So schwer es demnach ist, den Ruhm zu erlangen, so leicht ist es,
ihn zu behalten. Auch hierin steht er im Gegensatz mit der Ehre.
Diese wird jedem, sogar auf Kredit, verliehen: er hat sie nur zu
bewahren. Hier aber liegt die Aufgabe: denn durch eine einzige,
nichtswurdige Handlung geht sie unwiederbringlich verloren. Der Ruhm hingegen
kann eigentlich nie verloren gehn: denn die Tat, oder das Werk, durch
die er erlangt worden, stehen fur immer fest, und der Ruhm
derselben bleibt ihrem Urheber, auch wenn er keinen neuen hinzufugt. Wenn
jedoch der Ruhm wirklich verklingt, wenn er uberlebt wird; so war er
unecht, d. h. unverdient, durch augenblickliche Uberschatzung entstanden,
wo nicht gar so ein Ruhm wie Hegel ihn hatte und Lichtenberg
ihn beschreibt, ≫ausposaunt von einer freundschaftlichen
Kandidatenjunta und vom Echo leerer Kopfe widergehallt; -- -- aber die
Nachwelt, wie wird sie lacheln, wann sie dereinst an die bunten
Wortergehause, die schonen Nester ausgeflogener Mode und die Wohnungen
weggestorbener Verabredungen anklopfen und alles, alles leer finden wird,
auch nicht den kleinsten Gedanken, der mit Zuversicht sagen konnte:
*herein*!≪ --
Der Ruhm beruht eigentlich auf dem, was einer im Vergleich
mit den Ubrigen ist. Demnach ist er wesentlich ein Relatives, kann daher
auch nur relativen Wert haben. Er fiele ganz weg, wenn die Ubrigen
wurden was der Geruhmte ist. Absoluten Wert kann nur das haben, was ihn
unter allen Umstanden behalt, also hier, was einer unmittelbar und fur
sich selbst ist: folglich muß hierin der Wert und das Gluck des
großen Herzens und des großen Kopfes liegen. Also nicht der Ruhm,
sondern das, wodurch man ihn verdient, ist das Wertvolle. Denn es
ist gleichsam die Substanz und der Ruhm nur das Akzidenz der Sache:
ja dieser wirkt auf den Geruhmten hauptsachlich als ein
außerliches Symptom, durch welches er die Bestatigung seiner eigenen hohen
Meinung von sich selbst erhalt; demnach man sagen konnte, daß, wie das
Licht gar nicht sichtbar ist, wenn es nicht von einem Korper
zuruckgeworfen wird; ebenso jede Trefflichkeit erst durch den Ruhm ihrer
selbst recht gewiß wird. Allein er ist nicht einmal ein untrugliches Symptom;
da es auch Ruhm ohne Verdienst und Verdienst ohne Ruhm gibt; weshalb
ein Ausdruck Lessings so artig herauskommt: ≫einige Leute sind
beruhmt, und andere verdienen es zu sein.≪ Auch ware es eine elende
Existenz, deren Wert oder Unwert darauf beruhte, wie sie in den Augen
anderer erschiene: eine solche aber ware das Leben des Helden und des
Genies, wenn dessen Wert im Ruhme, d. h. im Beifall anderer,
bestande. Vielmehr lebt und existiert ja jegliches Wesen seiner selbst
wegen, daher auch zunachst in sich und fur sich. -- Was einer ist, in
welcher Art und Weise es auch sei, das ist er zuvorderst und hauptsachlich
fur sich selbst: und wenn es hier nicht viel wert ist, so ist es
uberhaupt nicht viel. Hingegen ist das Abbild seines Wesens in den
Kopfen anderer ein Sekundares, Abgeleitetes und dem Zufall
Unterworfenes, welches nur sehr mittelbar sich auf das erstere zuruckbezieht.
Zudem sind die Kopfe der Menge ein zu elender Schauplatz, als daß auf
ihm das wahre Gluck seinen Ort haben konnte. Vielmehr ist daselbst nur
ein chimarisches Gluck zu finden. Welche gemischte Gesellschaft
trifft doch in jenem Tempel des allgemeinen Ruhms zusammen!
Feldherren, Minister, Quacksalber, Gaukler, Tanzer, Sanger, Millionare und
Juden: ja die Vorzuge aller dieser werden dort viel aufrichtiger
geschatzt, finden viel mehr _estime sentie_, als die geistigen, zumal der
hohen Art, die ja bei der großen Mehrzahl nur eine _estime sur
parole_ erlangen. In eudamonologischer Hinsicht ist also der Ruhm
nichts weiter, als der seltenste und kostlichste Bissen fur unsern Stolz
und unsere Eitelkeit. Diese aber sind in den meisten Menschen, obwohl
sie es verbergen, ubermaßig vorhanden, vielleicht sogar am starkesten
in denen, die irgendwie geeignet sind, sich Ruhm zu erwerben und
daher meistens das unsichere Bewußtsein ihres uberwiegenden Wertes lange
in sich herumtragen mussen, ehe die Gelegenheit kommt, solchen zu erproben
und dann die Anerkennung desselben zu erfahren: bis dahin war ihnen zu Mute,
als erlitten sie ein heimliches Unrecht[J]. Uberhaupt aber ist ja, wie am
Anfange dieses Kapitels erortert worden, der Wert, den der Mensch auf die
Meinung anderer von ihm legt, ganz unverhaltnismaßig und unvernunftig; so daß
*Hobbes* die Sache zwar sehr stark, aber vielleicht doch richtig ausgedruckt
hat in den Worten: _omnis animi voluptas, omnisque alacritas in eo sita est,
quod quis habeat quibuscum conferens se, possit magnifice sentire de
se ipso_ (_de cive. I, 5_). Hieraus ist der hohe Wert erklarlich, den
man allgemein auf den Ruhm legt, und die Opfer, welche man bringt, in
der bloßen Hoffnung, ihn dereinst zu erlangen:
_Fame is the spur,
that the clear spirit doth raise (That last infirmity of noble
minds) To scorn delights and live laborious days._
wie
auch:
_how hard it is to climb The
hights where Fame's proud temple shines afar._
[J] Da unser großtes
Vergnugen darin besteht, *bewundert* zu werden, die Bewunderer aber, selbst
wo alle Ursache ware, sich ungern dazu herbeilassen; so ist er der
Glucklichste Der, welcher, gleichviel wie, es dahin gebracht hat, sich
selbst aufrichtig zu bewundern. Nur mussen die andern ihn nicht irre
machen.
