Goethe und Werther 11
Als letzthin das Gerücht vom Goué sich verbreitete, glaubte er diesen
zwar nicht zum Selbstmorde fähig, stritt aber _in Thesi_ eifrig
für diesen, wie mir Kielmansegge, und viele, die um ihn gewesen,
versichert haben. Ein paar Tage vor dem unglücklichen, da die Rede vom
Selbstmorde war, sagte er zu Schleunitz, es müße aber doch eine dumme
Sache seyn, wenn das Erschiessen mißriethe.
Auch einige Tage zuvor sprachen Brandten mit ihm von seinen weiten
einsamen Spaziergängen, daß ihm da leicht einmal ein Unglück zustossen
könnte, wie zum Ex. vor einiger Zeit, da einer beym entstandenen
Gewitter sich unter ein Gemäuer retiriret, und dieses über ihm
eingestürzt wäre. Er antwortete: das würde mir eben recht seyn. Dorthel
verspricht ihm ein Kränzchen zu machen, wenn er hier stürbe. Er hat in
Brandten Hause sehr über N... geklagt, daß dieser gar nicht schriebe,
er schäme sich zu ihnen zu kommen, da er immer nichts von ihm sagen
könne. Mit einiger Hitze zu Annchen: Ja, ich versichere Sie, die Sünden
meiner Freunde schmerzen mich. (N... war Anbeter der Annchen.) Zu
Kielmansegge hat er von N. gesagt, dieser hätte eine Dreckseele; was
man noch in der Welt machen solle, wo man einen abwesenden Freund nicht
einmal conserviren könne.
In diesen Tagen hat er mich, da er im Brandtischen Hause war, ins
Buffische Haus gehen sehen (oder vielmehr es geglaubt, da es eigentlich
ein anderer war,) und gesagt, mit einem besonderen Ton: wie glücklich
ist Kestner! wie ruhig er dahin geht!
Vergangenen Dienstag kommt er zum kranken Kielmansegge, mit einem
mißvergnügten Gesichte. Dieser frägt ihn, wie er sich befände? Er:
Besser als mir lieb ist. Er hat auch den Tag viel von der Liebe
gesprochen, welches er sonst nie gethan; und dann von der Franckfurter
Zeitung, die ihm seit einiger Zeit mehr als sonst gefalle. Nachmittags
(Dienstag) ist er bey Sekr. H... gewesen. Bis Abends 8 Uhr spielen sie
Tarok zusammen. Annchen Brandt war auch da; Jerusalem begleitet diese
nach Haus. Im Gehen schlägt Jerusalem oft unmuthsvoll vor die Stirn
und sagt wiederholt: Wer doch erst todt, -- wer doch erst im Himmel
wäre! -- Annchen spaßt darüber; er bedingt sich bey ihr im Himmel
einen Platz, und beim Abschiednehmen sagt er: Nun es bleibt dabey, ich
bekomme bey Ihnen im Himmel einen Platz.
Am Mittewochen, da im Kronprinz groß Fest war und jeder jemanden zu
Gaste hatte, gieng er, ob er gleich sonst zu Haus aß, zu Tisch und
brachte den Secr. H... mit sich. Er hat sich da nicht anders als sonst,
vielmehr muntrer betragen. Nach dem Essen nimmt ihn Secret. H... mit
nach Haus zu seiner Frau. Sie trinken Kaffee. Jerusalem sagt zu der
H...: Liebe Frau Secretairin, dieß ist der letzte Kaffee, den ich mit
Ihnen trinke. -- Sie hält es für Spaß und antwortet in diesem Tone.
Diesen Nachmittag (Mittwochs) ist Jerusalem allein bei H...s gewesen,
was da vorgefallen, weiß man nicht; vielleicht liegt hierin der Grund
zum folgenden. -- Abends, als es eben dunkel geworden, kommt Jerusalem
nach Garbenheim, ins gewöhnliche Gasthaus, frägt ob niemand oben im
Zimmer wäre? Auf die Antwort: Nein, geht er hinauf, kommt bald wieder
herunter, geht zum Hofe hinaus, zur linken Hand hin, kehrt nach einer
Weile zurück, geht in den Garten; es wird ganz dunkel, er bleibt da
lange, die Wirthin macht ihre Anmerkungen darüber, er kommt wieder
heraus, geht bei ihr, alles ohne ein Wort zu sagen, und mit heftigen
Schritten, vorbey, zum Hofe hinaus, rechts davon springend.
