Kindheit 15
Und, ihr Argument für unwiderleglich haltend, fügte Großmutter hinzu:
»Übrigens kann hierüber jeder seine eigene Meinung haben.«
Die Fürstin lächelte gnädigst, um auszudrücken, daß sie diese
sonderbaren Vorurteile bei einer Person, die viele so hochschätzten,
nicht weiter übelnähme.
»Ach ja, machen Sie mich doch mit Ihren jungen Leuten bekannt, ~mon
cousin~,« sagte sie mit einem Blick auf uns, freundlich lächelnd.
Wir standen auf, sahen die Fürstin gerade an und wußten nicht, was wir
tun mußten, um zu zeigen, daß unsere Bekanntschaft geschlossen sei.
»Küßt der Fürstin die Hand,« sagte Großmutter.
»Habt eure alte Tante lieb,« sagte die Fürstin, Wolodja auf das Haar
küssend. »Ich bin zwar keine nahe Verwandte, aber ich denke, es geht
hier nach den freundschaftlichen Beziehungen und nicht nach dem
Verwandtschaftsgrade,« wandte sie sich besonders an Großmama, die
aber noch immer unzufrieden war und erwiderte: »Ach, meine Liebe, wer
rechnet denn in unserer Zeit noch solche Verwandtschaft!«
»Das ist mein junger Weltmann,« deutete Papa auf Wolodja, »und dieser
ein Philosoph, ein gelehrter Herr,« fügte er hinzu, während ich mir
beim Küssen der kleinen dunklen Hand der Fürstin mit wunderbarer
Deutlichkeit eine Rute in der Hand, und unter der Rute auf einer Bank
den kleinen Etienne mit lautem Wehgeschrei: »Au, au, au! ich will's
gewiß nicht wieder tun!« samt allem Zubehör vorstellte.
»Außerdem Poet; ~je vous prie de croire~,« fügte Papa hinzu.
»Welcher?« fragte die Fürstin, mich bei der Hand fassend.
»Dieser Struwwelpeter da,« sagte Papa mit vergnügtem Lächeln.
Brauche ich dem Leser, der sich meines neuen Moskauer Anzuges erinnert,
zu sagen, wie diese Bemerkung mich kränkte?
Als ich bei dem Spiegel vorbeikam, hatte ich hineingeblickt. Mein
Gesicht war rot wie Siegellack; auf der Nase, die noch breiter war als
gewöhnlich, und auf der breiten Stirn standen dicke Schweißtropfen; der
weiße Kragen lag schief auf dem zimtbraunen Frack; das pomadisierte
Haar starrte nach oben; die grauen Augen blickten trübe drein; jeder
mußte bemerken, daß ich mich bemühte, nachdenklich auszusehen, in
Wirklichkeit aber ein häßlicher, zerstreuter Junge war.
Obgleich ich die sonderbarsten Vorstellungen von Schönheit hatte --
sogar Karl Iwanowitsch mit seiner riesigen Nase hielt ich für den
schönsten Mann der Welt -- wußte ich sehr gut, daß ich häßlich sei,
und darin irrte ich mich nicht.
Ich weiß noch sehr gut, wie man, als ich erst sechs Jahre alt war,
beim Mittagessen über mein Äußeres sprach und wie Mama sich bemühte,
in meinem Gesicht etwas Hübsches zu entdecken; sie meinte, ich hätte
kluge Augen, ein angenehmes Lächeln usw., und wie sie schließlich den
Einwendungen Papas und dem Augenschein nachgebend, eingestand, daß ich
häßlich sei; wie sie nachher, als ich ihr gesegnete Mahlzeit wünschte,
meine Wange streichelte und sagte: »Das mußt du dir merken, Nikolenka,
daß dich wegen deines Gesichtes niemand lieben wird; deshalb mußt du
dich bemühen, ein kluger und guter Junge zu werden.«
Dieses Vorfalls erinnere ich mich sehr gut, und die Worte gaben mir
nicht nur die Überzeugung, daß ich niemals hübsch werden würde, sondern
sie hatten auch Einfluß auf meine Richtung. Es kam vor, daß mich
Verzweiflung ergriff; ich bildete mir ein, für einen Menschen mit so
breiter Nase, so dicken Lippen und kleinen Augen gäbe es kein Glück auf
Erden; ich betete zu Gott, ein Wunder zu tun und mich in einen hübschen
Jungen zu verwandeln; -- alles was ich besaß und jemals besitzen würde,
hätte ich für ein hübsches Gesicht hingegeben.