Hieraus endlich erklart es sich auch, daß die eitelste aller
Nationen bestandig _la gloire_ im Munde fuhrt und solche unbedenklich als
die Haupttriebfeder zu großen Taten und großen Werken ansieht. --
Allein, da unstreitig der Ruhm nur das Sekundare ist, das bloße Echo,
Abbild, Schatten, Symptom des Verdienstes, und da jedenfalls das
Bewunderte mehr Wert haben muß als die Bewunderung, so kann das
eigentlich Begluckende nicht im Ruhme liegen, sondern in dem, wodurch man
ihn erlangt, also im Verdienste selbst, oder, genauer zu reden, in
der Gesinnung und den Fahigkeiten, aus denen es hervorging, es mag
nun moralischer oder intellektueller Art sein. Denn das Beste, was
jeder ist, muß er notwendig fur sich selbst sein: was davon in den
Kopfen anderer sich abspiegelt und er in ihrer Meinung gilt, ist
Nebensache und kann nur von untergeordnetem Interesse fur ihn sein. Wer
demnach nur den Ruhm *verdient*, auch ohne ihn zu erhalten, besitzt bei
weitem die Hauptsache, und was er entbehrt, ist etwas, daruber er sich
mit derselben trosten kann. Denn nicht daß einer von der urteilslosen,
so oft betorten Menge fur einen großen Mann gehalten werde, sondern daß er
es sei, macht ihn beneidenswert; auch nicht, daß die Nachwelt von ihm
erfahre, sondern daß in ihm sich Gedanken erzeugen, welche verdienen,
Jahrhunderte hindurch aufbewahrt und nachgedacht zu werden, ist ein hohes
Gluck. Zudem kann dieses ihm nicht entrissen werden: es ist =ton eph' hemin=,
jenes andere =ton ouk eph' hemin=. Ware hingegen die Bewunderung selbst die
Hauptsache; so ware das Bewunderte ihrer nicht wert. Dies ist wirklich der
Fall beim falschen, d. i. unverdienten Ruhm. An diesem muß sein Besitzer
zehren, ohne das, wovon derselbe das Symptom, der bloße Abglanz, sein soll,
wirklich zu haben. Aber sogar dieser Ruhm selbst muß ihm oft verleidet
werden, wann bisweilen, trotz aller, aus der Eigenliebe
entspringenden Selbsttauschung, ihm auf der Hohe, fur die er nicht geeignet
ist, doch schwindelt, oder ihm zu Mute wird, als ware er ein kupferner
Dukaten; wo dann die Angst vor Enthullung und verdienter Demutigung
ihn ergreift, zumal wann er auf den Stirnen der Weiseren schon das
Urteil der Nachwelt liest. Er gleicht sonach dem Besitzer durch ein
falsches Testament. -- Den echtesten Ruhm, den Nachruhm, vernimmt
sein Gegenstand ja nie, und doch schatzt man ihn glucklich. Also
bestand sein Gluck in den großen Eigenschaften selbst, die ihm den
Ruhm erwarben, und darin, daß er Gelegenheit fand, sie zu entwickeln,
also daß ihm vergonnt wurde, zu handeln, wie es ihm angemessen war, oder
zu treiben, was er mit Lust und Liebe trieb: denn nur die aus
dieser entsprungenen Werke erlangen Nachruhm. Sein Gluck bestand also
in seinem großen Herzen, oder auch im Reichtum eines Geistes,
dessen Abdruck, in seinen Werken, die Bewunderung kommender
Jahrhunderte erhalt; es bestand in den Gedanken selbst, welchen nachzudenken,
die Beschaftigung und der Genuß der edelsten Geister einer
unabsehbaren Zukunft ward. Der Wert des Nachruhms liegt also im
Verdienen desselben, und dieses ist sein eigener Lohn. Ob nun die Werke,
welche ihn erwarben, unterweilen auch den Ruhm der Zeitgenossen hatten,
hing von zufalligen Umstanden ab und war nicht von großer Bedeutung.
Denn da die Menschen in der Regel ohne eigenes Urteil sind und zumal
hohe und schwierige Leistungen abzuschatzen durchaus keine Fahigkeit
haben; so folgen sie hier stets fremder Autoritat, und der Ruhm, in
hoher Gattung, beruht bei 99 unter 100 Ruhmern, bloß auf Treu und
Glauben. Daher kann auch der vielstimmigste Beifall der Zeitgenossen
fur denkende Kopfe nur wenig Wert haben, indem sie in ihm stets nur
das Echo weniger Stimmen horen, die zudem selbst nur sind, wie der Tag
sie gebracht hat. Wurde wohl ein Virtuose sich geschmeichelt fuhlen
durch das laute Beifallsklatschen seines Publikums, wenn ihm bekannt
ware, daß es, bis auf einen oder zwei, aus lauter vollig Tauben
bestande, die, um einander gegenseitig ihr Gebrechen zu verbergen,
eifrig klatschen, sobald sie die Hande jenes Einen in Bewegung sahen? Und
nun gar, wenn die Kenntnis hinzukame, daß jene Vorklatscher sich
oft bestechen ließen, um dem elendesten Geiger den lautesten Applaus
zu verschaffen! -- Hieraus ist erklarlich, warum der Ruhm der Zeitgenossen
so selten die Metamorphose in Nachruhm erlebt; weshalb *d'Alembert*, in
seiner uberaus schonen Beschreibung des Tempels des literarischen Ruhmes,
sagt: ≫das Innere des Tempels ist von lauter Toten bewohnt, die wahrend ihres
Lebens nicht darin waren, und von einigen Lebenden, welche fast alle, wann
sie sterben, hinausgeworfen werden.≪ Und beilaufig sei es hier bemerkt, daß
einem bei Lebzeiten ein Monument setzen die Erklarung ablegen heißt, daß
hinsichtlich seiner der Nachwelt nicht zu trauen sei. -- Wenn dennoch einer
den Ruhm, welcher zum Nachruhm werden soll, erlebt, so wird es
selten fruher als im Alter geschehn: allenfalls gibt es bei Kunstlern
und Dichtern Ausnahmen von dieser Regel, am wenigsten bei
Philosophen. Eine Bestatigung derselben geben die Bildnisse der durch ihre
Werke beruhmten Manner, da dieselben meistens erst nach dem Eintritt
ihrer Zelebritat angefertigt wurden: in der Regel sind sie alt und
grau dargestellt, namentlich die Philosophen. Inzwischen
steht, eudamonologisch genommen, die Sache ganz recht. Ruhm und Jugend
auf einmal ist zu viel fur einen Sterblichen. Unser Leben ist so arm,
daß seine Guter haushalterischer verteilt werden mussen. Die Jugend
hat vollauf genug an ihrem eigenen Reichtum und kann sich daran
genugen lassen. Aber im Alter, wann alle Genusse und Freuden, wie die Baume
im Winter, abgestorben sind, dann schlagt am gelegensten der Baum
des Ruhmes aus, als ein achtes Wintergrun: auch kann man ihn
den Winterbirnen vergleichen, die im Sommer wachsen, aber im
Winter genossen werden. Im Alter gibt es keinen schonern Trost, als daß
man die ganze Kraft seiner Jugend *Werken* einverleibt hat, die
nicht *mit* altern.
Wollen wir jetzt noch etwas naher die Wege
betrachten, auf welchen man, in den Wissenschaften, als dem uns zunachst
liegenden, Ruhm erlangt; so laßt sich hier folgende Regel aufstellen. Die
durch solchen Ruhm bezeichnete intellektuelle Uberlegenheit wird allemal
an den Tag gelegt durch eine neue Kombination irgendwelcher Data.
Diese nun konnen sehr verschiedener Art sein; jedoch wird der durch
ihre Kombination zu erlangende Ruhm um so großer und ausgebreiteter
sein, je mehr sie selbst allgemein bekannt und jedem zuganglich
sind. Bestehn z. B. die Data in einigen Zahlen oder Kurven, oder auch
in irgend einer speziellen physikalischen, zoologischen, botanischen
oder anatomischen Tatsache, oder auch in einigen verdorbenen Stellen
alter Autoren, oder in halbverloschten Inschriften, oder in solchen,
deren Alphabet uns fehlt, oder in dunkeln Punkten der Geschichte; so
wird der durch die richtige Kombination derselben zu erlangende Ruhm
sich nicht viel weiter erstrecken, als die Kenntnis der Data selbst,
also auf eine kleine Anzahl meistens zuruckgezogen lebender und auf
den Ruhm in ihrem Fache neidischer Leute. -- Sind hingegen die
Data solche, welche das ganze Menschengeschlecht kennt, sind es z.
