Kindheit 7
Wie schrecklich war es manchmal, mit Bitten anzufangen! Dabei
schien gar nichts zu fürchten -- alle waren so gut! Hatte man aber
einmal angefangen, so wußte man nicht, woher auf einmal alle die
Dreistigkeit kam. Selbst wenn nicht erlaubt wurde, um was man bat,
stritt man bisweilen dagegen an und suchte zu beweisen, daß es eine
Ungerechtigkeit sei.
Diese Schwäche, das heißt, daß mir der erste Schritt so schwer wurde,
habe ich nicht nur in der Kindheit, sondern auch in reiferen Jahren an
mir bemerkt. Was sage ich: +diese+! Nein, alle Schwächen der Kindheit
sind dieselben geblieben. Der Unterschied ist nur der, daß sie andere
Formen angenommen haben.
7. Vorbereitungen zur Jagd.
Während des Nachtisches wurde Jakob gerufen und ihm wegen der Hunde,
des Jagdwagens und der Reitpferde Befehle erteilt, alles in größter
Ausführlichkeit unter Nennung jedes einzelnen Pferdes. Wolodjas Pferd
lahmte, deswegen ließ Papa ihm ein Jagdpferd satteln.
Dieses Wort »Jagdpferd« klang Mamas Ohren etwas befremdlich; sie
stellte sich darunter einen feurigen Renner vor, der sicher durchgehen
und Wolodja ums Leben bringen würde. Trotz Papas und Wolodjas
Versicherungen, der mit jugendlichem Eifer beteuerte, daß das nichts
zu bedeuten hätte und daß er es gern sähe, wenn das Pferd durchginge,
wiederholte die arme Mama immerfort, sie würde während der ganzen Jagd
keine Ruhe haben.
Das Essen war zu Ende; die Großen gingen ins Arbeitszimmer, um Kaffee
zu trinken, während wir in den Garten liefen und mit den Füßen auf den
mit gelben Blättern bedeckten Wegen schurrten. Diese Beschäftigung
machte mir damals großes Vergnügen.
Wir unterhielten uns darüber, daß Wolodja ein Jagdpferd reiten würde;
daß Ljubotschka sich schämen müsse, weil sie nicht so schnell laufen
könnte wie Katja, und wie interessant es sein müsse, Grischas Ketten zu
sehen und sein Beten zu hören; -- darüber, daß wir uns trennen mußten,
fiel kein Wort.
Wir sprachen lange über die verschiedensten Dinge; unsere Unterhaltung
wurde erst durch das Rollen des Jagdwagens unterbrochen, auf welchem
hinten an jeder Feder ein Bauernjunge hockte. Hinter dem Wagen ritten
die Jäger mit den Hunden, und dann folgte der Kutscher Parthenius auf
Wolodjas Pferd, das meinige am Zügel führend. Sofort stürzten wir
sämtlich zum Zaun, von wo aus all diese Dinge zu sehen waren.
Als der ganze Zug hinter der Hausecke verschwunden war, liefen wir
mit schrecklichem Gepolter und Geschrei nach oben, um uns anzuziehen,
und zwar möglichst »weidgerecht«. Das Wichtigste dabei war, die Hosen
in die Stiefel zu stecken. Unverzüglich ging es ans Werk, um schnell
fertig zu werden, auf die Treppe laufen, die Hunde sehen, Pferde
riechen und mit den Jägern plaudern zu können.
Der Geruchssinn muß sich mit den Jahren bei mir völlig geändert haben.
Wie wäre es sonst zu erklären, daß, soviel Pferde ich jetzt auch
rieche, dieser Geruch nicht im geringsten die Bedeutung und den Reiz
mehr für mich hat wie in der Kindheit.
8. Die Jagd.
Es war ein heißer Tag; weiße, wunderbar geformte Wölkchen zeigten sich
seit dem Morgen am Horizont; dann trieb ein leichter Wind sie näher
und näher, so daß sie bisweilen für kurze Zeit die Sonne bedeckten.
