2015년 8월 30일 일요일

Kindheit 2

Kindheit 2



Ich war wieder ganz vergnügt.
 
Aus dem Klassenzimmer nebenan ertönte Karl Iwanowitschs Stimme, jetzt
schon ohne den Ausdruck von Güte, die mich zu Tränen rührte. Er rief
vielmehr streng: »Sind Sie bald fertig?«
 
Im Klassenzimmer war Karl Iwanowitsch ein ganz anderer Mensch:
Amtsperson, Erzieher. Ich zog mich schnell an, wusch mich und folgte
seinem Ruf, noch mit der Bürste in der Hand, das nasse Haar kämmend.
 
In demselben Aufzug, die Brille auf der Nase, über die hinweg er
Wolodja ansah, der etwas ausgefressen hatte und in der Ecke kniete,
saß auf seinem gewöhnlichen Platz, rechts zwischen Tür und Fenster
Karl Iwanowitsch. Links von der Tür hingen zwei Bücherborte: das eine
unseres, für Kinder; das andere seins, sein Eigentum! Auf unserem
befanden sich alle möglichen Bücher: Lehrbücher und andere, gebunden
und ungebunden; teils standen, teils lagen sie. Nur zwei große Bände
»~Histoire des voyages~« in rotem Einband standen stets akkurat am
Rande; dann kamen lange, dicke, kleine Bücher, Deckel ohne Bücher
und umgekehrt -- da wurde alles hingestopft und -geworfen, wenn er
vor der Erholungspause die »Bibliothek«, wie Karl Iwanowitsch das
Bücherbort nannte, in Ordnung bringen hieß. Die Büchersammlung auf
seinem eigenen Bort war nicht so groß wie unsere, dafür aber noch
mannigfaltiger. Ich erinnere mich an drei Bücher: eine deutsche
Broschüre über die Düngung in Kohlgärten -- ungebunden; ein Band der
Geschichte des Siebenjährigen Krieges, in Pergament, an einer Ecke
durchgebrannt; und ein vollständiges Lehrbuch der Hydrostatik. Während
seines ganzen fünfzehnjährigen Aufenthaltes in unserem Hause las Karl
Iwanowitsch nichts als diese Bücher und die Zeitschrift »Nordische
Biene«, verbrachte aber die größere Hälfte des Tages mit Lektüre, so
daß er sich die Augen verdarb. Außerdem las er noch die Bibel, aber
nur Sonntags. Unter den Gegenständen auf seinem Bücherbort ist mir
einer ganz besonders im Gedächtnis geblieben: das war eine Scheibe
aus Pappe mit hölzernem Gestell, an dem sich die Scheibe durch Stifte
hoch und niedrig stellen ließ. Auf die Scheibe war ein Bild geklebt,
die Karikatur einer Dame und eines Friseurs. Karl Iwanowitsch war sehr
geschickt im Kleben und hatte diese Scheibe eigenhändig zum Schutz
seiner schwachen Augen vor dem Licht verfertigt. Noch jetzt sehe ich
die lange Gestalt im wattierten Schlafrock und roter Zipfelmütze, unter
der spärliches, graues Haar hervorguckt. Er sitzt am Tisch mit der
Friseurpappscheibe; Schatten fällt auf sein Gesicht. In der einen Hand
hält er das Buch gegen das Licht, die andere ruht auf der Sessellehne.
Neben ihm liegt die Uhr mit einem Jäger auf dem Zifferblatt, sein
gewürfeltes Schnupftuch, die schwarze, runde Tabaksdose, ein grünes
Brillenfutteral, die Lichtschere auf dem Untersatz: alles liegt so
akkurat und symmetrisch auf seinem Platz, daß man schon daraus auf das
reine Gewissen und den Seelenfrieden dieses Mannes schließen kann.
 
Wenn ich unten im Saal genug herumgetollt hatte, schlich ich wohl auf
Zehenspitzen oben ins Klassenzimmer und sah, wie Karl Iwanowitsch
allein in seinem Lehnstuhl saß und mit dem gewöhnlichen wichtigen
Ausdruck las. Bisweilen traf ich ihn nicht lesend: die Brille auf die
große Adlernase heruntergerutscht, die blauen, halbgeschlossenen Augen
mit sonderbarem Ausdruck über das Buch hinwegblickend und die Lippen zu
einem traurigen Lächeln verzogen. Im Zimmer herrschte Stille; nur sein
gleichmäßiges Atmen war zu hören und das Ticken der Jägeruhr. Da wurde
einem traurig zumute.
 