B. wesentliche, allen gemeinsame Eigenschaften des
menschlichen Verstandes, oder Gemutes, oder Naturkrafte, deren ganze
Wirkungsart wir bestandig vor Augen haben, oder der allbekannte Lauf der
Natur uberhaupt; so wird der Ruhm, durch eine neue, wichtige und
evidente Kombination Licht uber sie verbreitet zu haben, sich mit der Zeit
fast uber die ganze zivilisirte Welt erstrecken. Denn, sind die Data
jedem zuganglich, so wird ihre Kombination es meistens auch sein. --
Dennoch wird hiebei der Ruhm allemal nur der uberwundenen
Schwierigkeit entsprechen. Denn, je allbekannter die Data sind, desto
schwerer ist es, sie auf eine neue und doch richtige Weise zu kombiniren; da
schon eine uberaus große Anzahl von Kopfen sich an ihnen versucht und
die unmoglichen Kombinationen derselben erschopft hat. Hingegen
werden Data, welche, dem großen Publiko unzuganglich, nur auf muhsamen
und schwierigen Wegen erreichbar sind, fast immer noch neue
Kombinationen zulassen: wenn man daher an solche nur mit geradem Verstande
und gesunder Urteilskraft, also einer maßigen geistigen
Uberlegenheit, kommt; so ist es leicht moglich, daß man eine neue und
richtige Kombination derselben zu machen das Gluck habe. Allein der
hiedurch erworbene Ruhm wird ungefahr dieselben Grenzen haben, wie die
Kenntnis der Data. Denn zwar erfordert die Losung von Problemen solcher
Art großes Studium und Arbeit, schon um nur die Kenntnis der Data
zu erlangen; wahrend in jener andern Art, in welcher eben der großte
und ausgebreiteteste Ruhm zu erwerben ist, die Data unentgeltlich
gegeben sind: allein in dem Maße, wie diese letztere Art weniger
Arbeit erfordert, gehort mehr Talent ja Genie dazu, und mit diesen
halt, hinsichtlich des Wertes und der Wertschatzung, keine Arbeit
oder Studium den Vergleich aus.
Hieraus nun ergibt sich, daß die,
welche einen tuchtigen Verstand und ein richtiges Urteil in sich spuren, ohne
jedoch die hochsten Geistesgaben sich zuzutrauen, viel Studium und ermudende
Arbeit nicht scheuen durfen, um mittelst dieser sich aus dem großen Haufen
der Menschen, welchen die allbekannten Data vorliegen,
herauszuarbeiten und zu den entlegeneren Orten zu gelangen, welche nur dem
gelehrten Fleiße zuganglich sind. Denn hier, wo die Zahl der
Mitbewerber unendlich verringert ist, wird auch der nur einigermaßen
uberlegene Kopf bald zu einer neuen und richtigen Kombination der
Data Gelegenheit finden: sogar wird das Verdienst seiner Entdeckung
sich mit auf die Schwierigkeit, zu den Datis zu gelangen, stutzen. Aber
der also erworbene Applaus seiner Wissensgenossen, als welche
die alleinigen Kenner in diesem Fache sind, wird von der großen Menge
der Menschen nur von Weitem vernommen werden. -- Will man nun den
hier angedeuteten Weg bis zum Extrem verfolgen; so laßt sich der
Punkt nachweisen, wo die Data, wegen der großen Schwierigkeit
ihrer Erlangung, fur sich allein und ohne daß eine Kombination
derselben erfordert ware, den Ruhm zu begrunden hinreichen. Dies leisten
Reisen in sehr entlegene und wenig besuchte Lander: man wird beruhmt
durch das, was man gesehen, nicht durch das, was man gedacht hat. Dieser
Weg hat auch noch einen großen Vorteil darin, daß es viel leichter
ist, was man gesehn, als was man gedacht hat, andern mitzuteilen und es
mit dem Verstandnis sich ebenso verhalt: demgemaß wird man fur das
Erstere auch viel mehr Leser finden als fur das andere. Denn, wie schon
Asmus sagt:
≫Wenn jemand eine Reise tut, So kann er was
erzahlen.≪
Diesem allen entspricht es aber auch, daß, bei der
personlichen Bekanntschaft beruhmter Leute dieser Art einem oft die
Horazische Bemerkung einfallt:
_Coelum, non animum, mutant, qui
trans mare currunt._
(_Epist. I, 11, v. 27._)
Was aber nun
andrerseits den mit hohen Fahigkeiten ausgestatteten Kopf betrifft, als
welcher allein sich an die Losung der großen, das Allgemeine und Ganze
betreffenden und daher schwierigsten Probleme wagen darf; so wird dieser zwar
wohl daran tun, seinen Horizont moglichst auszudehnen, jedoch immer
gleichmaßig, nach allen Seiten, und ohne je sich zu weit in irgend eine der
besonderen und nur Wenigen bekannten Regionen zu verlieren, d. h. ohne auf
die Spezialitaten irgend einer einzelnen Wissenschaft weit einzugehen,
geschweige sich mit den Mikrologien zu befassen. Denn er hat nicht notig,
sich an die schwer zuganglichen Gegenstande zu machen, um dem Gedrange
der Mitbewerber zu entgehn; sondern eben das allen Vorliegende wird
ihm Stoff zu neuen, wichtigen und wahren Kombinationen geben. Dem nun
aber gemaß wird sein Verdienst von allen denen geschatzt werden
konnen, welchen die Data bekannt sind, also von einem großen Teile
des menschlichen Geschlechts. Hierauf grundet sich der
machtige Unterschied zwischen dem Ruhm, den Dichter und Philosophen
erlangen, und dem, welcher Physikern, Chemikern, Anatomen,
Mineralogen, Zoologen, Philologen, Historikern usw. erreichbar
ist.
Kapitel V.
Paranesen und
Maximen.
Weniger noch, als irgendwo, bezwecke ich hier
Vollstandigkeit; da ich sonst die vielen, von Denkern aller Zeiten
aufgestellten, zum Teil vortrefflichen Lebensregeln zu wiederholen haben
wurde, vom Theognis und Pseudo-Salomo an, bis auf den Rochefoucauld herab;
wobei ich dann auch viele, schon breit getretene Gemeinplatze nicht wurde
vermeiden konnen. Mit der Vollstandigkeit fallt aber auch die
systematische Anordnung großtenteils weg. Uber beide troste man sich damit,
daß sie, in Dingen dieser Art, fast unausbleiblich die Langeweile in
ihrem Gefolge haben. Ich habe bloß gegeben, was mir eben eingefallen
ist, der Mitteilung wert schien und, so viel mir erinnerlich, noch
nicht, wenigstens nicht ganz und eben so, gesagt worden ist, also eben
nur eine Nachlese zu dem auf diesem unabsehbaren Felde bereits von
andern Geleisteten.
Um jedoch in die große Mannigfaltigkeit der
hierher gehorigen Ansichten und Ratschlage einige Ordnung zu bringen, will
ich sie einteilen in allgemeine, in solche, welche unser Verhalten gegen
uns selbst, dann gegen andere, und endlich gegen den Weltlauf und
das Schicksal betreffen.
