Kindheit 3
Bleiben Sie bedeckt, Karl Iwanowitsch. Ich frage, ob die Kinder gut
geschlafen haben?« sagte die Mutter, sich zu ihm beugend, ziemlich laut.
Aber er hatte wieder nichts gehört, bedeckte seine kahle Platte mit dem
Käppchen und lächelte nur.
»Hört einen Augenblick auf, Mimi,« sagte Mutter freundlich lächelnd zu
Maria Iwanowna: »man kann nichts verstehen.«
Mutter hatte ein Lächeln, durch das, so hübsch ihr Gesicht auch war,
es doch noch hübscher wurde und ringsum alles verklärte. Wenn ich in
schweren Augenblicken des Lebens auch nur flüchtig dieses Lächeln sehen
könnte, wüßte ich nicht, was Kummer ist. Mir scheint, daß im Lächeln
eigentlich die Schönheit des Gesichtes liegt; wenn das Lächeln dem
Gesicht mehr Reiz gibt, ist dieses schön; wenn es das Gesicht nicht
verändert: gewöhnlich; wenn es entstellt: häßlich.
Nachdem Mama Wolodja begrüßt, küßte sie nach althergebrachter
Gewohnheit in unserer Familie meine Hand; nahm dann meinen Kopf
zwischen beide Hände, beugte ihn zurück, sah mich unverwandt an und
fragte: »Du hast heute geweint?« Dann küßte sie mich auf die Augen und
fragte deutsch: »Worüber hast du geweint?«
Wenn sie freundschaftlich mit uns sprach oder scherzte, bediente sie
sich stets des Deutschen. Sie beherrschte diese Sprache vollkommen.
»Ich hab' im Traum geweint, Mama,« erwiderte ich, dachte dabei an
meinen erfundenen Traum mit allen Einzelheiten und zitterte in Gedanken
unwillkürlich. Karl Iwanowitsch bestätigte meine Worte, schwieg aber
von dem Traum.
Nachdem man noch vom Wetter gesprochen, an welcher Unterhaltung auch
Mimi sich beteiligte, legte Mama für einige bevorzugte Dienstboten
sechs Stücke Zucker auf das Teebrett, stand auf und ging zum
Stickrahmen am Fenster.
»Nun, Kinder, geht zum Vater und sagt ihm, daß er zu mir kommt, eh' er
zur Tenne geht. ~Vous pouvez reprendre votre leçon, chère Mimi.~«[1]
[1] Sie können weiterspielen, liebe Mimi.
Wieder Musik, Zählen, drohende Blicke, und wir gingen zu Papa.
Wir gingen durch das Zimmer, das noch von Großvater her »Dienerzimmer«
hieß und traten in das Arbeitszimmer des Vaters.
3. Papa.
Er stand am Schreibtisch und war, auf verschiedene Papiere, Kuverts
und Geldpäckchen deutend, in lebhafter Unterhaltung mit dem Verwalter
Jakob Michailow begriffen, der mit auf dem Rücken verschränkten
Händen auf seinem gewöhnlichen Platz zwischen Tür und Barometer stand
und die Finger sehr schnell nach verschiedenen Richtungen drehte. Je
lebhafter Papa sprach, um so schneller bewegten sich die Finger; wenn
er verstummte, ruhten auch die Finger; wenn aber Jakob selbst das Wort
nahm, kamen auch die Finger wieder in starke Bewegung. Und aus ihren
Bewegungen konnte man die geheimsten Gedanken Jakobs erraten, während
sein Gesicht stets den Ausdruck von Würde und Unterwürfigkeit zeigte:
»Ich habe recht, aber natürlich ganz wie es Ew. Gnaden beliebt.«
Bei unserem und Karl Iwanowitschs Anblick sagte Papa nur: »Einen
Augenblick; sofort,« und deutete durch eine Kopfbewegung an, daß jemand
von uns die Tür schließen sollte.