Inzwischen, oder noch später, ist unter H... und seiner Frau etwas
vorgegangen, wovon H... einer Freundin vertrauet, daß sie sich über
Jerusalem etwas entzweyet und die Frau endlich verlangt, daß er ihm
das Haus verbieten solle, worauf er es auch folgenden Tags in einem
_Billet_ gethan.
Nachts vom Mittewoch auf den Donnerstag ist er um 2 Uhr aufgestanden,
hat den Bedienten geweckt, gesagt, er könne nicht schlafen, es sey ihm
nicht wohl, läßt einheitzen, Thee machen, ist aber doch nachher ganz
wohl, dem Ansehen nach.
Donnerstags Morgens schickt _Secret._ H... an Jerusalem ein
_Billet_. Die Magd will keine Antwort abwarten und geht.
Jerusalem hat sich eben rasiren lassen. Um 11 Uhr schickt Jerusalem
wiederum ein _Billet_ an _Secret._ H..., dieser nimmt es
dem Bedienten nicht ab, und sagt, er brauche keine Antwort, er könne
sich in keine Correspondenz einlassen, und sie sähen sich ja alle
Tage auf der Dictatur. Als der Bediente das _Billet_ unerbrochen
wieder zurückbringt, wirft es Jerusalem auf den Tisch und sagt: es ist
auch gut. (Vielleicht den Bedienten glauben zu machen, daß es etwas
gleichgültiges betreffe.)
Mittags isset er zu Haus, aber wenig, etwas Suppe. Schickt um 1 Uhr ein
_Billet_ an mich und zugleich an seinen Gesandten, worin er diesen
ersucht, ihm auf diesen (oder künftigen) Monat sein Geld zu schicken.
Der Bediente kommt zu mir. Ich bin nicht zu Hause, mein Bedienter auch
nicht. Jerusalem ist inzwischen ausgegangen, kommt um 1/4-4 Uhr zu
Haus, der Bediente giebt ihm das _Billet_ wieder. Dieser sagt:
Warum er es nicht in meinem Hause, etwa an eine Magd, abgegeben? Jener:
Weil es offen und unversiegelt gewesen, hätte er es nicht thun mögen.
-- Jerusalem: Das hätte nichts gemacht, jeder könne es lesen, er sollte
es wieder hinbringen. -- Der Bediente hielt sich hierdurch berechtigt,
es auch zu lesen, ließt es und schickt es mir darauf durch einen Buben,
der im Hause aufwartet. Ich war inzwischen zu Haus gekommen, es mogte
1/2-4 Uhr seyn, als ich das Billet bekam:
»Dürfte ich Ew. Wohlgeb. wohl zu einer vorhabenden Reise um ihre
Pistolen gehorsamst ersuchen?
J.«[14]
Da ich nun von alle dem vorher erzählten und von seinen Grundsätzen
nichts wußte, indem ich nie besondern Umgang mit ihm gehabt -- so hatte
ich nicht den mindesten Anstand ihm die Pistolen sogleich zu schicken.
Nun hatte der Bediente in dem _Billet_ gelesen, daß sein Herr
verreisen wollte, und dieser ihm solches selbst gesagt, auch alles
auf den anderen Morgen um 6 Uhr zur Reise bestellt, sogar den
_Friseur_, ohne daß der Bediente wußte wohin, noch mit wem, noch
auf was Art? Weil Jerusalem aber allezeit seine Unternehmungen vor ihm
geheim tractiret, so schöpfte dieser keinen Argwohn. Er dachte jedoch
bey sich: »Sollte mein Herr etwa heimlich nach Braunschweig reisen
wollen, und dich hier sitzen lassen? &c.« Er mußte die Pistolen zum
Büchsenschäfter tragen und sie mit Kugeln laden lassen.