So zahlreich sie auch gegen Abend am Himmel entlang zogen, war es
ihnen doch nicht bestimmt, sich zum Gewitter zusammenzuziehen und zum
letztenmal unser Vergnügen zu stören. Sie begannen sich wieder zu
zerteilen; nur im Osten hing eine große graue Wolke; die anderen wurden
blasser, zogen sich in die Länge und eilten am Horizont hin; über dem
Kopf aber verwandelten sie sich in weiße durchsichtige Schäfchen. Regen
war nicht zu erwarten; selbst Karl Iwanowitsch, der stets wußte, wohin
jede Wolke zog, erklärte, das Wetter bliebe gut.
Foka kam trotz seines vorgerückten Alters schnell und gewandt die
Treppe heruntergelaufen, schrie: »vorfahren!« und faßte mitten in
der Einfahrt, zwischen der Stelle, wo der Kutscher Iwan mit dem
Jagdwagen erscheinen sollte und der Schwelle Posto in der Haltung eines
Mannes, den man nicht an seine Pflicht zu erinnern braucht. Die Damen
erschienen, und nach einigen Erörterungen darüber, auf welcher Seite
jede sitzen und an wem sie sich festhalten sollte (obwohl das, meiner
Meinung nach, überhaupt nicht nötig war), stiegen sie auf, spannten
die Schirme auf und fuhren fort. Als der Jagdwagen sich in Bewegung
setzte, deutete Mama ängstlich auf das »Jagdpferd« und fragte Iwan mit
zitternder Stimme: »Ist das Wolodjas Pferd?«
Und als jener bejahend antwortete, machte sie nur noch eine
Handbewegung und wandte sich ab. (Der Wagen mußte einen Umweg machen
und fuhr deswegen vorauf.)
Sehr ungeduldig bestieg ich meinen Klepper und führte mit Hilfe der
Reitpeitsche verschiedene Evolutionen auf dem Hofe aus, sorgfältig den
umherliegenden Hunden ausweichend, um dem ewigen Vorwurf der Jäger zu
entgehen: »Herr, seien Sie so gut, überreiten Sie die Hunde nicht!«
Diese Bemerkung ärgerte mich sehr -- als ob ich das nicht wüßte!
Wolodja schwang sich, trotz seines festen Charakters nicht ohne leises
Zittern auf das Jagdpferd. Auf dem Tier aber machte er sich sehr gut,
wie ein Erwachsener. Besonders lagen seine Schenkel so gut auf dem
Sattel, daß ich ihn beneidete, weil ich, nach dem Schatten zu urteilen,
bei weitem keine so gute Figur abgab.
Jetzt ertönten Papas Schritte auf der Treppe. Der Hundewärter trieb die
Jagdhunde zurück, die sich losrissen; die Jäger riefen ihre Windhunde
und saßen auf. Der Reitknecht führte das Pferd an die Treppe; die Hunde
von Papas Meute, die bis dahin in malerischen Stellungen sein Pferd
umlagert und umstanden hatten, stürzten auf ihn zu. Er trat auf die
Treppe; hinter ihm kam lustig Milka mit dem Korallenhalsband voll
Eisenstacheln. Sie begrüßte stets die anderen Hunde; einige knurrten
sie an, mit anderen spielte sie, einigen wurden sogar die Flöhe
abgesucht!
Papa bestieg sein Pferd, und wir ritten los. Der Pikör mit Beinamen
»Türke« ritt vorauf, hinter ihm liefen in buntem Schwarm die
zusammengekoppelten Jagdhunde. Es war ein kläglicher Anblick, wenn
ein unglücklicher Hund sich einfallen ließ, stehenzubleiben, um
irgendeinen interessanten Gegenstand zu beschnüffeln. Zuerst mußte er
seine Gefährten zu sich herüberziehen, und dann ließ sich sicher einer
der Hundewärter die Gelegenheit nicht entgehen, mit der Hetzpeitsche
zuzuschlagen und zu schreien: »In die Koppel!«
Als wir auf das freie Feld kamen, verteilten sich die Jäger mit den
Windhunden auf beide Seiten. Hier und da sah man so eine aus Mensch und
Tieren bestehende Gruppe. Hübscher machten sich die Jäger zu Pferde,
hinter denen die Hunde liefen -- besonders wenn man ihnen Futter
hinwarf. Dabei das Stoppelfeld oder Waldesgrün an dem sonnigen Tage --
welch reizender Hintergrund für dieses Bild!
