Goethe und Werther 5
Liebenswürdiger waren zwei andere Momente seines Unwillens (Nr. 59
und 67), welche in diese Zeit fallen: das einemal betrübt es ihn,
daß die Brautleute einen Anderen als ihn mit der Besorgung der
Trauringe beauftragt, das anderemal, daß die Neuvermählten nicht auf
seine Einladung nach Frankfurt kamen. Er traute sich zu, den Freund
im Vollgenusse des Glücks sehen zu können, das er bitter entbehrte,
während diesem sein Triumph, der den Freund schmerzte, nicht lieb war.
Am Palmsonntage 1773 ist die Hochzeit gewesen, und von dem Briefe
Nr. 76, und weiter, gehen die Briefe an Kestner nach Hannover. Die
Schlußzeilen dieses Briefes scheinen die psychologische Erfahrung zu
bestätigen, daß die Einbildungskraft von dem geliebtesten Abwesenden
nur vereinzelte Theile gibt, während sie von weniger theuren Menschen,
und besonders von den Gleichgültigen, freigebig das ganze Bild
vollendet vor die Augen führt.
Ueber ein Jahr später als diese Periode war es, als ein ernstlicheres
Mißverständniß über den Werther entstand, welches den Gegenstand
mehrerer Briefe ausmacht. Ein wunderbarer Zufall wollte, daß Kestner,
den es drückte, sich und seine Lotte durch einen Anschein ihrer
Personen in dieses Gedicht verflochten zu finden, gleichwohl selbst,
ohne etwas zu ahnen, an dem Roman mit hat schreiben müssen. Jerusalem
hatte bei einem der wenigen Besuche, die er jemals Kestner gemacht,
ein Paar Pistolen an der Wand hängen sehen und diese zu seinem
Selbstmorde von ihm geliehen, wovon die Folge war, daß Kestner, doppelt
bestürzt durch die schreckliche That, als das Gerücht durch die Stadt
lief, zu Jerusalems Hause hineilte, und nicht allein Zeuge der letzten
Qualen des Unglücklichen war, sondern auch angeregt wurde, alle
Thatsachen, die denselben betrafen, zu sammeln, und niedergeschrieben
an Goethe zu schicken, wie die Freunde es wechselseitig gewohnt waren,
seit Goethe's Flucht sich die Vorfälle des Tages in ununterbrochenem
Briefwechsel mitzutheilen. Das Billet Jerusalems, fast wörtlich im
Werther copirt, ist noch eben so urschriftlich vorhanden, wie es bei
Nr. 28 als _Fac simile_ sich in unsern Documenten befindet,
und zwar, wie in der Abschrift durch eine Linie angedeutet, in zwei
Theile gerissen, vermuthlich weil es im Augenblick des Empfangs den
weggeworfenen Papieren hinzugefügt, erst nach dem schrecklichen
Ereigniß, dem Empfänger merkwürdig geworden war. Gleichfalls noch
jetzt in Urschrift vorhanden, sind Kestners »Nachrichten über den Tod
Jerusalems« (Nr. 28), welche er gegen Ende Novembers 1772 Goethen nach
Frankfurt schickte, und von diesem mit dem Briefe Nr. 47 gegen den
20. Januar 1773 zurückgeschickt wurden. Goethe irrt also, wenn er zu
dieser frühen Zeit seines Lebens zurückblickend (Wahrheit und Dichtung,
_pag._ 168 des 22. Bandes seiner sämmtlichen Werke) glaubt, er
habe die Beschreibung von Jerusalems Tode erst später nach seiner
Trennung von den Freunden erhalten. Seine selbstmörderischen Gedanken
kommen auch nur in den früheren unserer Briefe vor, nicht aber in der
Zeit der Herausgabe des Werther.