»Ach, lieber Gott! Was hast du heute nur, Jakob?« fuhr er, seiner
Gewohnheit nach achselzuckend, zum Verwalter gewandt fort. -- »Dieses
Kuvert mit achthundert Rubeln ...«
Jakob nahm das Rechenbrett, schob achthundert beiseite und starrte, in
Erwartung des Weiteren, unbestimmt vor sich hin.
»... sind für Wirtschaftsausgaben in meiner Abwesenheit, verstanden?
Für die Mühle bekommst du ja wohl tausend? Ja, oder nein? Für
Hypotheken achttausend; für Heu, -- nach deiner Rechnung kann man
siebentausend Pud rechnen -- sagen wir fünfundvierzig Kopeken das Pud,
macht zirka dreitausend; also hast du zusammen wieviel? Zwölftausend.
Ja oder nein?«
»Jawohl,« sagte Jakob, aber aus den schnellen Fingerbewegungen bemerkte
ich, daß er etwas erwidern wollte. Papa schnitt ihm das Wort ab: »Also
von diesem Gelde schickst du zehntausend zum Amt in Petrowskoie.
Jetzt das Geld im Kontor,« fuhr Papa fort -- Jakob warf die früheren
zwölftausend zusammen und notierte einundzwanzigtausend -- »das bringst
du mir und trägst es unterm heutigen Datum als Ausgabe ein« -- Jakob
schob die Kugeln beiseite und kehrte das Rechenbrett um, dadurch
wahrscheinlich andeutend, daß nun auch diese einundzwanzigtausend
verloren wären. -- »Diesen Geldbrief übergibst du an seine Adresse.«
Ich stand dicht am Tisch und las die Adresse. Da stand: An Karl
Iwanowitsch Mauer. Papa bemerkte wohl, daß ich etwas las, was ich nicht
zu wissen brauchte. Er sprach weiter, legte aber seine Hand auf meine
Schulter und wies mich durch eine leichte Bewegung vom Tisch fort. Ich
verstand nicht, ob das eine Liebkosung oder ein Tadel sein sollte,
küßte aber für alle Fälle seine große, weiße, nervige Hand mit dem
Trauring auf dem Goldfinger.
»Zu Befehl,« sagte Jakob. »Was soll aber mit dem Gelde von Chabarowka
geschehen?«
Chabarowka war Mamas Gut.
»Das soll im Kontor bleiben und ohne meine Verfügung nicht angerührt
werden,« sagte Papa.
Jakob schwieg einen Augenblick, dann drehten sich plötzlich wieder
die Finger mit verstärkter Geschwindigkeit, er änderte den Ausdruck
unterwürfigen Stumpfsinns, mit dem er die Befehle des Herrn anzuhören
für nötig hielt, nahm den ihm eigenen Ausdruck spitzbübischer
Findigkeit und Schlauheit an, zog das Rechenbrett heran und begann:
»Gestatten Sie, zu bemerken, Peter Alexandrowitsch -- ganz wie Sie
wünschen, aber auf dem Amt werden wir das Geld kaum rechtzeitig
bezahlen. Sie beliebten zu sagen: das Geld müßte von der Mühle, für
Lombard und Heu einkommen ...« Er rechnete den Betrag aus und schob die
Kugeln auf der Rechenmaschine beiseite. »Ich fürchte aber, daß wir uns
in den Voranschlägen irren,« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, Papa
dabei tiefsinnig anstarrend.
»Warum?«
»Ja, sehen Sie, was die Mühle betrifft, so hat mich der Müller schon
zweimal aufgesucht und um Stundung gebeten, hat bei Gott und allen
Heiligen geschworen, daß er kein Geld hätte. Er ist auch jetzt wieder
da. Wollen Sie nicht selbst mit ihm sprechen?«
Papa machte mit dem Kopf ein Zeichen, daß er das nicht wünsche.
»Was sagt er denn?« fragte Papa.
»Das weiß man schon,« erwiderte Jakob. »Hätte nichts zu mahlen gehabt
und alles Geld in das Wehr gesteckt. Wenn wir ihm kündigen, Herr,
fragt sich noch, ob wir dabei profitieren. Was Sie über die Hypothek
zu bemerken beliebten -- so habe ich vielleicht schon ausgeführt, daß
unser Geld dort festliegt und wir es so leicht nicht wiederbekommen.