Oft, wenn er mich nicht bemerkte, stand ich da und dachte: armer, armer
Karl Iwanowitsch. Wir unten spielen -- wir sind viele, sind vergnügt;
er aber ist unglücklich und ganz allein, und niemand hat ihn lieb.
Er sagt mit Recht, daß er verwaist ist. Wie schrecklich ist seine
Lebensgeschichte, die er Nikolas einmal erzählt hat ... Schrecklich
ist seine Lage! Er tut einem so leid, daß man bisweilen hingeht,
ihn bei der Hand faßt und sagt: »lieber Karl Iwanowitsch!« Er hatte
es gern, wenn man so zu ihm sprach, streichelte mich stets und war
augenscheinlich gerührt. Ich benutzte die Gelegenheit und bat ihn dann
schnell, mir ein Hasen- oder Nonnenschattenbild an der Wand zu zeigen
oder eine Maus aus dem Schnupftuch zu machen.
 
An der anderen Wand hingen Landkarten, fast sämtlich zerrissen, aber
von Karl Iwanowitsch kunstgerecht wieder zusammengeklebt. Trotzdem sah
Europa Gott weiß welchem Ungeheuer ähnlich.
 
An der dritten Wand, in deren Mitte die Tür nach unten führte, hingen
auf der einen Seite zwei Lineale: eins zerschnitten für unseren
Gebrauch, das andere, neue, sein Eigentum, wurde mehr zu unserer
Aufmunterung als zum Liniieren gebraucht. Auf der anderen Seite eine
schwarze Tafel, auf der mit Nullen unsere großen und mit Kreuzen die
kleinen Sünden vermerkt wurden. Links vor der Tafel beim Ofen war die
Ecke, in der wir niederknien mußten und in der gegenwärtig Wolodja
kniete.
 
Als ich eintrat, blickte er Karl Iwanowitsch an, der aber die Augen
nicht aufschlug. Da setzte Wolodja sich auf die Knie, schnitt mir
eine furchtbar komische Grimasse und hielt sich die Nase zu, um nicht
loszuplatzen. Aber das nützte nichts, er prustete dennoch, während Karl
Iwanowitsch ins Schlafzimmer ging, um sich anzukleiden.
 
Wie genau ich mich an diese Ecke erinnere! Ich weiß noch die
Ofenklappe, das Luftloch darin, das Sausen, wenn man die Klappe aufzog.
Bisweilen kniete und kniete ich da in der Ecke und dachte: Karl
Iwanowitsch hat dich vergessen; sah mich um, aber da saß er immer noch
in derselben Haltung, las seine Geschichte des Siebenjährigen Krieges
oder die Hydrostatik. Für ihn vielleicht ganz gemütlich; an mich aber
denkt er nicht! Da fängt man denn an, um sich bemerkbar zu machen,
leise die Ofenklappe zu öffnen und zu schließen, oder Kalk von der
Wand zu kratzen; wenn man aber schließlich ein zu großes Stück lockert
und dieses mit Gepolter auf den Boden fällt -- dann ist wahrhaftig die
Angst schlimmer als jede Strafe; man sieht sich um -- er sitzt immer
noch in derselben Haltung.
 
Die letzte Wand nahmen drei Fenster ein. Mitten im Zimmer stand ein
Tisch mit zerrissenem schwarzen Wachstuch, unter dem an vielen Stellen
die mit dem Federmesser zerschnittenen Tischecken hervorguckten.
Ringsum ungestrichene, vom langen Gebrauch aber glänzend blank
gewordene, harte Sitzböcke.
 
Als Karl Iwanowitsch hinausgegangen war, ging ich zu Wolodja und
fragte: »warum?«
 
»Ach, Dummheit,« meinte er nachlässig, »weil ich mich zum Fenster
hinausgelehnt habe, um Akim zu sehen (Akim war unser halbverrückter
Gärtner) und nicht bemerkt habe, daß er da seine dummen Schachteln zum
Trocknen aufgestellt hatte; da habe ich aus Versehen eine zerdrückt.«
 
»Welche denn?« fragte ich.
 
Er konnte mir nicht antworten, weil in diesem Augenblick Karl
Iwanowitsch, vollständig angekleidet, im blauen Rock und grauen Hosen
ins Zimmer trat. Wolodja deutete mit seinen dreisten, schwarzen Augen
nur auf die Ecke hinter dem Ofen, hob wieder die Schultern und wäre
beinahe losgeplatzt.
 
