Kindheit 18
Großmutter empfing die beiden sehr liebenswürdig; besonders schien sie
sich über Sonjas Anblick zu freuen, die sie dicht zu sich heranrief.
Sie strich ihr eine Locke zurecht und meinte, ihr Gesicht aufmerksam
betrachtend: »~Quelle charmante enfant!~«
Sonja lächelte errötend und tat so lieb, daß ich ebenfalls vor
Vergnügen und Verlegenheit errötete.
»Hoffentlich gefällt es dir bei mir, mein Kind,« sagte Großmutter und
faßte sie unters Kinn. »Tanz und amüsiere dich, so gut du kannst. Da
sind schon zwei Kavaliere,« wandte Großmutter sich an Frau Walachin und
berührte mich mit der Hand. Diese Annäherung war mir sehr angenehm und
ließ mich noch mehr erröten. Im Gefühl, daß meine Verlegenheit noch
zunehmen könnte, und da ich auch das Rollen einer Equipage hörte, hielt
ich es für angebracht, mich zu entfernen.
Im Flur traf ich die Fürstin Korpakow nebst Sohn und einer unendlichen
Anzahl Töchter, einer geradezu unwahrscheinlichen, wenn man bedenkt,
daß alle aus einem Schoß und einer Equipage gekommen waren. Alle
Töchter glichen der Fürstin und waren häßlich; deswegen fesselte keine
meine Aufmerksamkeit; ich bemerkte nur, daß alle blasse Gesichter und
rötliches Haar hatten und beim Ablegen der Mäntel, Boas und Mützen
durcheinander rannten, mit ihren dünnen Stimmen plapperten und lachten
-- wahrscheinlich darüber, daß sie so viele waren.
Etienne war ein dreizehnjähriger, großer, fleischiger, schwitzender
Knabe mit bereits »wissendem« Gesichtsausdruck, eingefallenen,
blauumränderten Augen und riesigen Füßen und Händen; er war plump,
seine Stimme wechselte, er schien aber sehr zufrieden mit sich und
war genau so wie ein Junge, der mit Ruten gezüchtigt wird, meiner
Auffassung nach sein kann. Die bläulichen Schatten unter den Augen
schrieb ich infolge meiner Unerfahrenheit keinem anderen Grunde zu.
Wir standen uns ziemlich lange gegenüber und musterten uns aufmerksam,
ohne ein Wort zu sprechen. Die vorübergehende Fürstin befreite uns
aus dieser greulichen Lage, indem sie mich gleichzeitig all ihren
Kindern vorstellte. Wir drückten uns die Hand, bewegten uns noch näher
aneinander heran und wollten uns scheint's küssen; aber nach einem
nochmaligen Betrachten überlegten wir es uns anders.
Als die Kleider sämtlicher Schwestern vorübergerauscht waren, begann
ich, um etwas zu sagen: »Es war wohl etwas eng im Wagen?«
»Weiß nicht,« erwiderte Etienne. »Ich setze mich niemals in den Wagen.
Da drinnen wird mir übel und schlecht; deswegen zwingt Mama mich nicht.
Wenn wir abends ausfahren, sitze ich stets auf dem Bock. Da kann man
alles sehen, und Philipp gibt mir bisweilen die Zügel, und die Peitsche
nehme ich mir -- fein!« schloß er.
»Durchlaucht,« ein Diener trat in den Flur, »Philipp läßt fragen, wo
die Peitsche wäre?«
»Wieso? Ich habe sie ihm doch gegeben!«
»Philipp sagt: nein.«
»Dann habe ich sie an die Laterne gehängt.«
»Philipp behauptet, sie wäre auch da nicht; sagen Sie schon lieber, daß
Sie sie verloren haben,« der Diener wurde lebhafter, »nun kann Philipp
mit seinem Gelde für Ihren Mutwillen aufkommen.«
Der Diener, dem Anschein nach ein rechtschaffener Mann, wenn auch mit
einem Mopsgesicht, las offenbar seinem jungen Herrn nicht zum erstenmal
den Text; dieser war gerade jetzt, bei unserer ersten Bekanntschaft,
sehr erregt und schien die Sache nicht auf sich beruhen lassen zu
wollen. Aus Zartgefühl ging ich, die Verlegenheit des jungen Fürsten
bemerkend, beiseite, tat, als besähe ich das Schloß an der Tür und ließ
die beiden sich aussprechen. Anders handelten die anwesenden Diener;
sie rückten mit großem Vergnügen näher und blickten zustimmend auf den
Diener, spöttisch auf den jungen Fürsten.
