2015년 8월 30일 일요일

Kindheit 10

Kindheit 10


Als er mit dem Schriftstück in der Hand und der vorbereiteten Rede
im Kopf in das Arbeitszimmer trat, war seine Absicht, Papa in
schöngesetzten Worten alle Ungerechtigkeiten vorzuhalten, die er in
unserem Hause erlitten hatte. Als er dann aber mit der rührenden Stimme
und ausdrucksvollen Betonung, mit der er uns diktierte, zu sprechen
begann, wirkte seine Beredsamkeit am stärksten auf ihn selbst, und als
er an die Stelle kam, wo es hieß: »So schwer es mir auch wird, mich von
den Kindern zu trennen,« kam er ganz aus dem Text, seine Stimme schlug
über, und er mußte sein gewürfeltes Taschentuch herausnehmen.
 
»Ja, gnädiger Herr Peter Alexandrowitsch,« sagte er unter Tränen (diese
Stelle kam in der vorbereiteten Rede gar nicht vor), »ich habe mich so
an die Kinder gewöhnt, daß ich nicht weiß, was ich ohne sie anfangen
soll. Lieber werde ich ohne Gehalt bei ihnen bleiben,« schloß er, mit
der einen Hand die Tränen abtrocknend und mit der anderen die Rechnung
überreichend.
 
Daß Karl Iwanowitsch in diesem Augenblick aufrichtig sprach, kann ich
bestätigen, da ich sein gutes Herz kenne; wie aber die Rechnung zu
seinen Worten stimmte, bleibt für mich ein Rätsel.
 
»Wenn es Ihnen schwer wird, so wird mir die Trennung von Ihnen noch
schwerer,« sagte Papa, ihn auf die Schulter klopfend, »ich habe es mir
jetzt anders überlegt.«
 
»Was ist denn das?« meinte Papa, Ljubotschkas blaue Nase und verweinte
Augen bemerkend. »Wir haben wohl einen Streich begangen?«
 
Ljubotschka hatte sich schon fast ganz beruhigt; sobald sie aber
bemerkte, daß die allgemeine Aufmerksamkeit sich ihr zuwandte, brach
sie wieder in Tränen aus.
 
»Laß sie, Liebster,« sagte Mama, »sie muß ihre Arbeit fertigmachen.«
 
Papa nahm die Häkelnadel aus Ljubotschkas Händen und begann selbst zu
häkeln.
 
»Zu zweien werden wir eher fertig; noch besser: wir bitten um
Verzeihung,« er faßte sie an der Hand. »Komm!«
 
Ljubotschka hörte auf zu weinen, ging zu Mama und wiederholte die
Worte, die Papa ihr ins Ohr flüsterte.
 
»Heute ist der letzte Abend, Mama, daß wir ... ich und Papa ... will
... also ... verzeih ... uns ... sonst ... will er ... mich nicht mehr
... liebhaben ... wenn ich ... weine.«
 
»Verzeih uns,« sagte auch Papa und natürlich geschah das.
 
Kurz vor dem Abendessen kam Grischa ins Zimmer. Seitdem er unser Haus
betreten, hatte er unaufhörlich geseufzt und geweint, so daß nach
Ansicht derer, die an seine Prophetengabe glaubten, unserem Hause
sicher ein Unglück bevorstand.
 
Jetzt nahm er Abschied und sagte, er würde morgen früh weiterwandern.
Ich blinzelte Wolodja zu und ging zur Tür.
 
»Was denn?«
 
»Wenn ihr Grischas Ketten sehen wollt, so kommt schnell ins Leutezimmer
nach oben; Grischa schläft im zweiten Zimmer; wir können nebenan im
Verschlag sitzen, da sehen wir alles.«
 
»Famos! Wart hier, ich will die Mädchen rufen.«
 
Die Mädchen kamen herausgelaufen und wir begaben uns nach oben. Da
wurde zunächst gestritten, wer zuerst in das dunkle Loch gehen sollte;
dann setzten wir uns und warteten.
 