A. Allgemeine.
1. Als die oberste
Regel aller Lebensweisheit sehe ich einen Satz an, den *Aristoteles*
beilaufig ausgesprochen hat, in der Nikomachaischen Ethik (_VII, 12_): =ho
phronimos to alypon diokei, ou to hedy= (_quod dolore vacat, non quod suave
est, persequitur vir prudens_). Besser noch deutsch ließe sich dieser Satz
etwan so wiedergeben: ≫Nicht dem Vergnugen, der Schmerzlosigkeit geht der
Vernunftige nach≪; oder: ≫Der Vernunftige geht auf Schmerzlosigkeit, nicht
auf Genuß aus.≪ Die Wahrheit desselben beruht darauf, daß aller Genuß und
alles Gluck negativer, hingegen der Schmerz positiver Natur ist. Die
Ausfuhrung und Begrundung dieses letzteren Satzes findet man in meinem
Hauptwerke Bd. I, § 58. Doch will ich denselben hier noch an einer taglich
zu beobachtenden Tatsache erlautern. Wenn der ganze Leib gesund und
heil ist, bis auf irgend eine kleine wunde, oder sonst schmerzende
Stelle; so tritt jene Gesundheit des Ganzen weiter nicht ins
Bewußtsein, sondern die Aufmerksamkeit ist bestandig auf den Schmerz
der verletzten Stelle gerichtet und das Behagen der
gesamten Lebensempfindung ist aufgehoben. -- Ebenso, wenn alle
unsere Angelegenheiten nach unserem Sinne gehen, bis auf *eine*, die
unserer Absicht zuwider lauft, so kommt diese, auch wenn sie von
geringer Bedeutung ist, uns immer wieder in den Kopf: wir denken haufig an
sie und wenig an alle jene andern wichtigeren Dinge, die nach
unserem Sinne gehn. -- In beiden Fallen nun ist das Beeintrachtigte der
Wille, einmal, wie er sich im Organismus, das andere, wie er sich im
Streben des Menschen objektivirt, und in beiden sehen wir, daß
seine Befriedigung immer nur negativ wirkt und daher gar nicht
direkt empfunden wird, sondern hochstens auf dem Wege der Reflexion
ins Bewußtsein kommt. Hingegen ist seine Hemmung das Positive und
daher sich selbst Ankundigende. Jeder Genuß besteht bloß in der
Aufhebung dieser Hemmung, in der Befreiung davon, ist mithin von kurzer
Dauer.
Hierauf nun also beruht die oben belobte Aristotelische Regel,
welche uns anweist, unser Augenmerk nicht auf die Genusse und
Annehmlichkeiten des Lebens zu richten, sondern darauf, daß wir den zahllosen
Ubeln desselben, so weit es moglich ist, entgehn. Ware dieser Weg nicht
der richtige: so mußte auch *Voltaires* Ausspruch, _le bonheur n'est
qu'un reve, et la douleur est reelle_, so falsch sein, wie er in der
Tat wahr ist. Demnach soll auch der, welcher das Resultat seines
Lebens, in eudamonologischer Rucksicht, ziehn will, die Rechnung nicht
nach den Freuden, die er genossen, sondern nach den Ubeln, denen
er entgangen ist, aufstellen. Ja, die Eudamonologie hat mit der
Belehrung anzuheben, daß ihr Name selbst ein Euphemismus ist und daß
unter ≫glucklich leben≪ nur zu verstehn ist ≫weniger unglucklich≪,
also ertraglich leben. Allerdings ist das Leben nicht eigentlich da,
um genossen, sondern um uberstanden, abgetan zu werden; dies
bezeichnen auch manche Ausdrucke, wie _degere vitam, vita defungi_,
das Italienische _si scampa cosi_, das Deutsche ≫man muß
suchen durchzukommen≪, ≫er wird schon durch die Welt kommen≪, u. dgl. m.
Ja, es ist ein Trost im Alter, daß man die Arbeit des Lebens hinter
sich hat. Demnach nun hat das glucklichste Los der, welcher sein Leben
ohne ubergroße Schmerzen, sowohl geistige, als korperliche,
hinbringt; nicht aber der, dem die lebhaftesten Freuden oder die großten
Genusse zuteil geworden. Wer nach diesen letzteren das Gluck
eines Lebenslaufes bemessen will, hat einen falschen Maßstab ergriffen.
Denn die Genusse sind und bleiben negativ: daß sie beglucken, ist ein
Wahn, den der Neid, zu seiner eigenen Strafe, hegt. Die Schmerzen
hingegen werden positiv empfunden: daher ist ihre Abwesenheit der Maßstab
des Lebensgluckes. Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch
die Abwesenheit der Langenweile; so ist das irdische Gluck im
Wesentlichen erreicht: denn das Ubrige ist Chimare. Hieraus nun folgt, daß
man nie Genusse durch Schmerzen, ja, auch nur durch die Gefahr
derselben, erkaufen soll; weil man sonst ein Negatives und daher Chimarisches
mit einem Positiven und Realen bezahlt. Hingegen bleibt man im
Gewinn, wenn man Genusse opfert, um Schmerzen zu entgehn. In beiden Fallen
ist es gleichgultig, ob die Schmerzen den Genussen nachfolgen,
oder vorhergehn. Es ist wirklich die großte Verkehrtheit, diesen
Schauplatz des Jammers in einen Lustort verwandeln zu wollen und, statt
der moglichsten Schmerzlosigkeit, Genusse und Freuden sich zum Ziele
zu stecken, wie doch so viele tun. Viel weniger irrt, wer, mit
zu finsterem Blicke, diese Welt als eine Art Holle ansieht und demnach nur
darauf bedacht ist, sich in derselben eine feuerfeste Stube zu verschaffen.
Der Tor lauft den Genussen des Lebens nach und sieht sich betrogen: der Weise
vermeidet die Ubel. Sollte ihm jedoch auch dieses mißglucken; so ist es dann
die Schuld des Geschicks, nicht die seiner Torheit. So weit es ihm aber
gluckt, ist er nicht betrogen: denn die Ubel, denen er aus dem Wege ging,
sind hochst real. Selbst wenn er etwan ihnen zu weit aus dem Wege gegangen
sein sollte und Genusse unnotigerweise geopfert hatte; so ist eigentlich doch
nichts verloren: denn alle Genusse sind chimarisch, und uber die Versaumnis
derselben zu trauern ware kleinlich, ja lacherlich.
Das Verkennen
dieser Wahrheit, durch den Optimismus begunstigt, ist die Quelle vielen
Unglucks. Wahrend wir namlich von Leiden frei sind, spiegeln unruhige Wunsche
uns die Chimaren eines Gluckes vor, das gar nicht existirt, und verleiten uns
sie zu verfolgen: dadurch bringen wir den Schmerz, der unleugbar real ist,
auf uns herab. Dann jammern wir uber den verlorenen schmerzlosen Zustand,
der, wie ein verscherztes Paradies, hinter uns liegt, und wunschen
vergeblich, das Geschehene ungeschehen machen zu konnen. So scheint es, als
ob ein boser Damon uns aus dem schmerzlosen Zustande, der das
hochste wirkliche Gluck ist, stets herauslockte, durch die Gaukelbilder
der Wunsche. -- Unbesehens glaubt der Jungling, die Welt sei da,
um genossen zu werden, sie sei der Wohnsitz eines positiven
Gluckes, welches nur die verfehlen, denen es an Geschick gebricht, sich
seiner zu bemeistern. Hierin bestarken ihn Romane und Gedichte, wie auch
die Gleißnerei, welche die Welt, durchgangig und uberall, mit dem
außern Scheine treibt und auf die ich bald zuruckkommen werde. Von nun an
ist sein Leben eine, mit mehr oder weniger Uberlegung angestellte
Jagd nach dem positiven Gluck, welches, als solches, aus positiven
Genussen bestehn soll. Die Gefahren, denen man sich dabei aussetzt, mussen
in die Schanze geschlagen werden. Da fuhrt denn diese Jagd nach
einem Wilde, welches gar nicht existiert, in der Regel, zu sehr
realem, positivem Ungluck. Dies stellt sich ein als Schmerz,
Leiden, Krankheit, Verlust, Sorge, Armut, Schande und tausend Note.