»Nun -- dann habe ich sie verloren!« sagte Etienne, weiteren
Auseinandersetzungen aus dem Wege gehend in scharfem, weinerlichem Ton.
»Werd' ihm schon bezahlen, was die Peitsche kostet. Lächerlich!« Er kam
auf mich zu und zog mich ins Gastzimmer.
»Nein, erlauben Sie, Herr, womit wollen Sie denn bezahlen? Ich weiß,
wie Sie das machen. Maria Wassiljewna bezahlen Sie schon seit acht
Monaten zwanzig Kopeken; mir schulden Sie auch schon seit einem Jahr
zwei Rubel fünfundzwanzig Kopeken; Petruschka ...«
»Willst du schweigen, frecher Kerl!« schrie der junge Herr, bleich vor
Wut, »ich werde bestimmt alles melden.«
»Bestimmt alles melden!« wiederholte der Diener zum allgemeinen Gaudium
spöttisch in grobem Baß. »Das ist nicht hübsch, Durchlaucht!« schloß
er besonders eindrucksvoll und ging mit den Mänteln zur Garderobe.
»Das war recht,« sagte jemand von den Zuhörern, während wir, durch
Schweigen unserer Verachtung Ausdruck gebend, uns zu Großmutter begaben.
Diese hatte eine besondere Gabe, durch Anwendung des »Du« und »Sie«
in bestimmten Fällen und mit besonderer Betonung den Leuten ihre
Meinung direkt ins Gesicht zu sagen. Weil sie diese Fürwörter gerade
entgegengesetzt zu der allgemeinen Gewohnheit gebrauchte, bekamen sie
in ihrem Munde eine ganz besondere Bedeutung. Ich bin überzeugt, daß
sie sich Etienne beim ersten Anblick unter der Rute und mit allen
unanständigen Einzelheiten vorstellte; sie empfing ihn sehr kalt und
nannte ihn mit solchem Ausdruck der Verachtung und des Abscheus »Sie«,
daß ich an seiner Stelle ganz fassungslos geworden wäre. Etienne war
augenscheinlich von anderem Kaliber. Er beachtete weder die Art des
Empfanges, noch Großmutters Person, sondern verbeugte sich vor der
ganzen Gesellschaft nicht gerade geschickt, aber sehr ungezwungen, ging
sogar zu Sonja und forderte sie zur Quadrille auf.
Sonja fesselte meine ganze Aufmerksamkeit. Ich hatte bemerkt, daß,
wenn Wolodja, Etienne und ich uns im Saal am Fenster unterhielten, von
wo aus wir Sonja sehen und sie mich sehen und hören konnte -- ich mit
besonderem Vergnügen sprach; und wenn ich eine nach meiner Auffassung
verständige oder komische Bemerkung tat, brachte ich sie lauter heraus
und blickte dabei nach der Tür des Gastzimmers. Als wir aber vom
Fenster fortgingen und an eine Stelle kamen, wo man uns vom Gastzimmer
weder sehen noch hören konnte, schwieg ich und fand kein Vergnügen mehr
an der Unterhaltung.
Gastzimmer und Saal füllten sich allmählich mit Gästen; unter ihnen
waren, wie stets bei Kindergesellschaften, ein paar große Kinder, die
diese Gelegenheit, sich zu amüsieren und zu tanzen, nicht vorübergehen
lassen wollten, wenn auch nur, um -- anderen ein Vergnügen zu bereiten.
Als Iwins kamen, empfand ich statt der gewöhnlichen Freude bei
Serjoschas Anblick eine Art Ärger, daß er Sonja sah und sich ihr zeigte.
23. Vor der Mazurka.
Als Iwins aus dem Gastzimmer zurückkamen, wo Serjoscha trotz seines
angenehmen Äußeren den allgemeinen Tribut der Verlegenheit entrichtet
hatte, faßte ich ihn am Ellbogen und forderte ihn auf, zum Tanz nach
oben zu kommen.
»Los, los!« rief Etienne plump zutraulich, Serjoscha am Arm ziehend.
»Hat euer Deutscher eine Pfeife?«
Obgleich mir die Gesellschaft des jungen Fürsten und sein freier Umgang
mit Serjoscha durchaus nicht angenehm war, mißfiel mir noch mehr
Serjoschas Anwesenheit im Gastzimmer.
»~Où allez vous, Mr. Serge; ne voyez vous pas, qu'on va danser?~« Herr
Forst hielt uns auf. »Haben Sie Ihre Handschuhe?« fügte er hinzu.
»Gewiß; man muß Handschuhe anziehen,« Serjoscha holte ein paar neue
Glacés hervor.
Und wir haben keine, dachte ich. Was soll man machen. Geschwind
lief ich nach oben. Aber obgleich sämtliche Kommodenschiebladen
durchgestöbert wurden, fand ich nur unsere grauen Winterhandschuhe,
und einen einzelnen Glacé, der mir einmal viel zu weit war und dem
obendrein der Mittelfinger fehlte -- wahrscheinlich hatte Karl
Iwanowitsch ihn vor langer Zeit einmal für einen kranken Finger
abgeschnitten. Ich wußte nicht, was ich anfangen sollte, zog den Rest
des Handschuhs an, steckte den Mittelfinger durch das Loch und stand,
den Finger auf und nieder bewegend und einen Tintenfleck aufmerksam
betrachtend, sehr nachdenklich da.
Wenn jetzt Natalie Sawischna hier gewesen wäre, die hätte schon
Handschuhe gefunden! Nach unten gehen konnte ich in diesem Aufzuge
nicht, denn wenn man fragte, warum ich nicht tanzte -- was sollte ich
erwidern? Hier bleiben konnte ich auch nicht, weil man mich finden
würde. Also was tun? -- Ich rang verzweifelt die Hände. Ich war einfach
verloren; schrecklich! -- sagte ich, stellte das Stearinlicht auf die
offene Kommodenschieblade, senkte den Kopf auf die Brust und machte ein
finsteres Gesicht.
Plötzlich ertönte unten Musik. Ich sprang unwillkürlich auf, rannte
durch alle Zimmer und suchte Handschuhe: in Heften, unterm Globus,
zwischen Stiefeln -- da aber keine da waren, blieb all mein Suchen
umsonst.
Mit den Worten: »Was machst du denn hier?« kam Wolodja hereingelaufen,
»engagiere schnell eine Dame; es geht gleich los.«
»Wolodja,« ich zeigte ihm meine vier Finger in dem Glacé und sagte mit
einer fast verzweifelten Stimme, »Wolodja, du hast auch nicht daran
gedacht, daß wir ...«
»Was denn?« fragte er ungeduldig.
»Wie können wir so! ...« erwiderte ich fast unter Tränen und hielt ihm
meine Hand vors Gesicht.
»Ach Handschuhe,« meinte er ganz gleichgültig. »Nein, das geht nicht
... wir müssen Großmutter fragen; was die sagen wird.«
Damit lief er nach unten. Seine Worte verscheuchten den düsteren
Schatten, der auf dem Ereignis lag; ich begab mich schnell zu
Großmutter.
Vorsichtig an ihren Sessel herantretend und ihre Mantille leicht
berührend, fragte ich im Flüsterton: »Großmutter! Was sollen wir
machen? Wir haben keine Handschuhe.«
»Was willst du, Kind?»Wir haben keine Handschuhe,« wiederholte ich, die andere Hand auf dieSessellehne legend. Ich wollte nur von Großmutter gehört werden.
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