 
13. Grischa.
 
Wenn es auch niemand zugab, so gruselte uns allen doch in der
Dunkelheit, und wir rückten dicht nebeneinander. Nicht lange hatten
wir gewartet, da trat Grischa mit seinem Stab in der einen und einem
Talglicht im Messingleuchter in der anderen Hand leise ins Zimmer. Wir
wagten kaum zu atmen.
 
Unaufhörlich betete Grischa: »Erbarme dich unser, Herr Jesus Christ,
heil'ge Mutter Gottes« mit verschiedenen Betonungen und Abkürzungen,
wie sie nur diejenigen gebrauchen, die die Worte häufig aussprechen.
Unter Beten stellte er seinen Stab in die Ecke, besah das Bett und
begann sich auszukleiden. Zunächst wickelte er seinen alten schwarzen
Gürtel los und zog dann den zerrissenen langen Nangkingrock aus,
faltete ihn zusammen und legte ihn über die Stuhllehne -- alles das
geschah mit Sorgfalt, langsam. Sein Gesicht sah jetzt nicht wie
gewöhnlich zerfahren, unruhig und stumpfsinnig aus, sondern war im
Gegenteil ruhig, achtunggebietend und nachdenklich.
 
Nur noch mit dem Hemd bekleidet, ließ er sich langsam auf das Bett
nieder und zog, wie man sehen konnte, mit Anstrengung -- denn er verzog
das Gesicht dabei -- die Ketten unter dem Hemde hoch. Nachdem er einen
Augenblick gesessen hatte, stand er auf, hob unter Gebet das Licht
bis zur Höhe des Heiligenschreins, in dem ein paar Bilder standen,
bekreuzigte sich und kehrte das Licht mit der Flamme nach unten. Es
verlosch knisternd.
 
In die nach dem Walde zu gelegenen Fenster schien der Vollmond. Auf
der einen Seite sah man die vom Mondlicht beschienene Gestalt des
Pilgers, auf der anderen Seite einen langen Schatten, der mit dem des
Heiligenschreins auf den Fußboden und die Wand fiel und bis zur Decke
reichte. Draußen klopfte der Wächter gegen die Eisenplatte.
 
Grischa kreuzte die Arme über der Brust, senkte den Kopf und seufzte
unaufhörlich; endlich sank er mühsam auf die Knie und begann zu
beten; anfangs leise, nur einige Worte hervorhebend, dann mit stets
zunehmender Erregung. Er sprach keine bekannten Gebete mehr, -- die
hatte er bereits hergesagt -- sondern gebrauchte seine eigenen,
einfachen, kunstlosen Worte mit slawischen Endungen. Er betete für
sich, bat, Gott möge ihm verzeihen, betete für Mama, für uns und
schloß: »Gott, vergib meinen Feinden.« Dann erhob er sich ächzend,
wiederholte immer dieselben Worte, fiel auf den Fußboden nieder, schlug
mit der Stirn auf die Dielen und richtete sich mit den schweren
Ketten, die beim Berühren des Bodens laut klirrten, wieder auf.
 
Wolodja kniff mich ins Bein und zwar sehr heftig; ich sah mich aber
nicht um, sondern rieb mir mit der Hand das Bein und verfolgte mit
einem Gefühl kindlichen Erstaunens, Mitleids und frommer Rührung alles,
was da nebenan geschah.
 
Statt der lustigen Scherze und des Lachens, auf die ich in dem Versteck
gerechnet hatte, fühlte ich Zittern und Herzklopfen.
 
Lange, lange blieb Grischa in diesem Zustand religiöser Verzückung und
sprach seine selbsterfundenen Gebete. Die Worte waren einfach, aber
rührend. Bald wiederholte er mehrmals hintereinander: »Herr, erbarme
dich unser! Herr, erbarme dich unser!« aber jedesmal mit neuer Inbrunst
und anderem Ausdruck -- bald betete er: »Verzeih mir, Gott! Zeig mir,
was ich tun soll; zeig mir, was ich tun soll! mein Gott!« mit einem
Ausdruck, als wenn er mit jemandem spräche und sofort eine Antwort
erwartete. Dann wieder ertönte klägliches Schluchzen. Endlich erhob er
sich auf die Knie, kreuzte die Arme auf der Brust, richtete die Augen
gen Himmel und verstummte.
 