Wenn wir in unsern Papieren erkennen, wie hoch Lotte, Kestner und
Goethe über den Personen stehen, die im Werther mit ihnen in Vergleich
kommen, so tritt uns auf eine merkwürdige Weise das Verhältniß des
Dichters zum Menschen vor Augen. Goethe fand, durch seine Stellung
unter ihnen, noch höhern Anlaß, als jene, seinen Werth als Mensch
erkennen zu lassen. Denn, daß ein Mädchen von dem glücklichsten
Naturell und gediegener Erziehung, dem würdigsten Mann die seit Jahren
befestigte Treue bewahrt; daß dieser Mann, mit der Unschuld seines
Charakters, in die Redlichkeit seiner Braut sowohl, als eines Freundes,
dessen Freundschaft er sicher war, unbeschränktes Vertrauen setzt,
sind die gewöhnlichsten Dinge, im Vergleich mit einer Liebe, die so
groß, so stark, und so schön ist, daß sie ihm zur redlichsten und
heldenmäßigsten Entsagung die Kraft gab, und ihn, der Verzweiflung
nahe, vom Liebenden in den reinsten Freund verwandelte. Diese schöne
Erscheinung ist fremd dem Romane. Die Welt hat entschieden, das Gedicht
sey das schönste seiner Art. Noch schöner aber, sehen wir, als die
Dichtung war das Leben; ja in so hohem Grade schöner, daß Goethe,
die unwahrscheinliche Wahrheit zurücklassend, ein Anderes erfinden
mußte, damit die Dichtung als Wahrheit erscheine. Wie räthselhaft
können die Grenzen des Guten und Schönen sich in einander verschlingen!
Der Dichter mußte von der moralischen Höhe herabsteigen, um sich auf
dem poetischen Gipfel zu befinden, der ihn zum höchsten Dichterruhme
geführt hat. Der Gegenstand seiner Liebe wurde in seinem Gedichte
durch die Idee verherrlicht, daß ohne den Besitz der Geliebten zu
leben unmöglich sey. Er aber war zu groß, um in der Verzweiflung
unterzugehen; aus seinem Charakter konnte die zügellose Scene nicht
entwickelt werden, die den Entschluß zum Selbstmorde im Werther zur
Reife brachte; daher mußte er die Züge, welche dem Romane, wie er
gedacht war, die Entwickelung verliehen, aus einem minder starken
Manne borgen. Das Faktische hierzu, wie das Studium zu einem Gemälde,
hat Kestner in seiner Skizze von Jerusalems Tode ihm in die Hand
gearbeitet. Manche Stellen dieses Aufsatzes finden wir wörtlich im
Werther. Mit Goethen mußten auch Lotte und ihr Gemahl, in ihren
erborgten Gestalten, dem Roman zu Gunsten tiefer gestellt werden. Hätte
Werthers Lotte nicht in der Entwicklungsscene gegen den Albert gefehlt,
worauf sie Werther von sich wies, das Motiv zum Selbstmorde würde
gefehlt haben. Und hätte das Schicksal, minder grausam, den Werther um
eines Würdigeren willen, als Albert gedacht ist, untergehen lassen, dem
Untergange des Helden würden weniger Thränen geflossen seyn.
Die jungen Eheleute, noch voll von der reichen Zeit, die sie so eben in
steten Bezügen mit Goethen warm durchlebt hatten, mußte es um so mehr
schmerzen, von eben diesem Freunde eben dieses Verhältniß rücksichtslos
angewandt zu sehen, um daraus Bestandtheile eines Romans zu schöpfen,
der Mißdeutungen erregen und sie persönlich in ein falsches Licht
stellen konnte. Kestner mußte, in dem Gefühl, seine Gattin sich
gleichsam zum Theil entrissen zu sehen, seine Lotte durch die Lotte
des Gedichts, da Goethe's Liebe zu ihr bekannt war, beleidigt fühlen,
sich selbst aber durch seine Entstellung in dem gedichteten Albert.
Nach Empfang des Buchs daher schrieb er an Goethe einen Brief voller
Vorwürfe, von welchem ein Fragment, in seinem Nachlasse gefunden,
unsern Documenten unter Nr. 106 hinzugefügt ist.
Goethe, der Freund, verkannte nicht das Gewicht dieser Vorwürfe. Eine
Lotte hatte er offen gepriesen. Eine Lotte erschien in dem Gedichte, in
welchem zwischen Dichtung und Wahrheit keine Grenze sichtbar ist, und
das in allen seinen Theilen, den erfundenen und wahren, die glühenden
Farben einer zwischen Wunsch und Entbehrung erlebten Wirklichkeit an
sich trägt. Im Gefühl seines Fehls hatte er daher auf die Vorwürfe
nichts anderes zu erwiedern, als in den Briefen Nr. 107 und 109 die
rührendsten Bitten um Verzeihung, wobei er im Rausche des Ruhms,
der ihn selbst überraschte, -- denn ganz Deutschland war schon von
Bewunderung des Werthers entflammt -- dem Freunde die verherrlichenden
Ausdrücke entgegen rief, die von allen Seiten ihm entgegen tönten.