Die Enttauschung kommt zu spat. -- Ist hingegen, durch Befolgung der
hier in Betracht genommenen Regel, der Plan des Lebens auf Vermeidung
der Leiden, also auf Entfernung des Mangels, der Krankheit und jeder
Not, gerichtet; so ist das Ziel ein reales: da laßt sich etwas
ausrichten, und um so mehr, je weniger dieser Plan gestort wird durch das
Streben nach der Chimare des positiven Glucks. Hiezu stimmt auch,
was *Goethe*, in den Wahlverwandtschaften, den fur das Gluck der
andern stets tatigen *Mittler* sagen laßt: ≫Wer ein Ubel los sein will,
der weiß immer was er will: wer was besseres will, als er hat, der
ist ganz staarblind.≪ Und dieses erinnert an den schonen
franzosischen Ausspruch: _le mieux est l'ennemi du bien_. Ja, hieraus ist
sogar der Grundgedanke des Zynismus abzuleiten, wie ich ihn dargelegt habe,
in meinem Hauptwerke, Bd. 2, Kap. 16. Denn, was bewog die Zyniker
zur Verwerfung aller Genusse, wenn es nicht eben der Gedanke an die
mit ihnen, naher oder ferner, verknupften Schmerzen war, welchen aus
dem Wege zu gehn ihnen viel wichtiger schien, als die Erlangung jener.
Sie waren tief ergriffen von der Erkenntnis der Negativitat des
Genusses und der Positivitat des Schmerzes; daher sie, konsequent, alles
taten fur die Vermeidung der Ubel, hierzu aber die vollige und
absichtliche Verwerfung der Genusse notig erachteten; weil sie in diesen
nur Fallstricke sahen, die uns dem Schmerze uberliefern.
In Arkadien
geboren, wie Schiller sagt, sind wir freilich alle: d. h. wir treten in die
Welt, voll Anspruche auf Gluck und Genuß, und hegen die torichte Hoffnung,
solche durchzusetzen. In der Regel jedoch kommt bald das Schicksal, packt uns
unsanft an und belehrt uns, daß nichts *unser* ist, sondern alles *sein*,
indem es ein unbestrittenes Recht hat, nicht nur auf allen unsern Besitz und
Erwerb und auf Weib und Kind, sondern sogar auf Arm und Bein, Auge und Ohr,
ja, auf die Nase mitten im Gesicht. Jedenfalls aber kommt, nach einiger Zeit
die Erfahrung und bringt die Einsicht, daß Gluck und Genuß eine
Fata Morgana sind, welche, nur aus der Ferne sichtbar, verschwindet,
wenn man herangekommen ist; daß hingegen Leiden und Schmerz Realitat
haben, sich selbst unmittelbar vertreten und keiner Illusion noch
Erwartung bedurfen. Fruchtet nun die Lehre; so horen wir auf, nach Gluck
und Genuß zu jagen, und sind vielmehr darauf bedacht, dem Schmerz
und Leiden moglichst den Zugang zu versperren. Wir erkennen alsdann,
daß das Beste, was die Welt zu bieten hat, eine schmerzlose,
ruhige, ertragliche Existenz ist, und beschranken unsere Anspruche auf
diese, um sie desto sicherer durchzusetzen. Denn, um nicht sehr
unglucklich zu werden, ist das sicherste Mittel, daß man nicht verlange,
sehr glucklich zu sein. Dies hatte auch Goethes Jugendfreund
*Merck* erkannt, da er schrieb: ≫die garstige Pratension an
Gluckseligkeit, und zwar an das Maß, das wir uns traumen, verdirbt alles auf
dieser Welt. Wer sich davon losmachen kann und nichts begehrt, als was er
vor sich hat, kann sich durchschlagen≪ (Briefe an und von Merck, S.
100). Demnach ist es geraten, seine Anspruche auf Genuß, Besitz, Rang,
Ehre usw. auf ein ganz Maßiges herabzusetzen; weil gerade das Streben
und Ringen nach Gluck, Glanz und Genuß es ist, was die
großen Unglucksfalle herbeizieht. Aber schon darum ist jenes weise
und ratsam, weil sehr unglucklich zu sein gar leicht ist; sehr
glucklich hingegen nicht etwan schwer, sondern ganz unmoglich. Mit großem
Rechte also singt der Dichter der Lebensweisheit:
_Auream quisquis
mediocritatem Diligit, tutus caret obsoleti Sordibus tecti, caret
invidenda Sobrius aula._
_Saevius ventis agitatur
ingens Pinus: et scelsae graviore casu Decidunt turres: feriuntque
summos Fulgura montes._
Wer aber vollends die Lehre meiner
Philosophie in sich aufgenommen hat und daher weiß, daß unser ganzes Dasein
etwas ist, das besser nicht ware und welches zu verneinen und abzuweisen die
großte Weisheit ist, der wird auch von keinem Dinge oder Zustand große
Erwartungen hegen, nach nichts auf der Welt mit Leidenschaft streben, noch
große Klagen erheben uber sein Verfehlen irgend einer Sache; sondern er wird
von Platos ≫=oute ti ton anthropinon axion megales spoudes=≪ (_rep.
X, 604_) durchdrungen sein, sowie auch hievon:
Ist einer Welt
Besitz fur dich zerronnen, Sei nicht in Leid daruber, es ist
nichts; Und hast du einer Welt Besitz genommen, Sei nicht
erfreut daruber, es ist nichts. Voruber gehn die Schmerzen und die
Wonnen, Geh' an der Welt voruber, es ist nichts.
*Anwari
Soheili.*
(Siehe das Motto zu Sadis Gulistan, ubers. von
Graf.)
Was jedoch die Erlangung dieser heilsamen Einsichten
besonders erschwert, ist die schon oben erwahnte Gleißnerei der Welt, welche
man daher der Jugend fruh aufdecken sollte. Die
allermeisten Herrlichkeiten sind bloßer Schein, wie die Theaterdekoration,
und das Wesen der Sache fehlt. Z. B. bewimpelte und bekranzte
Schiffe, Kanonenschusse, Illumination, Pauken und Trompeten, Jauchzen
und Schreien usw., dies alles ist das Aushangeschild, die Andeutung,
die Hieroglyphe der *Freude*: aber die Freude ist daselbst meistens
nicht zu finden: sie allein hat beim Feste abgesagt. Wo sie sich
wirklich einfindet, da kommt sie, in der Regel, ungeladen und ungemeldet,
von selbst und _sans facon_, ja, still herangeschlichen, oft bei
den unbedeutendesten, futilsten Anlassen, unter den
alltaglichsten Umstanden, ja, bei nichts weniger als glanzenden oder
ruhmvollen Gelegenheiten: sie ist, wie das Gold in Australien, hierhin
und dorthin gestreuet, nach der Laune des Zufalls, ohne alle Regel
und Gesetz, meist nur in ganz kleinen Kornchen, hochst selten in
großen Massen. Bei allen jenen oben erwahnten Dingen hingegen ist auch
der Zweck bloß, andere glauben zu machen, hier ware die Freude
eingekehrt: dieser Schein, im Kopfe anderer, ist die Absicht. Nicht anders
als mit der Freude verhalt es sich mit der Trauer. Wie schwermutig kommt
jener lange und langsame Leichenzug daher! der Reihe der Kutschen ist
kein Ende. Aber seht nur hinein: sie sind alle leer, und der
Verblichene wird eigentlich bloß von samtlichen Kutschern der ganzen Stadt
zu Grabe geleitet. Sprechendes Bild der Freundschaft und
Hochachtung dieser Welt! Dies also ist die Falschheit, Hohlheit und
Gleißnerei des menschlichen Treibens. -- Ein anderes Beispiel wieder geben
viele geladene Gaste in Feierkleidern, unter festlichem Empfange; sie
sind das Aushangeschild der edelen, erhohten Geselligkeit: aber statt
ihrer ist in der Regel nur Zwang, Pein und Langeweile gekommen: denn
schon wo viel Gaste sind, ist viel Pack, -- und hatten sie auch
samtlich Sterne auf der Brust. Die wirklich gute Gesellschaft namlich
ist, uberall und notwendig, sehr klein. Uberhaupt aber tragen
glanzende, rauschende Feste und Lustbarkeiten stets eine Leere, wohl gar
einen Mißton im Innern; schon weil sie dem Elend und der Durftigkeit
unsers Daseins laut widersprechen, und der Kontrast erhoht die
Wahrheit. Jedoch von außen gesehn wirkt jenes alles: und das war der Zweck.