Ich habe eigens in der Angelegenheit eine Fuhre Mehl und ein Schreiben
an Iwan Afanasjewitsch in die Stadt geschickt; der antwortet, er wolle
sich gern Ihretwegen bemühen, die Sache hinge aber nicht von ihm ab
und allem Anschein nach würden wir kaum in einem Monat Ihre Quittung
bekommen. Bezüglich des Heus beliebten Sie zu bemerken -- selbst
angenommen wir verkaufen für dreitausend« -- er warf dreitausend auf
dem Rechenbrett zur Seite, schwieg einen Augenblick und blickte bald
auf das Rechenbrett, bald in Papas Augen, als wollte er sagen: Sie
sehen selbst, wie wenig das ist. »Und mit dem Heu fallen wir auch
wieder herein, wenn wir es jetzt verkaufen, das wissen der Herr selbst.«
Offenbar hatte er noch einen großen Vorrat von Argumenten; deswegen
unterbrach Papa ihn: »Es bleibt bei meinen Anordnungen. Sollte wirklich
im Eingang des Geldes eine Verzögerung eintreten, dann ist nichts zu
machen; dann nimmst du von Chabarowka Geld soviel wie nötig ist.«
»Zu Befehl.«
Jakob war Papas Leibeigener. Er war zunächst sein Wärter gewesen, dann
Kammerdiener und jetzt Verwalter. Er hatte alle Feldzüge mit Papa
mitgemacht, und dieser hatte ihn wegen seiner Anhänglichkeit, seines
Eifers und seiner Treue gern. Wie alle guten Verwalter war er im
Interesse seines Herrn äußerst knauserig und hatte von dessen Vorteil
die sonderbarsten Vorstellungen. Er war stets bemüht, das Eigentum
Papas auf Kosten Mamas zu vermehren und suchte zu beweisen, daß alle
Einkünfte von Mamas Gütern auf Petrowskoie (das Dorf, in dem wir
lebten) verwandt werden müßten. Gegenwärtig war ihm das gelungen, und
als er »zu Befehl« sagte, konnte man an seinem Gesicht erkennen, daß er
sehr mit sich zufrieden war, wie jemand, der seine liebste Tätigkeit
ausübt.
Nachdem Papa uns begrüßt hatte, sagte er, wir wären jetzt keine kleinen
Kinder mehr, es sei Zeit, daß wir ernstlich etwas lernten. Deswegen
führe er heute nacht nach Moskau zur Großmutter und nähme uns ganz
dahin mit. Er fügte noch hinzu, Mama bliebe mit den Mädchen hier, und
das eine würde sie trösten, die Überzeugung, daß wir gut lernen und daß
man mit uns zufrieden sein würde.
Obgleich wir an den Vorbereitungen seit einigen Tagen bemerkt hatten,
daß etwas Ungewöhnliches im Gange war, überraschte uns diese Neuigkeit
vollständig. Wolodja sagte, um seine Verwirrung zu verbergen: »Mama
läßt dir bestellen, du möchtest zu ihr kommen, Papa,« und ging zum
Fenster. Mir aber tat Mütterchen sehr, sehr leid, und gleichzeitig
freute mich der Gedanke, daß wir nun groß seien.
Wenn wir heute reisen, gibt es keine Schule mehr, das ist famos, dachte
ich. Aber der arme Karl Iwanowitsch tat mir leid; der wurde sicher
entlassen, weil man das Kuvert für ihn zurechtgemacht ... Dann schon
lieber immer lernen, nicht fortreisen, sich nicht von Mama trennen und
dem armen Karl Iwanowitsch nicht weh tun, der schon so sehr unglücklich
ist.
Diese Gedanken zogen mir durch den Sinn. Ich rührte mich nicht von der
Stelle und starrte unverwandt auf die schwarzen Schleifen an meinen Schuhen.
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