Die Ernte war in vollem Gange. Das unübersehbare glänzend gelbe Feld
wurde nur auf einer Seite von einem bläulich schimmernden Hochwald
begrenzt, der mir als die entfernteste geheimnisvollste Gegend vorkam,
hinter welcher entweder die Welt ein Ende hatte oder unbewohnte Länder
lagen. Das ganze Feld war mit Garben und Menschen bedeckt. In dem
hohen dichten Roggen sah man hier und da auf dem gemähten Streifen
den krummen Rücken einer Schnitterin; schwingende Ähren, wenn sie
dieselben herüberwarf; ein Weib, das sich im Schatten über eine
Wiege beugte, und zerstreute Garben auf dem mit Kornblumen besäten
Stoppelfeld. Auf der anderen Seite luden Männer, in Hemd und Hose auf
Wagen stehend, die Garben auf und wirbelten Staub über das trockene,
heiße Feld. Der Aufseher in hohen Stiefeln und übergehängtem Rock, den
Kerbstock in der Hand, hatte Papa schon von weitem bemerkt, nahm seinen
Filzhut ab, wischte seinen roten Kopf und Bart mit einem Tuch ab und
schrie die Weiber an. Der kleine Fuchs, den Papa ritt, ging spielend
leicht, bisweilen den Kopf gegen die Brust werfend und die Zügel
straff ziehend, oder mit dem dichten Schweif die Fliegen und Bremsen
verscheuchend, die sich gierig an ihm festsetzten. Zwei Windhunde
tänzelten mit sichelförmig nach oben gebogener Rute, die Beine hoch
aufhebend, graziös über die hohen Stoppeln, hinter dem Pferde. Milka
lief vorauf und erwartete mit erhobenem Kopf einen Leckerbissen. Die
Stimmen der Menschen, der Lärm der Pferde und Wagen, das lustige
Schlagen der Wachteln, das Gesumme der Insekten, die in unbeweglichen
Schwärmen die Luft erfüllten, der Geruch von Wermut, Stroh und
Pferdeschweiß, die tausend verschiedenen Farben und Schattierungen, die
die sengende Sonne über das hellgelbe Stoppelfeld, die blaue Waldferne
und die hellvioletten Wolken ergoß; die weißen Sommerfäden, die in der
Luft schwebten, oder sich auf die Stoppeln legten -- alles das sah,
hörte und fühlte ich.
Beim Kalinowoer Wald angelangt, fanden wir den Jagdwagen schon vor, und
wider Erwarten noch einen Einspänner, in dem der Küchenchef saß und
einen Gegenstand in einer Serviette zwischen den Beinen hielt; aus dem
Heu guckten ein Samowar und noch allerhand verlockende Dinge hervor.
Kein Zweifel: das gab einen Teeabend im Freien mit Gefrorenem und
Früchten. Bei diesem Anblick brachen wir in lauten Jubel aus, denn Tee
im Freien, an einer Stelle, wo noch niemand getrunken, hielten wir für
einen Hochgenuß.
Der Türke stieg vom Pferde und nahm Papas ausführliche Anordnungen
entgegen: wie man sich verteilen und wo man herauskommen sollte
(übrigens richtete er sich niemals nach diesen Befehlen, sondern
handelte nach seinem Gutdünken), koppelte die Hunde los, legte
gemächlich die Koppeln zusammen, bestieg sein Pferd und verschwand,
leise pfeifend, hinter den jungen Birken. Die befreiten Jagdhunde
bezeigten vor allen Dingen ihre Freude durch Schweifwedeln, schüttelten
sich und verrichteten an unbekannt aus welchem Grunde ausgewählten
Büschen das Werk und mehr als das, was Soldaten tun, wenn es heißt:
»Austreten!« Dann machten sie sich mit lustigem Schweifwedeln
schnüffelnd an die Arbeit.
»Hast du ein Taschentuch?« fragte Papa.
Ich zog es aus der Tasche und zeigte es ihm.
»Schön; bind den grauen Hund daran.«
»Giran?« fragte ich. Ja, und lauf den Weg entlang. Wenn du an die Lichtung kommst, bleib stehen. Und sieh zu, daß du nicht ohne Hasen zurückkommst.«
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