Ganz allerliebst sagt daher *Chamfort*: _la societe, les cercles,
les salons, ce qu'on appelle le monde, est une piece miserable, un
mauvais opera, sans interet, qui se soutient un peu par les machines,
les costumes, et les decorations_. -- Desgleichen sind nun auch
Akademien und philosophische Katheder das Aushangeschild, der außere Schein
der *Weisheit*: aber auch sie hat meistens abgesagt und ist ganz wo
anders zu finden. -- Glockengebimmel, Priesterkostume, fromme Gebarden
und fratzenhaftes Tun ist das Aushangeschild, der falsche Schein
der Andacht, usw. -- So ist denn fast alles in der Welt hohle Nusse
zu nennen: der Kern ist an sich selten, und noch seltener steckt er in der
Schale. Er ist ganz wo anders zu suchen und wird meistens nur zufallig
gefunden.
2. Wenn man den Zustand eines Menschen, seiner Glucklichkeit
nach, abschatzen will, soll man nicht fragen nach dem, was ihn
vergnugt, sondern nach dem, was ihn betrubt: denn, je geringfugiger dieses,
an sich selbst genommen, ist, desto glucklicher ist der Mensch; weil
ein Zustand des Wohlbefindens dazu gehort, um gegen
Kleinigkeiten empfindlich zu sein: im Ungluck spuren wir sie gar
nicht.
3. Man hute sich, das Gluck seines Lebens mittelst
vieler Erfordernisse zu demselben, auf ein *breites Fundament* zu bauen:
denn auf einem solchen stehend sturzt es am leichtesten ein, weil es
viel mehr Unfallen Gelegenheit darbietet und diese nicht ausbleiben.
Das Gebaude unsers Gluckes verhalt sich also, in dieser
Hinsicht, umgekehrt wie alle anderen, als welche auf breitem Fundament
am festesten stehn. Seine Anspruche, im Verhaltniß zu seinen Mitteln jeder
Art, moglichst niedrig zu stellen, ist demnach der sicherste Weg großem
Ungluck zu entgehn.
Uberhaupt ist es eine der großten und haufigsten
Torheiten, daß man *weitlauftige Anstalten* zum Leben macht, in welcher Art
auch immer das geschehe. Bei solchen namlich ist zuvorderst auf ein ganzes
und volles Menschenleben gerechnet; welches jedoch sehr Wenige
erreichen. Sodann fallt es, selbst wenn sie so lange leben, doch fur
die gemachten Plane zu kurz aus; da deren Ausfuhrung immer sehr viel
mehr Zeit erfordert, als angenommen war: ferner sind solche, wie
alle menschlichen Dinge, dem Mißlingen, den Hindernissen so
vielfach ausgesetzt, daß sie sehr selten zum Ziele gebracht werden.
Endlich, wenn zuletzt auch alles erreicht wird, so waren die
Umwandlungen, welche die Zeit an *uns selbst* hervorbringt, außer Acht und
Rechnung gelassen; also nicht bedacht worden, daß weder zum Leisten noch
zum Genießen unsere Fahigkeiten das ganze Leben hindurch vorhalten.
Daher kommt es, daß wir oft auf Dinge hinarbeiten, welche, wenn
endlich erlangt, uns nicht mehr angemessen sind; wie auch, daß wir mit
den Vorarbeiten zu einem Werke die Jahre hinbringen, welche
derweilen unvermerkt uns die Krafte zur Ausfuhrung desselben rauben.
So geschieht es denn oft, daß der mit so langer Muhe und vieler
Gefahr erworbene Reichtum uns nicht mehr genießbar ist und wir fur
andere gearbeitet haben; oder auch, daß wir den durch vieljahriges
Treiben und Trachten endlich erreichten Posten auszufullen nicht mehr
im Stande sind: die Dinge sind zu spat fur uns gekommen. Oder
auch umgekehrt, wir kommen zu spat mit den Dingen; da namlich, wo es
sich um Leistungen, oder Produktionen handelt: der Geschmack der Zeit
hat sich geandert; ein neues Geschlecht ist herangewachsen, welches an
den Sachen keinen Anteil nimmt; andere sind, auf kurzeren Wegen,
uns zuvorgekommen usw. Alles unter dieser Nummer Angefuhrte hat Horaz
im Sinne, wenn er sagt:
_quid aeternis
minorem Consiliis animum fatigas?_
Der Anlaß zu diesem haufigen
Mißgriff ist die unvermeidliche optische Tauschung des geistigen Auges,
vermoge welcher das Leben, vom Eingange aus gesehn, endlos, aber wenn man vom
Ende der Bahn zuruckblickt, sehr kurz erscheint. Freilich hat sie ihr Gutes:
denn ohne sie kame schwerlich etwas Großes zustande.
Uberhaupt aber
ergeht es uns im Leben wie dem Wanderer, vor welchem, indem er vorwarts
schreitet, die Gegenstande andere Gestalten annehmen, als die sie von ferne
zeigten, und sich gleichsam verwandeln, indem er sich nahert. Besonders geht
es mit unseren Wunschen so. Oft finden wir etwas ganz anderes, ja, Besseres,
als wir suchten; oft auch das Gesuchte selbst auf einem ganz anderen Wege,
als den wir zuerst vergeblich danach eingeschlagen hatten. Zumal wird uns oft
da, wo wir Genuß, Gluck, Freude suchten, statt ihrer Belehrung, Einsicht,
Erkenntnis, -- ein bleibendes, wahrhaftes Gut, statt eines verganglichen und
scheinbaren. Dies ist auch der Gedanke, welcher im Wilhelm Meister als
Grundbaß durchgeht, indem dieser ein intellektueller Roman und eben dadurch
hoherer Art ist, als alle ubrigen, sogar die von Walter Scott, als welche
samtlich nur ethisch sind, d. h. die menschliche Natur bloß von der
Willens-Seite auffassen. Ebenfalls in der Zauberflote, dieser grotesken,
aber bedeutsamen und vieldeutigen Hieroglyphe, ist jener selbe
Grundgedanke, in großen und groben Zugen, wie die der Theaterdekorationen
sind, symbolisirt; sogar wurde er es vollkommen sein, wenn, am Schlusse,
der Tamino, vom Wunsche, die Tamina zu besitzen, zuruckgebracht,
statt ihrer, allein die Weihe im Tempel der Weisheit verlangte und
erhielte; hingegen seinem notwendigen Gegensatze, dem Papageno, richtig
seine Papagena wurde. -- Vorzugliche und edle Menschen werden jener
Erziehung des Schicksals bald inne und fugen sich bildsam und dankbar in
dieselbe: sie sehn ein, daß in der Welt wohl Belehrung, aber nicht Gluck zu
finden sei, werden es sonach gewohnt und zufrieden, Hoffnungen gegen
Einsichten zu vertauschen, und sagen endlich mit Petrarka:
_Altro
diletto, che 'mparar, non provo._
Es kann damit sogar dahin kommen, daß
sie ihren Wunschen und Bestrebungen gewissermaßen nur noch zum Schein und
tandelnd nachgehn, eigentlich aber und im Ernst ihres Innern, bloß Belehrung
erwarten; welches ihnen alsdann einen beschaulichen, genialen,
erhabenen Anstrich gibt. -- Man kann in diesem Sinne auch sagen, es gehe uns
wie den Alchemisten, welche, indem sie nur Gold suchten,
Schießpulver, Porzellan, Arzeneien, ja Naturgesetze entdeckten.
