menge der Eindrucke, und je geringer die innere Tatigkeit seines Geistes ist.

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