20. Fürst Iwan Iwanowitsch.
Als die Fürstin die Verse angehört und den Verfasser mit Lob
überschüttet hatte, wurde Großmutter weicher, sprach Französisch mit
ihr, sagte nicht mehr »Sie, meine Liebe« und bat sie, ihre Kinder
zu schicken. Die Fürstin sagte zu und fuhr dann nach kurzem weiteren
Verweilen fort.
An diesem Tage kamen so viele Gratulanten, daß der Hof den ganzen
Vormittag nicht leer von Wagen wurde.
»~Bon jour, ma chère cousine~,« sagte einer der Gäste beim Eintritt ins
Zimmer, Großmutter die Hand küssend.
Es war ein großer siebzigjähriger Herr in Uniform mit großen Epaulettes
und einem weißen Orden auf der Brust. Sein Gesichtsausdruck war ruhig,
offen. Die Ungezwungenheit und Schlichtheit seines Benehmens fielen mir
auf.
Trotzdem auf dem Scheitel nur ein Halbkreis grauer Haare
stehengeblieben war, und man an der Vertiefung der vom Schnurrbart
nicht bedeckten Oberlippe deutlich das Fehlen der Zähne bemerkte, war
sein Gesicht noch von bemerkenswerter Schönheit. Er war direkt auf
Großmutter zugegangen, und obgleich ein großer Teil der Anwesenden bei
seinem Erscheinen aufstand, begrüßte er die Gesellschaft erst, nachdem
er Großmutter seinen Glückwunsch dargebracht hatte.
Fürst Iwan Iwanowitsch hatte dank seinem vornehmen Charakter, seiner
ruhigen Tapferkeit, vorzüglicher Protektion und hervorragendem Glück
schon in jungen Jahren eine jener glänzenden militärischen Karrieren
gemacht, wie sie Ende vorigen Jahrhunderts möglich waren. Er blieb im
Dienst und sein Ehrgeiz wurde sehr bald in einer Weise befriedigt,
daß ihm in dieser Beziehung nichts zu wünschen übrigblieb. Seit
der frühesten Jugend war sein Benehmen derart, als bereite er sich
vor, eine glänzende Stellung in der Welt einzunehmen, die ihm
später zuteil wurde. Aus diesem Grunde änderte er, obgleich auch in
seinem glänzenden, tätigen, nützlichen und etwas prunkenden Leben
Enttäuschungen, wie bei allen, nicht ausgeblieben waren, seinen
Charakter und seine Denkart nie und erwarb sich infolgedessen die
allgemeine Achtung nicht so sehr auf Grund seiner glänzenden Position,
als seiner Konsequenz in allen Lebenslagen. Er war geistig durchaus
nicht hervorragend, dank seiner Stellung aber, die ihm erlaubte, auf
alle Widerwärtigkeiten des Lebens ruhig und sogar ein wenig verächtlich
herabzusehen, war sein Gedankenkreis ein ziemlich weiter.
Da ihn alle suchten und umschmeichelten, er aber nicht immer alle
Wünsche der anderen erfüllen konnte, war er trotz seines guten Herzens
etwas kalt und spöttisch im Verkehr. Diese Kälte wurde aber durch die
Leutseligkeit und ruhige Höflichkeit eines den allerhöchsten Kreisen
angehörigen Mannes gemildert. Seine Bildung und Belesenheit ließen
manches zu wünschen übrig; was man aber wissen mußte, hatte er stets
bereit und verstand darüber hübsch und fesselnd zu reden.
Seine Unterhaltung war einfach; und diese Einfachheit verdeckte
gleichzeitig seine Unkenntnis gewisser Dinge und stellte sein
angenehmes Wesen und seine Toleranz in helles Licht. Ich glaube nicht,
daß er den Lärm der großen Welt liebte, er war aber daran gewöhnt, und
deswegen machte es nichts aus, ob er im Auslande oder in Moskau lebte
-- er besuchte überall Bälle, wo er sich mit erlesenen Partnern an den
Kartentisch setzte, und hatte seine bestimmten Empfangstage. Seine
Autorität in gesellschaftlicher Beziehung war derart, daß, wenn er
jemanden nicht empfing, das als ein Ereignis galt. Junge, hübsche Damen
küßte er einfach auf Stirn und Wangen. Junge Leute, die er gern hatte,
wurden von ihm geduzt, und mancher sehnte sich nach dieser Auszeichnung.