B.
Unser Verhalten gegen uns selbst betreffend.
4. Wie der Arbeiter, welcher
ein Gebaude auffuhren hilft, den Plan des ganzen entweder nicht kennt, oder
doch nicht immer gegenwartig hat; so verhalt der Mensch, indem er die
einzelnen Tage und Stunden seines Lebens abspinnt, sich zum Ganzen seines
Lebenslaufes und des Charakters desselben. Je wurdiger, bedeutender,
planvoller und individueller dieser ist; desto mehr ist es notig und
wohltatig, daß der verkleinerte Grundriß desselben, der Plan, ihm bisweilen
vor die Augen komme. Freilich gehort auch dazu, daß er einen kleinen Anfang
in dem =gnothi sauton= gemacht habe, also wisse, was er
eigentlich, hauptsachlich und vor allem andern will, was also fur sein Gluck
das Wesentlichste ist, sodann was die zweite und dritte Stelle nach
diesem einnimmt; wie auch, daß er erkenne, welches, im ganzen, sein
Beruf, seine Rolle und sein Verhaltnis zur Welt sei. Ist nun
dieses bedeutender und grandioser Art; so wird der Anblick des Planes
seines Lebens, im verjungten Maßstabe, ihn, mehr als irgend etwas,
starken, aufrichten, erheben, zur Tatigkeit ermuntern und von
Abwegen zuruckhalten.
Wie der Wanderer erst, wenn er auf einer Hohe
angekommen ist, den zuruckgelegten Weg, mit allen seinen Wendungen und
Krummungen, im Zusammenhange uberblickt und erkennt; so erkennen wir erst am
Ende einer Periode unsers Lebens, oder gar des ganzen, den
wahren Zusammenhang unserer Taten, Leistungen und Werke, die
genaue Konsequenz und Verkettung, ja, auch den Wert derselben. Denn,
solange wir darin begriffen sind, handeln wir nur immer nach den
feststehenden Eigenschaften unsers Charakters, unter dem Einfluß der Motive,
und nach dem Maße unserer Fahigkeiten, also durchweg mit
Notwendigkeit, indem wir in jedem Augenblicke bloß tun, was uns jetzt eben
das Rechte und Angemessene dunkt. Erst der Erfolg zeigt, was
dabei herausgekommen, und der Ruckblick auf den ganzen Zusammenhang das
Wie und Wodurch. Daher eben auch sind wir, wahrend wir die großten
Taten vollbringen, oder unsterbliche Werke schaffen, uns derselben nicht
als solcher bewußt, sondern bloß als des unsern gegenwartigen
Zwecken Angemessenen, unsern dermaligen Absichten Entsprechenden, also
jetzt gerade Rechten: aber erst aus dem Ganzen in seinem
Zusammenhang leuchtet nachher unser Charakter und unsere Fahigkeiten hervor:
und im einzelnen sehn wir dann, wie wir, als ware es durch
Inspiration geschehn, den einzig richtigen Weg, unter tausend
Abwegen, eingeschlagen haben, -- von unserm Genius geleitet. Dies alles
gilt vom Theoretischen wie vom Praktischen, und im umgekehrten Sinne
vom Schlechten und Verfehlten.
5. Ein wichtiger Punkt der
Lebensweisheit besteht in dem richtigen Verhaltnis, in welchem wir unsere
Aufmerksamkeit teils der Gegenwart, teils der Zukunft widmen, damit nicht die
eine uns die andere verderbe. Viele leben zu sehr in der Gegenwart: die
Leichtsinnigen; -- andere zu sehr in der Zukunft: die Angstlichen und
Besorglichen. Selten wird einer genau das rechte Maß halten. Die, welche,
mittelst Streben und Hoffen, nur in der Zukunft leben, immer vorwarts sehn
und mit Ungeduld den kommenden Dingen entgegeneilen, als welche
allererst das wahre Gluck bringen sollen, inzwischen aber die
Gegenwart unbeachtet und ungenossen vorbeiziehn lassen, sind, trotz
ihren altklugen Mienen, jenen Eseln in Italien zu vergleichen, deren
Schritt dadurch beschleunigt wird, daß an einem, ihrem Kopf angehefteten
Stock ein Bundel Heu hangt, welches sie daher stets dicht vor sich sehen
und zu erreichen hoffen. Denn sie betrugen sich selbst um ihr
ganzes Dasein, indem sie stets nur _ad interim_ leben, -- bis sie tot
sind. -- Statt also mit den Planen und Sorgen fur die Zukunft
ausschließlich und immerdar beschaftigt zu sein, oder aber uns der Sehnsucht
nach der Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, daß die
Gegenwart allein real und allein gewiß ist; hingegen die Zukunft fast
immer anders ausfallt, als wir sie denken; ja, auch die Vergangenheit
anders war; und zwar so, daß es mit beiden, im ganzen, weniger auf sich
hat, als es uns scheint. Denn die Ferne, welche dem Auge die
Gegenstande verkleinert, vergroßert sie dem Gedanken. Die Gegenwart allein
ist wahr und wirklich: sie ist die real erfullte Zeit, und
ausschließlich in ihr liegt unser Dasein. Daher sollten wir sie stets einer
heitern Aufnahme wurdigen, folglich jede ertragliche und von
unmittelbaren Widerwartigkeiten oder Schmerzen freie Stunde mit Bewußtsein
als solche genießen, d. h. sie nicht truben durch verdrießliche
Gesichter uber verfehlte Hoffnungen in der Vergangenheit, oder Besorgnisse
fur die Zukunft. Denn es ist durchaus toricht, eine gute
gegenwartige Stunde von sich zu stoßen oder sie sich mutwillig zu verderben,
aus Verdruß uber das Vergangene, oder Besorgnis wegen des Kommenden.
Der Sorge, ja, selbst der Reue sei ihre bestimmte Zeit gewidmet:
danach aber soll man uber das Geschehene denken:
=Alla ta men
protetychthai easomen achnymenoi per, Thymon eni stethessi philon
damasantes ananke=,
und uber das Kunftige:
=Etoi tauta theon
en gounasi keitai=,
hingegen uber die Gegenwart: _singulas dies singulas
vitas puta_ (_Sen._) und diese allein reale Zeit sich so angenehm wie
moglich machen.
Uns zu beunruhigen sind bloß solche kunftige Ubel
berechtigt, welche gewiß sind und deren Eintrittszeit ebenfalls gewiß ist.
Dies werden aber sehr wenige sein: denn die Ubel sind entweder bloß
moglich, allenfalls wahrscheinlich; oder sie sind zwar gewiß; allein
ihre Eintrittszeit ist vollig ungewiß. Laßt man nun auf die beiden
Arten sich ein, so hat man keinen ruhigen Augenblick mehr. Um also nicht
der Ruhe unsers Lebens durch ungewisse oder unbestimmte Ubel verlustig
zu werden, mussen wir uns gewohnen, jene anzusehn, als kamen sie
nie; diese, als kamen sie gewiß nicht sobald.