In dem Briefe Nr. 107 spricht er beruhigend zu den Herzen der Freunde:
»Und, meine Lieben, wenn Euch der Unmuth übermannt, denkt nur, denkt,
daß der alte, Euer Goethe, immer neuer und neuer, und jetzt mehr,
als jemals, der Eurige ist.« Auf ihre Theilnahme an seinem Triumph
vertrauend, sucht er sie in dem Briefe Nr. 109 zu trösten, indem er
schreibt: »Könntet Ihr den tausendsten Theil fühlen, was Werther
tausend Herzen ist, Ihr würdet die Unkosten nicht berechnen, die
Ihr dazu hergebt.« An Kestner besonders richtet er die gewichtigen
Trostesworte: »~Wenn ich noch lebe, so bist Du's, dem ichs danke,
bist also nicht Albert -- Und also --~«. Zwar sprach er in demselben
Briefe unter den Beruhigungsgründen auch die Zusage aus, binnen einem
Jahre alle etwaigen Mißdeutungen des Publikums »auf die lieblichste,
einzigste, innigste Weise auszulöschen.« Allein dieses, wenigstens
in der Maße, wie es in der ersten Aufregung ertheilt war, übereilte
Versprechen, ist, bis auf verschiedene in den folgenden Ausgaben des
Werther vorgenommene Abänderungen, unerfüllt geblieben. Später kamen
beide Freunde, laut der Documente Nr. 121 und 122, noch einmal auf
diesen Gegenstand zurück; aber weiter reichende Aenderungen zeigten
sich als unmöglich, je mehr das bewunderte Gedicht die Gemüther
ergriff, und zuerst von der deutschen, dann von den andern Nationen
Besitz nahm: jeder Gedanke war Eigenthum der Völker geworden, das der
Geber selbst nicht zurückfordern konnte. Auch Kestner wird dieses
erkannt haben und hat sich um so eher dabei beruhigen können, als das
Geheimniß des Romans in dem weiten Kreise seiner Freunde und Bekannten
bald hinreichend aufgeklärt war, und schon die Persönlichkeit der
Ehegatten sie vor jeder falschen Beurtheilung schützte.
Das schöne Verhältniß der Freunde überhaupt, und insbesondere Kestners
zugleich würdige und liebevolle Stellung zu dem minder besonnenen
Jüngling, kann treffender nicht hervortreten, als durch die Lösung
des von Goethe verschuldeten Mißverständnisses selbst. Seine große
Indiscretion würde unverzeihlich gewesen sein, wenn er deren Gewicht
hätte beurtheilen und die Wirkungen auf die davon betroffenen Freunde
voraussehen können. Allein ihm waren die Schranken des gewöhnlichen
Lebens gänzlich unbekannt und eben so unbekannt die Rücksichten
darauf, welche den Freunden gebührt hätten. Weit entfernt daher
von aller Besorgniß deßhalb, hat er vielmehr in den Briefen Nr. 97
bis 100, welche mehr oder weniger dunkle Andeutungen der künftigen
Erscheinung enthalten, so wie noch zuletzt in den das übersandte
Exemplar des Romans begleitenden Zetteln, Nr. 104 und 105, mit
arglosester Unbefangenheit vorausgesetzt, daß die Empfänger ebenfalls
sich daran erfreuen würden. Nur in dem einen Briefe Nr. 98 denkt er an
die Möglichkeit eines Anstoßes und warnt sie scherzend davor. Kestner,
obgleich schwer gekränkt, auch anfänglich nicht ohne Besorgniß vor
den möglichen Nachtheilen für ihn und seine Gattin, spricht seinen
Tadel gegen Goethe offen und kräftig, doch fern von Erbitterung aus
(Nr. 106). Mit welcher Milde und Nachsicht er aber im Innern seines
wohlwollenden Herzens Goethe's, des feurigen Dichters, Verfahren
betrachtet, entschuldigt und verzeiht, sprechen seine Briefe Nr.
108 und 110 an v. Hennings vertraulich auf eine Weise aus, die den
tiefsten Blick in seinen Charakter eröffnet. Diese Briefe, die zugleich interessante Aufschlüsse über das Verhältniß der Ehegatten zu Goetheund seinem Roman enthalten, bedürfen keines Commentars.
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