Großmutter war eine von den Personen, die er als ebenbürtig ansah und
vor der er den gönnerhaften Ton unterließ, der ihm selbst schwer wurde.
Solche Leute waren nur noch wenige am Leben, deswegen, und ferner,
weil beide schon von kleinauf befreundet waren, schätzte er seine
Beziehungen zu ihr und bewies ihr bei jeder Gelegenheit seine Liebe und
Verehrung.
Ich konnte mich an dem Fürsten nicht satt sehen. Die Verehrung, die
alle ihm bezeigten, die großen Epaulettes, die besondere Freude, die
Großmutter bei seinem Anblick verriet, sowie der Umstand, daß er allein
ungeniert mit ihr verkehrte und sie »~ma cousine~« nannte, flößten
mir gleichen, ja vielleicht noch größeren Respekt vor ihm als vor
Großmutter ein. Als man ihm mein Gedicht zeigte, rief er mich heran und
sagte: »Wer kann's wissen, vielleicht wird das ein zweiter Dershawin,«
und zwickte mich dabei so heftig in die Wange, daß ich nur deswegen
nicht aufschrie, weil mir einfiel, daß es ja eine Liebkosung sein
sollte.
Papa und Wolodja gingen hinaus; im Gastzimmer blieben nur der Fürst
und Großmutter. Ich verstand den Sinn ihrer Unterhaltung nicht, weil
fortwährend unbekannte Worte und Namen gebraucht wurden; trotzdem
gefiel mir ihr Gespräch sehr; ich fand es schön, wie sich gehörte und
hatte am Zuhören besonderes Vergnügen, weil Großmutter sich unterdessen
gleichsam verjüngte; sie sprach viel, erzählte, lachte.
»Warum ist die liebe Natalie Nikolajewna nicht gekommen?« fragte Fürst
Iwan Iwanowitsch plötzlich nach minutenlangem Schweigen.
»Ach, ~mon cher~,« Großmutter dämpfte ihre Stimme und legte die Hand
auf seinen Uniformärmel, »ich will Ihnen sagen, was mich quält. Sie
schreibt mir, ihr Gatte hätte ihr geraten zu kommen, es seien aber
dieses Jahr fast gar keine Einkünfte zu verzeichnen, deswegen hätte
sie von selbst verzichtet. Dann schreibt sie: ›Außerdem habe ich
dieses Jahr keine Veranlassung, mit dem ganzen Hause nach Moskau
überzusiedeln, ~chère maman~. Ljubotschka ist noch zu klein, und
hinsichtlich der Knaben, die bei Dir wohnen, bin ich ruhiger als wenn
sie hier wären.‹ Das ist ja alles recht schön,« fuhr Großmutter in
einem Ton fort, der deutlich bewies, daß sie es gar nicht schön fand,
»die Knaben hätten längst hierher gemußt, um etwas zu lernen und sich
an die Welt zu gewöhnen -- denn welche Erziehung konnten sie auf dem
Lande genießen? Der älteste ist schon dreizehn, der andere zwölf. Haben
Sie schon bemerkt, ~mon cousin~,« meinte Großmutter achselzuckend, als
ob sie sich über etwas wunderte, »sie sind ganz verwildert, verstehen
nicht einmal, nett ins Zimmer zu treten.«
»Ich begreife nicht, ~ma cousine~,« erwiderte Fürst Iwan Iwanowitsch,
»warum da fortwährend über schlechte Erträge und zerrüttete
Vermögensverhältnisse geklagt wird. Er besitzt doch ein schönes
Vermögen, und ihre Besitzung Chabarowka kenne ich wie mein Eigentum.
Ein prächtiges Gut, das vorzügliche Einkünfte abwerfen muß.«
»Ich will Ihnen, mein wahrer Freund, sagen,« unterbrach Großmutter den
Fürsten, »es kommt mir vor, als wenn das alles nur Ausreden sind, damit
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