Je mehr nun aber einem
die Furcht Ruhe laßt, desto mehr beunruhigen ihn die Wunsche, die Begierden
und Anspruche. *Goethes* so beliebtes Lied, ≫ich hab' mein' Sach' auf nichts
gestellt,≪ besagt eigentlich, daß erst nachdem der Mensch aus allen moglichen
Anspruchen herausgetrieben und auf das nackte, kahle Dasein zuruckgewiesen
ist, er derjenigen Geistesruhe teilhaft wird, welche die Grundlage
des menschlichen Gluckes ausmacht, indem sie notig ist, um die
Gegenwart und somit das ganze Leben genießbar zu finden. Zu eben diesem
Zwecke sollten wir stets eingedenk sein, daß der heutige Tag nur einmal
kommt und nimmer wieder. Aber wir wahnen, er komme morgen wieder: morgen
ist jedoch ein anderer Tag, der auch nur einmal kommt. Wir aber
vergessen, daß jeder Tag ein integrirender und daher unersetzlicher Teil
des Lebens ist, und betrachten ihn vielmehr als unter demselben
so enthalten, wie die Individuen unter dem Gemeinbegriff. --
Ebenfalls wurden wir die Gegenwart besser wurdigen und genießen, wenn wir,
in guten und gesunden Tagen, uns stets bewußt waren, wie, in
Krankheiten oder Betrubnissen, die Erinnerung uns jede schmerz-
und entbehrungslose Stunde als unendlich beneidenswert, als ein
verlorenes Paradies, als einen verkannten Freund vorhalt. Aber wir verleben
unsre schonen Tage, ohne sie zu bemerken: erst wann die schlimmen
kommen, wunschen wir jene zuruck. Tausend heitere, angenehme Stunden
lassen wir, mit verdrießlichem Gesicht, ungenossen an uns voruberziehn,
um nachher, zur truben Zeit, mit vergeblicher Sehnsucht
ihnen nachzuseufzen. Statt dessen sollten wir jede ertragliche
Gegenwart, auch die alltagliche, welche wir jetzt so gleichgultig
voruberziehn lassen, und wohl gar noch ungeduldig nachschieben, -- in Ehren
halten, stets eingedenk, daß sie eben jetzt hinuberwallt in jene Apotheose
der Vergangenheit, woselbst sie fortan, vom Lichte der
Unverganglichkeit umstrahlt, vom Gedachtnisse aufbewahrt wird, um, wann
dieses einst, besonders zur schlimmen Stunde, den Vorhang luftet, als ein
Gegenstand unsrer innigen Sehnsucht sich darzustellen.
6. *Alle
Beschrankung begluckt.* Je enger unser Gesichts-, Wirkungs- und
Beruhrungskreis, desto glucklicher sind wir: je weiter, desto ofter fuhlen
wir uns gequalt, oder geangstigt. Denn mit ihm vermehren und vergroßern sich
die Sorgen, Wunsche und Schrecknisse. Darum sind sogar Blinde nicht so
unglucklich, wie es uns _a priori_ scheinen muß; dies bezeugt die sanfte,
fast heitere Ruhe in ihren Gesichtszugen. Auch beruht es zum Teil auf dieser
Regel, daß die zweite Halfte des Lebens trauriger ausfallt als die erste.
Denn im Laufe des Lebens wird der Horizont unserer Zwecke und Beziehungen
immer weiter. In der Kindheit ist er auf die nachste Umgebung und die engsten
Verhaltnisse beschrankt; im Junglingsalter reicht er schon bedeutend weiter;
im Mannesalter umfaßt er unsern ganzen Lebenslauf, ja, erstreckt sich
oft auf die entferntesten Verhaltnisse, auf Staaten und Volker;
im Greisenalter umfaßt er die Nachkommen. -- Jede Beschrankung
hingegen, sogar die geistige, ist unserm Glucke forderlich. Denn je
weniger Erregung des Willens, desto weniger Leiden: und wir wissen, daß
das Leiden das Positive, das Gluck bloß negativ ist. Beschranktheit
des Wirkungskreises benimmt dem Willen die außeren Veranlassungen
zur Erregung; Beschranktheit des Geistes die innern. Nur hat letztere
den Nachteil, daß sie der Langenweile die Tur offnet, welche mittelbar
die Quelle unzahliger Leiden wird, indem man, um nur sie zu bannen,
nach allem greift, also Zerstreuung, Gesellschaft, Luxus, Spiel, Trunk
usw. versucht, welche jedoch Schaden, Ruin und Ungluck jeder
Art herbeiziehen. _Difficilis in otio quies._ Wie sehr hingegen
die *außere* Beschrankung dem menschlichen Glucke, so weit es gehen
kann, forderlich, ja, notwendig sei, ist daran ersichtlich, daß die
einzige Dichtungsart, welche gluckliche Menschen zu schildern unternimmt,
das Idyll, sie stets und wesentlich in hochst beschrankter Lage
und Umgebung darstellt. Das Gefuhl der Sache liegt auch
unserem Wohlgefallen an den sogenannten Genre-Bildern zum Grunde. --
Demgemaß wird die moglichste *Einfachheit* unserer Verhaltnisse und sogar
die *Einformigkeit* der Lebensweise, so lange sie nicht
Langeweile erzeugt, beglucken; weil sie das Leben selbst, folglich auch die
ihm wesentliche Last, am wenigsten spuren laßt: es fließt dahin, wie
ein Bach, ohne Wellen und Strudel.
7. In Hinsicht auf unser Wohl und
Wehe kommt es in letzter Instanz darauf an, womit das Bewußtsein erfullt und
beschaftigt sei. Hier wird nun im ganzen jede rein intellektuelle
Beschaftigung dem ihrer fahigen Geiste viel mehr leisten als das wirkliche
Leben mit seinem bestandigen Wechsel des Gelingens und Mißlingens, nebst
seinen Erschutterungen und Plagen. Nur sind dazu freilich schon
uberwiegende geistige Anlagen erfordert. Sodann ist hiebei zu bemerken, daß,
wie das nach außen tatige Leben uns von den Studien zerstreut und
ablenkt, auch dem Geiste die dazu erforderliche Ruhe und Sammlung
benimmt; ebenso andrerseits die anhaltende Geistesbeschaftigung zum Treiben
und Tummeln des wirklichen Lebens, mehr oder weniger, untuchtig
macht: daher ist es ratsam, dieselbe auf eine Weile ganz einzustellen,
wann Umstande eintreten, die irgendwie eine energische praktische
Tatigkeit erfordern.
8. Um mit vollkommener *Besonnenheit* zu leben
und aus der eigenen Erfahrung alle Belehrung, die sie enthalt, herauszuziehn,
ist erfordert, daß man oft zuruckdenke und was man erlebt, getan,
erfahren und dabei empfunden hat, rekapitulire, auch sein ehemaliges Urteil
mit seinem gegenwartigen, seinen Vorsatz und Streben mit dem Erfolg
und der Befriedigung durch denselben vergleiche. Dies ist die
Repetition des Privatissimums, welches jedem die Erfahrung ließ. Auch laßt
die eigene Erfahrung sich ansehn als der Text; Nachdenken und
Kenntnisse als der Kommentar dazu. Viel Nachdenken und Kenntnisse, bei
wenig Erfahrung, gleicht den Ausgaben, deren Seiten zwei Zeilen Text
und vierzig Zeilen Kommentar darbieten. Viel Erfahrung, bei
wenig Nachdenken und geringen Kenntnissen, gleicht den
bipontinischen Ausgaben, ohne Noten, welche Vieles unverstanden
lassen.
Auf die hier gegebene Anempfehlung zielt auch die Regel
des Pythagoras, daß man abends, vor dem Einschlafen, durchmustern
solle, was man den Tag uber getan hat. Wer im Getummel der Geschafte
oder Vergnugungen dahinlebt, ohne je seine Vergangenheit zu
ruminiren, vielmehr nur immerfort sein Leben abhaspelt, dem geht die
klare Besonnenheit verloren: sein Gemut wird ein Chaos, und eine
gewisse Verworrenheit kommt in seine Gedanken, von welcher alsbald
das Abrupte, Fragmentarische, gleichsam Kleingehackte seiner
Konversation zeugt. Dies ist um so mehr der Fall, je großer die außere
Unruhe, die Menge der Eindrucke, und je geringer die innere Tatigkeit seines
Geistes ist. |
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