Den ganzen Nachmittag war Jerusalem für sich allein beschäftiget,
kramte in seinen Papieren, schrieb, ging, wie die Leute unten im
Hause gehört, oft im Zimmer heftig auf und nieder. Er ist auch
verschiedene Mal ausgegangen, hat seine kleinen Schulden, und wo er
nicht auf Rechnung ausgenommen, bezahlt; er hatte ein Paar Manschetten
ausgenommen, er sagt zum Bedienter, sie gefielen ihm nicht, er sollte
sie wieder zum Kaufmann bringen; wenn dieser sie aber nicht gern wieder
nehmen wollte, so wäre da das Geld dafür, welches der Kaufmann auch
lieber genommen.
Etwa um 7 Uhr kam der Italiänische Sprachmeister zu ihm. Dieser fand
ihn unruhig und verdrießlich. Er klagte, daß er seine Hypochondrie
wieder stark habe, und über mancherley; erwähnt auch, daß das Beste
sey, sich aus der Welt zu schicken. Der Italiäner redet ihm sehr zu,
man müsse dergleichen Passionen durch die Philosophie zu unterdrücken
suchen &c. Jerusalem: das ließe sich nicht so thun; er wäre heute
lieber allein, er möchte ihn verlassen. Der Italiäner: er müsse in
Gesellschaft gehen, sich zerstreuen &c. Jerusalem: er gienge auch
noch aus. -- Der Italiener, der auch die Pistolen auf dem Tische
liegen gesehen, besorgt den Erfolg, geht um halb acht Uhr weg und zu
Kielmansegge, da er denn von nichts als von Jerusalem, dessen Unruhe
und Unmuth spricht, ohne jedoch von seiner Besorgniß zu erwähnen, indem
er geglaubt, man möchte ihn deswegen auslachen.
Der Bediente ist zu Jerusalem gekommen, um ihm die Stiefel auszuziehen.
Dieser hat aber gesagt, er gienge noch aus; wie er auch wirklich gethan
hat, vor das Silberthor auf die Starke Weide, und sonst auf die Gasse,
wo er bey Verschiedenen, den Hut tief in die Augen gedrückt, vorbey
gerauscht ist, mit schnellen Schritten, ohne jemand anzusehen. Man hat
ihn auch um diese Zeit eine ganze Weile an dem Fluß stehen sehen, in
einer Stellung, als wenn er sich hineinstürzen wolle (so sagt man).
Vor 9 Uhr kommt er zu Haus, sagt dem Bedienten, es müsse im Ofen noch
etwas nachgelegt werden, weil er so bald nicht zu Bette ginge, auch
solle er auf Morgen früh 6 Uhr alles zurecht machen, läßt sich auch
noch einen Schoppen Wein geben. Der Bediente, um recht früh bey der
Hand zu seyn, da sein Herr immer sehr accurat gewesen, legt sich mit
den Kleidern ins Bette.
Da nun Jerusalem allein war, scheint er alles zu der schrecklichen
Handlung vorbereitet zu haben. Er hat seine Briefschaften alle
zerrissen und unter den Schreibtisch geworfen, wie ich selbst gesehen.
Er hat zwey Briefe, einen an seine Verwandte, den Andern an H...
geschrieben; man meint auch einen an den Gesandten Höffler, den dieser
vielleicht unterdrückt. Sie haben auf dem Schreibtisch gelegen. Erster,
den der Medicus andern Morgens gesehen, hat überhaupt nur folgendes
enthalten, wie _Dr._ Held, der ihn gelesen, mir erzählt:
Lieber Vater, liebe Mutter, liebe Schwestern und Schwager, verzeihen
Sie Ihrem unglücklichen Sohn und Bruder; Gott, Gott, segne euch!
In dem zweyten hat er H... um Verzeihung gebeten, daß er die Ruhe
und das Glück seiner Ehe gestört, und unter diesem theuren Paar
Uneinigkeit gestiftet &c. Anfangs sey seine Neigung gegen seine Frau
nur Tugend gewesen &c. In der Ewigkeit aber hoffe er ihr einen Kuß
geben zu dürfen &c. Er soll drey Blätter groß gewesen seyn, und sich
damit geschlossen haben: »Um 1 Uhr. In jenem Leben sehen wir uns
wieder.« (Vermutlich hat er sich sogleich erschossen, da er diesen Brief geendigt.)
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