Ich schob langsam den Kopf durch die Tür und blickte mit verhaltenem
Atem auf Grischa. Er rührte sich nicht; aus seiner Brust drang schweres
Stöhnen; sein blindes Auge wurde vom Mond beschienen, der trübe,
weißfarbene Augapfel war feucht und an den Wimpern hing eine Träne.
 
»Dein Wille geschehe!« rief er plötzlich mit nicht wiederzugebendem
Ausdruck, fiel mit der Stirn auf den Boden und schluchzte wie ein Kind.
 
Viel Wasser ist seitdem zu Tal geflossen; viele Erinnerungen haben ihre
Bedeutung verloren und sind leere Träume geworden; sogar der Pilger
Grischa hat längst seine letzte Pilgerfahrt beendet -- der Eindruck
aber, den er auf mich machte, und das Gefühl, das er in mir hervorrief,
werden niemals aus meinem Gedächtnis schwinden.
 
O, du großer Christ Grischa! Wie stark war dein Glaube! Du wußtest, daß
Gott dich hört; deine Liebe war so groß, daß die Worte von selbst über
deine Lippen strömten -- du hast sie nicht mit dem Verstand abgewogen.
Und welch hohes Lob warst du für Seine Größe, als du ohne Wort dich in
Tränen auf den Boden warfst! ...
 
 
14. Im Verschlag.
 
Das Gefühl der Rührung, mit dem ich Grischa zuhörte, konnte nicht lange
anhalten, weil meine Neugierde befriedigt war, weil bei dem Sitzen auf
demselben Fleck meine Füße eingeschlafen waren und weil ich mich an dem
Flüstern und Stoßen der anderen im Verschlage beteiligen wollte.
 
Da faßte jemand meine Hand und flüsterte: »Wer ist das?«
 
Es war so dunkel in dem Verschlage, daß wir uns nicht sehen konnten; an
der Berührung und der Stimme dicht an meinem Ohr erkannte ich sofort
Katja.
 
In demselben Augenblick empfand ich ein süßes Zittern und dachte an
die Stelle unter dem Busentuch, die ich heute im Walde geküßt hatte.
Ich erwiderte nichts auf ihre Frage, sondern ergriff mit beiden Händen
ihren Arm, preßte ihn gegen meine Lippen und küßte ihn heftig. Aber
damit begnügte ich mich nicht; ohne ihren Arm loszulassen, knöpfte
ich vorsichtig den Ärmel auf und bedeckte den Arm von der Handwurzel
bis zum Ellbogen an der Stelle, an der zur Ader gelassen wird, mit
leidenschaftlichen Küssen. Als ich die Lippen in dieses Grübchen
schmiegte, empfand ich einen unbeschreiblichen Genuß und dachte nur an
eins -- nämlich mit den Lippen nicht zu viel Geräusch zu machen, um
mich nicht zu verraten.
 
Katja zog ihre Hände nicht zurück, sondern suchte mit der anderen
meinen Kopf, streichelte mein Gesicht und das Haar und suchte mich
fortzudrängen. Dann zog sie, als ob sie sich schämte, schnell ihren
Arm zurück und streifte den Ärmel herunter; ich packte ihn aber wieder
und preßte ihn noch stärker, bis mir Tränen aus den Augen rannen. Ich
tat ihr leid, sie beugte sich über mich und berührte mein Haar. Jetzt
war mir so angenehm wie nie im Leben; ich wünschte nur, dieser selige
Zustand möchte nie aufhören.
 
Wie soll ich den Genuß beschreiben, den ich empfand. Es kam hinzu, daß
die Haut auf dem Arm, den ich küßte, so zart und weich war, und der
Gedanke, daß dieser Arm Katja gehörte, die ich stets geliebt hatte, und
von der ich mich morgen, vielleicht auf immer, trennen sollte. Aber was
bedeutete dieses süße Weh, das ich empfand und das mir Tränen in die Augen trieb?

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