Ich sah hin; das beste Erzeugnis Karl Iwanowitschs -- ein Futteral mit
zwei Zwischenwänden, das nur noch trocknen und mit Einfassung beklebt
werden mußte, um am Namenstage einem Familienmitgliede als Präsent
dargebracht zu werden, ein Futteral, für welches Karl Iwanowitsch beim
Tischler Kondratius extra eine Form bestellt, an dem er mit besonderer
Sorgfalt und Liebe gearbeitet hatte -- dieses Futteral lag zerdrückt,
verbogen hinter dem Ofen zwischen Staub und neben der Dielenbürste
auf dem Fußboden -- wahrscheinlich hatte Karl Iwanowitsch es in einem
Augenblick des Ärgers selbst dorthin geworfen.
 
Es kam mir sonderbar vor, daß Wolodja darüber lachen konnte.
 
Karl Iwanowitsch blieb vor der Tür stehen und begann auf dem oberen
Balken mit Kreide Buchstaben und Ziffern zu malen. Er führte seinen
Kalender auf dieser Tür; da aber der ganze Monat nicht auf das obere
Gesims hinaufging, so wischte er an gewissen Tagen das Geschriebene aus
und schrieb neue Zeichen hin.
 
Während er damit beschäftigt war, trat ich zum letzten Fenster. Die
Aussicht von dort war folgende: gerade unter dem Fenster ein großer
Fliederbusch, hinter dem Busch eine geschorene Lindenallee, durch die
man die Wiese sah, mit der Tenne auf der einen Seite und dem Wald auf
der anderen und gegenüber. Im Walde sah man die Wärterhütte. Es läßt
sich nicht beschreiben, wie schön das alles war.
 
Aus dem Fenster rechts war ein Teil der Veranda sichtbar, auf welcher
meistens alles bis zum Mittagessen saß. Bisweilen, während Karl
Iwanowitsch das Diktat korrigierte, blickte ich nach jener Seite,
sah dann das schwarze Köpfchen der Mutter, einen Rücken und hörte
undeutliches Gespräch und Lachen. Ich war recht ärgerlich, daß ich
nicht dabei sein konnte! Ich dachte: wann werde ich groß sein, aufhören
zu lernen und immer bei denen sein, die ich liebhabe? Ärger überkam
mich, und Gott mag wissen, an was ich so sehr dachte, daß ich gar nicht
hörte, wie Karl Iwanowitsch über die Fehler böse war und schalt.
 
Wolodja durfte aufstehen und wir gingen hinunter, um die Mutter zu
begrüßen.
 
 
2. Mama.
 
Mama saß im Gastzimmer und goß Tee ein; mit einer Hand hielt sie die
Teekanne, mit der anderen den Samowarhahn, aus dem das Wasser über den
Rand der Teekanne auf das Teebrett floß. Obgleich sie unverwandt auf
diese Stelle blickte, bemerkte sie nichts, bemerkte nicht einmal, daß
wir eintraten.
 
Wenn man versucht, die Züge eines geliebten, längst verstorbenen Wesens
in Gedanken wachzurufen, tauchen so viele traurige Erinnerungen an die
Vergangenheit auf, daß man durch diese Erinnerungen wie durch Tränen
sieht. Das sind die Tränen der Erinnerung.
 
Wenn ich mich bemühe, mir meine Mutter so vorzustellen, wie sie damals
war, sehe ich nur ihre wunderbaren braunen, stets gleichmäßige Güte und
Liebe ausdrückenden Augen, das Muttermal am Halse, ein wenig unterhalb
der Stelle, wo sich die kleinen Härchen kräuseln, das gestickte weiße
Bäffchen und die magere, weiße, zarte Hand, die ich so oft küßte und
die mich so oft gestreichelt hat.
 
Links vom Sofa an der Wand stand ein alter englischer Flügel, an
dem mein schwarzbraunes Schwesterchen Ljubotschka saß und mit ihren
rosigen, soeben in kaltem Wasser gewaschenen Fingerchen mit deutlich
sichtbarer Anstrengung die Etüden von Clementi übte. Sie war elf
Jahre alt, trug ein kurzes Leinenkleid und weiße, spitzenbesetzte
Höschen. Die Oktaven konnte sie nur »Arpeggio« greifen. Neben ihr,
halb seitwärts, saß Maria Iwanowna in einer rosa bebänderten Haube,

댓글 없음: