Kindheit 21
Diese Träume waren so klar und angenehm, daß ich vor süßer Erregung
nicht einschlafen konnte; ich wollte jemandem mein Glück mitteilen.
»Lieb--ling!« sagte ich fast laut, mich schnell auf die andere Seite
drehend.
»Wolodja, schläfst du?«
»Nein,« erwiderte dieser schläfrig. »Was ist?«
»Ich bin verliebt, Wolodja, total verliebt in Sonja Walachin.«
»Na u--und?« meinte er gedehnt.
»Ach, Wolodja, du kannst dir nicht vorstellen wie mir ist; eben lag ich
unter der Decke, und da hab ich sie so deutlich, so klar gesehen und
mit ihr gesprochen -- einfach erstaunlich. Willst du glauben, so sehr
ich mich schäme, aber ich möchte, Gott weiß warum, schrecklich gern
weinen.«
Wolodja bewegte sich.
»Ich möchte nur eins,« fuhr ich fort, »nämlich: sie immer sehen ...
weiter nichts. Bist du auch verliebt? Sag doch die Wahrheit, Wolodja.«
Sonderbar. Ich wünschte, daß alle in Sonja verliebt wären und alle es
erzählten.
»Was geht dich das an,« meinte Wolodja, sich mit dem Gesicht zu mir
wendend, »kann schon sein.«
»Du willst gar nicht schlafen, hast nur so getan!« rief ich
triumphierend. An seinen Augen sah ich, daß er nicht an Schlaf dachte
und schlug die Bettdecke zurück. »Laß uns von ihr plaudern. Nicht wahr,
sie ist so reizend ... so reizend, daß, wenn sie zu mir sagt: ›Nikolas,
spring aus dem Fenster, oder stürz dich ins Feuer, ich möchte es‹ --
weiß Gott,« sagte ich, mich zur Beteurung meiner Worte bekreuzend,
»ich täte es sofort. Ach, dieser Liebling! Ei--jai--jai, wie reizend!«
schloß ich, sie mir deutlich vorstellend, und warf mich, um das Bild
so recht zu genießen, mit einem Ruck herum in die Kissen. »Ich möchte
schrecklich gern weinen, Wolodja.«
»Du Schafskopf,« sagte er lächelnd und meinte dann nach kurzem
Schweigen: »ich bin ganz anders wie du; ich denke, wenn ich könnte,
möchte ich erst neben ihr sitzen ...«
»Aha! Also du bist auch verliebt,« unterbrach ich ihn.
»Dann,« fuhr Wolodja lächelnd fort und machte dabei so verschmitzte
Augen (wie Papa, wenn er mit Damen sprach), »dann möchte ich sie an der
Hand fassen, dann ihre Fingerchen, Äuglein, das Näschen, die Lippen,
Füßchen, alles möchte ich küssen ... möchte sie auffressen!« schloß er,
mit den Füßen ausschlagend und mit den Zähnen knirschend.
»Dummheit! Gemeinheit!« schrie ich ärgerlich und wandte mich ab.
»Du verstehst nichts,« sagte Wolodja verächtlich.
»Nein, ich verstehe schon, aber du hast keine Ahnung und redest
Dummheiten,« erwiderte ich unter Tränen.
»Ist doch gar kein Grund zum Weinen! Bist ein richtiges Weib!«
27. Ein Brief.
Am 16. April, fast sechs Monate nach dem soeben beschriebenen Tage, kam
der Vater während des Unterrichts zu uns nach oben und teilte uns mit,
daß wir heute nacht mit ihm aufs Land, nach Hause fahren sollten. Mir
wurde bei dieser Nachricht beklommen ums Herz; meine Gedanken wandten
sich sofort der Mutter zu. Der Grund dieser unerwarteten Abreise war
folgender Brief:
Petrowskoie, 12. April.
»Soeben, erst um zehn Uhr abends, erhielt ich Deinen lieben Brief
vom 2. April, und meiner alten Gewohnheit gemäß beantworte ich ihn
sogleich. Fedor hatte ihn gestern aus der Stadt mitgebracht, da es aber
schon spät war, übergab er ihn Mimi erst heute morgen. Die behielt ihn
unter dem Vorwande, ich sei nicht wohl, den ganzen Tag. Allerdings
hatte ich heute etwas Fieber und, um Dir die Wahrheit zu sagen, bin ich
schon drei Tage nicht wohl und bettlägerig.
Erschrick bitte nicht, Liebling; ich fühle mich ziemlich gut, und wenn
Iwan Wassilitsch erlaubt, gedenke ich morgen aufzustehen.
Freitag voriger Woche fuhr ich mit den Kindern spazieren; wo der
Weg auf die Chaussee mündet, bei der kleinen Brücke, die mir stets
Schrecken einflößt, blieben die Pferde im Schmutz stecken. Es war gutes
Wetter und ich gedachte, während man den Wagen herausgezogen hätte,
bis zur Chaussee zu Fuß zu gehen. Bei der Kapelle fühlte ich mich
sehr müde und setzte mich hin, um etwas auszuruhen; da es aber fast
eine halbe Stunde dauerte bis Leute kamen, die den Wagen herausziehen
konnten, wurde mir kalt, namentlich an den Füßen, weil meine Stiefel
dünne Sohlen hatten und durchnäßt waren. Nach dem Mittagessen stellte
sich Schüttelfrost und Hitze ein; ich ging, aber, wie gewohnt, meiner
Beschäftigung nach und spielte nach dem Tee mit Ljubotschka vierhändig.
(Du wirst sie nicht wiedererkennen, solche Fortschritte hat sie
gemacht.) Denke Dir mein Erstaunen, als ich bemerkte, daß ich nicht
Takt halten konnte. Ein paarmal fing ich an zu zählen, aber es drehte
sich alles in meinem Kopf, und ich hatte sonderbares Ohrensausen. Ich
zählte: eins, zwei, drei, dann plötzlich acht, fünfzehn -- ich fühlte,
daß ich verkehrt zählte und konnte es doch nicht besser machen. Endlich
kam Mimi mir zu Hilfe und brachte mich fast mit Gewalt zu Bett. Das
ist, Liebling, mein ausführlicher Bericht, wie ich krank geworden, und
daß ich selbst an allem schuld bin.
Den nächsten Tag hatte ich ziemlich starkes Fieber, und unser guter
alter Iwan Wassilitsch kam, der bis jetzt bei mir weilt und mich bald
zu entlassen verspricht. Ein prächtiger Alter, dieser Iwan Wassilitsch.
Als ich Fieber hatte und phantasierte, hat er die ganze Nacht, ohne ein
Auge zu schließen, an meinem Bett gesessen; jetzt, wo er weiß, daß ich
schreibe, sitzt er mit den Mädchen im Diwanzimmer, und ich kann vom
Schlafzimmer aus hören, wie er ihnen deutsche Märchen erzählt und sie
vor Lachen vergehen wollen.
~La belle Flamande~, wie Du sie immer nennst, ist schon vierzehn Tage
bei mir, da ihre Mutter irgendwo zum Besuch ist. Sie zeigt mir durch
ihre Fürsorge aufrichtige Anhänglichkeit und vertraut mir all ihre
Herzensgeheimnisse an. Bei ihrem hübschen Gesicht, ihrem guten Herzen
und ihrer Jugend könnte ein in jeder Beziehung reizendes Mädchen aus
ihr werden, wenn sie in gute Hände käme; in der Gesellschaft aber,
in der sie lebt, geht sie, nach ihren Erzählungen zu urteilen, ganz
zugrunde. Mir kam der Gedanke, wenn ich nicht soviel eigene Kinder
hätte, täte ich ein gutes Werk, sie zu mir zu nehmen.
Ljubotschka wollte dir selbst schreiben, hat aber schon den dritten
Bogen zerrissen und sagt: ›ich weiß, wie gern Papa spottet; wenn ich
einen Fehler mache, zeigt er ihn allen.‹ Katja ist immer noch lieb,
Mimi gut und langweilig.
Jetzt von etwas Ernstem. Du schreibst mir, Deine Geschäfte gingen in
diesem Winter nicht gut; Du wärest genötigt, von dem Chabarower Geld
zu nehmen. Es kommt mir sonderbar vor, daß Du dazu meine Zustimmung
erbittest; was mir gehört, gehört doch auch Dir!
Du bist so gut, lieber Freund, daß Du aus Furcht, mich zu betrüben, die
wirkliche Lage Deiner Geschäfte verheimlichst; ich errate aber, daß Du
sicher sehr viel verloren hast und bin, das schwöre ich Dir, darüber
nicht bekümmert. Wenn sich also die Sache noch gutmachen läßt, denke
nicht weiter daran und quäle Dich nicht unnütz. Ich bin es gewohnt, für
die Kinder nicht auf Dein Einkommen zu rechnen, ja, entschuldige, nicht
einmal auf Dein Vermögen. Dein Gewinn freut mich ebensowenig, wie mich
Dein Verlust betrübt; mich bekümmert nur Dein unseliger Hang zum Spiel,
der mir einen Teil Deiner Anhänglichkeit raubt und mich nötigt, Dir so
bittere Wahrheiten zu sagen wie jetzt. Gott weiß, wie weh mir das tut!
Ich bitte ihn unaufhörlich um das eine, daß er uns behüte ... nicht
vor Armut (was ist Armut?), sondern vor dem schrecklichen Zustande,
wo die Interessen der Kinder, die ich vertreten muß, mit den unsrigen
kollidieren. Bis jetzt hat der Herr mein Gebet erhört -- Du hast den
Schritt nicht getan, nach welchem wir entweder das Vermögen opfern
müssen, das schon nicht mehr uns, sondern unseren Kindern gehört,
oder ... es ist schrecklich, daran zu denken, aber dieses schreckliche
Unglück bedroht uns stets. Ein schweres Kreuz, das Gott der Herr uns
beiden auferlegt hat.
Du schreibst mir noch von den Kindern und kommst auf unseren alten
Streit zurück; Du bittest mich, darein zu willigen, daß wir sie einer
staatlichen Erziehungsanstalt übergeben. Du kennst meine Abneigung
gegen eine öffentliche Erziehung; glaub mir, daß ist keine Kaprice,
sondern meine Überzeugung, daß diese Erziehung schädlich und für junge
Leute gefährlich ist. Ich bestreite nicht all die Vorteile, die für
die Beamtenlaufbahn durch Verbindungen und Konnexionen entspringen;
bestreite auch nicht, daß nur Kinder sogenannter besserer Familien
diese Schule besuchen und daß man zu Hause den Kindern nicht solche
Lehrer geben kann wie sie dort haben. Du wirst mir aber darin recht
geben, daß es außer der Beamtenlaufbahn, Konnexionen und glänzenden
Kenntnissen noch gute Grundsätze und feines, zartes Empfinden gibt,
auf die man am meisten zu achten hat. Ich weiß, daß in den staatlichen
Lehranstalten wohl auf die Sittlichkeit geachtet wird, aber es scheint
mir unmöglich, auf alle Kinder gleichmäßig zu wirken; man muß die
Richtung, die Neigungen, die vorangegangene Erziehung jedes Kindes
kennen, um ihm gute Gefühle einzuflößen, damit es an das Gute glaubt
und es liebt. Wie ist das bei gemeinsamer Erziehung möglich? Bei einem
Kinde wirkt die Rute, beim anderen Zureden und Ermahnungen. Nur Mutter
oder Vater, die schon deswegen, weil sie an den Kindern ihre eigenen
Neigungen wahrnehmen und sie daher von kleinauf mit den Augen der Liebe
beobachten, können ein Kind soweit begreifen, wie für die Erziehung
nötig ist. Allen die gleichen moralischen Grundgedanken beibringen ist
dasselbe, wie Ananas, Levkojen, Gurken und Jasmin in denselben Topf
pflanzen. Wie gut man die Gewächse auch pflegt -- die Hälfte oder die
Mehrzahl geht sicher ein. Deswegen lachen die Kinder in öffentlichen
Lehranstalten über alle Verhaltungsmaßregeln.
Da ein großer Teil der Kinder in staatlichen Erziehungsanstalten keine
Sympathie für die trockenen Tugendregeln, die ihnen beigebracht werden,
hat und haben kann, lachen sie innerlich und untereinander darüber und
meiden das Schlechte nur aus Furcht vor Strafe. Glaub mir aber, ein
Kind wird niemals über die Ermahnungen des Vaters lachen, oder über die
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