2015년 8월 30일 일요일

Kindheit 6

Kindheit 6


Da lief schon der Haushofmeister Foka mit einer Serviette unterm Arm in
den Garten, um zu melden, daß angerichtet sei. Wie war er komisch in
seinem langen Rock und der weißen Weste, und wie glänzte seine kahle
Platte im Sonnenschein.
 
Gott sei Dank, da kam jemand, um auch uns zu rufen; man hörte Schritte
auf der Treppe. Ich kannte alle Hausbewohner am Gang und an dem Knarren
der Stiefel; aber die Schritte, die sich jetzt näherten, waren mir
unbekannt, weshalb ich neugierig auf die Tür blickte.
 
Die Tür öffnete sich und es erschien eine mir ganz fremde Gestalt.
 
 
6. Der Narr.
 
Ins Zimmer trat ein Mann, dem Äußeren nach etwa fünfzig Jahre alt,
mit blassem, länglichem, von Pockennarben durchfurchtem Gesicht, halb
grauem Haar und einem kleinen, dünnen Bärtchen. Er war so groß, daß
er nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Oberkörper bücken mußte, um
die Tür zu passieren. Auf einem Auge blind, trug er halb bäurische,
halb priesterliche Kleidung und hielt in der Hand einen riesigen Stab,
mit dem er beim Eintritt ins Zimmer aus Leibeskräften auf den Fußboden
stieß.
 
»Ach Vögelchen, Vögelchen! Das Weibchen härmt sich und weint, das
liebe; aber die Jungen sind flügge, wollen aus dem Nest. Wird das
Weibchen seine Jungen nicht wiedersehen. O weh! O weh!« schluchzte er
und wischte sich richtige Tränen mit dem Rockärmel ab.
 
Seine Stimme klang rauh und heiser; die Bewegungen waren ungleichmäßig
und seltsam; seine Rede unzusammenhängend und sinnlos; der Tonfall aber
so rührend und das gelbe Gesicht so aufrichtig traurig, daß man sich
bei seinem Anblick und dem Anhören eines sonderbaren, aus Mitleid,
Furcht und Traurigkeit zusammengesetzten Gefühls nicht erwehren konnte.
Er gebrauchte keine Fürwörter; dadurch bekamen seine einfachsten
Bemerkungen einen rätselhaften, geheimnisvollen Sinn.
 
Das war der Narr Grischa. Er kam zur Großmutter und hatte Mama schon
als kleines Kind bei ihr gesehen; er hatte sie sehr liebgewonnen und
kam nun, nachdem er sie hier entdeckt, um sich über ihre »Jungen« zu
freuen, so nannte er uns Kinder.
 
»Ah, ah!« schrie er plötzlich Karl Iwanowitsch an, der in diesem
Augenblick seine blauen, gestrickten Hosenträger anlegte, die ihm in
jungen Jahren eine Generalin verehrt hatte. »Du Narr, du Schaf ...
ziehst Hosenträger an, du Schaf!« Er riß den Mund weit auf und lachte
laut.
 
Karl Iwanowitsch war in einer peinlichen Lage. Er wollte den Verrückten
nicht anfahren; und doch war es ihm schmerzlich, in unserer Gegenwart
seine Autorität untergraben zu sehen.
 
»Das fehlte noch,« sagte er, »geht hinunter, für euch ist hier kein
Platz.«
 
Karl Iwanowitsch sagte das mit solchen Fehlern, und die ganze Szene
war so komisch, daß wir fast losgeplatzt wären. (Wenn ich seine Worte
anführe, verdrehe ich das Russische nicht, weil solche Verdrehungen
mich mehr an gewöhnliche Erzählungen erinnern, die ich nicht ausführen
kann, als an Karl Iwanowitsch.)
 
Endlich erschien der sehnlichst erwartete, pünktliche Foka, sagte:
»Das Essen ist fertig«, und wir gingen nach unten. Grischa folgte uns,
mit seinem Stock auf die Treppenstufen aufstoßend und allen möglichen
Unsinn schwatzend.
 
Als wir eintraten, waren schon alle im Gastzimmer versammelt. Papa
und Mama gingen Arm in Arm auf und ab und unterhielten sich leise
über etwas. Maria Iwanowna saß auf einem genau rechtwinklig zum Sofa
stehenden Sessel; neben ihr saß auf der einen Seite Ljubotschka,
die bei unserem Anblick sofort aufsprang und uns entgegenlief, auf
der anderen Katja, die gern dasselbe getan hätte, wenn es mit Mimis
Anstandsregeln vereinbar gewesen wäre. So aber mußten wir erst zu ihr
gehen und sagen »~Bon jour~, Mimi« und dann ... -- nein, ich weiß
wirklich nicht, ob ich Katja küßte oder nicht. Ich weiß nur, daß Mimi
mir bei allem hinderlich und im Wege war. In ihrer Gegenwart sprach ich
niemals herzlich mit der reizenden, blonden, sauberen Katja.
 
Ach, wie hat diese unerträgliche Mimi mein kindliches Leben vergällt!
Man brauchte nur etwas zu sagen, so begann sie auch schon mit ihrem
Korrigieren und sah bald Papa, bald Mama an, um zu zeigen, daß sie auf
dem Posten sei ...
 
»~Parlez donc français~«, wenn man ihr zum Tort gerade gern russisch
geplaudert hätte. Oder wenn einem bei Tisch etwas besonders schmeckte
und man nicht gestört sein wollte, hieß es sicherlich: »~Mangez donc
avec du pain~« oder »~comment est ce que vous tenez votre fourchette?~«
Ach, wie war sie unerträglich! Und was ging ich sie an! Mochte sie
doch ihre Mädchen unterrichten, wir hatten ja Karl Iwanowitsch dazu!
Bisweilen teilte ich durchaus seinen Haß gegen »gewisse« Leute.
 
Ins Eßzimmer gingen die Großen vorauf, wir Kinder hinterher, was uns
Gelegenheit bot, ein paar angenehme Worte zu wechseln -- angenehm nur,
weil man sie in Gegenwart der anderen nicht sagen konnte.
 
»Geht Papa auf die Jagd?«
 
»Ja.«
 
»Nimmt er euch mit?«
 
»Ja, zu Pferde. Und ihr?«
 
»Ich weiß nicht,« erwiderte Katja mit weinerlichem Gesicht.
 
»Das geht nicht ... Aber wollen sehen.«
 
Man setzte sich zu Tisch. Die Suppe wurde gebracht. Grischa deklamierte
von seinem Nebentisch aus, die Worte durch Schluchzen und jämmerliche
Grimassen unterbrechend: »Vögelchen, Vögelchen, auf dem Grabe steht ein
Stein; im Herzen ein Nagel; Taube flieg in den Himmel« usw.
 
Mama war seit heute morgen verstimmt. Grischas Gegenwart und
Bemerkungen verstärkten diesen Zustand; obgleich sie es nicht zugab,
waren Pilger und Narren ihre Schwäche. Im Grunde ihres Herzens
verehrte sie Grischa und glaubte wahrscheinlich an seine Fähigkeit,
die Zukunft vorauszusagen.
 
»Ach ja, ich habe vergessen, dich um etwas zu bitten,« sagte sie, dem
Vater einen Teller mit Suppe hinreichend.
 
»Was denn, mein Liebling?« fragte Papa lebhaft.
 
»Laß, bitte, deine schrecklichen Hunde einsperren. Sie hätten den armen
Grischa beinahe zerrissen, als er den Hof betrat. Ebensogut können sie
sich auf die Kinder stürzen.«
 
Als Grischa hörte, daß von ihm die Rede war, wandte er sich zu unserem
Tisch herum und zeigte kauend seine zerrissenen Rockschöße.
 
»Hat gehetzt ... Hunde gehetzt. Sünde, große Sünde. Schlag ihn nicht
Großer (so nannte er Papa). ... Weshalb schlagen? Gott vergibt. Zeit
ist nicht danach.«
 
Papa blickte ihn unverwandt und strenge an, wandte sich dann an Mama
und fragte: »Was spricht er? Übersetz es mir bitte, sonst verstehe ich
nichts. ~Vous seule avez le don de le comprendre.~«
 
»Ich verstehe ihn,« meinte Mama lächelnd, »er erzählt, ein Jäger hätte
absichtlich die Hunde auf ihn losgelassen; nun glaubt er, du würdest
den Jäger dafür bestrafen und bittet, ihm zu verzeihen.«
 
»Ach so!« meinte Papa. »Woher weiß er denn, daß ich den Jäger bestrafen
will? Vielleicht habe ich gar nicht die Absicht,« fuhr er französisch
fort. »Du weißt, ich bin überhaupt kein Freund solcher Leute, aber
dieser hier mißfällt mir besonders, muß ein abgefeimter Spitzbube
sein.«
 
»Ach, sag das nicht!« unterbrach ihn Mama fast erschrocken. »Wie kannst
du das wissen?«
 
»Nun, ich hatte, glaube ich, genügend Gelegenheit, diese Art Leute
kennen zu lernen. Es kommen ja genug zu dir, alle vom selben Schlage
und stets ein und dieselbe Geschichte: unbedingt vornehme Herkunft,
tragen irgendein Kreuz und Leiden, nach denen niemand sie fragt.
All diese Frömmelei und Scheinheiligkeit zielt nur darauf ab,
leichtgläubige und schwachnervige Damen zu finden, die ihnen die
dreckigen Hände küssen, sie für Propheten halten und ihnen Geld geben.
All diese unverstandenen Heiligen pilgern nicht aus Liebe zu Gott, wie
sie sagen, sondern aus Faulheit und gewohntem Müßiggang.«
 
Man sah, daß Mama in dieser Hinsicht ihre bestimmte Überzeugung hatte
und nicht streiten wollte, deshalb fragte sie, um das Gespräch auf ein
anderes Thema zu lenken, ob die Pasteten gut seien und bat, ihr eine zu
reichen.
 
Papa dagegen wollte streiten; er nahm eine Pastete, hielt sie so weit,
daß Mama sie nicht erreichen konnte, und fuhr erregt fort: »Nein, mich
ärgert --« dabei schlug er mit der Gabel auf den Tisch, »wenn ich sehe,
wie vernünftige und gebildete Leute ~donnent dans le panneau~ und an
sie glauben wie an Heilige.«
 
»Gib mir doch die Pastete,« sagte Mama, etwas ungeduldig die Hand
ausstreckend.
 
»Und man tut ganz recht,« Papa zog seine Hand noch weiter zurück,
»diese Gesellschaft einzusperren. Der einzige Nutzen, den sie bringen,
besteht darin, daß sie die ohnehin schwachen Nerven gewisser Personen
ruinieren,« fügte er lächelnd hinzu, da er bemerkte, daß dieses Thema
Mama mißfiel. Gleichzeitig reichte er ihr die Pastete.
 
»Ich will dir darauf nur eins erwidern,« sagte Mama. »Es fällt schwer
zu glauben, daß ein Mensch, der trotz seiner sechzig Jahre beständig,
Winter und Sommer, barfuß geht; der unter dem Anzug zwei Pud schwere
Ketten trägt, die er nie ablegt, und der mehr als einmal das Anerbieten
Mamas, bei ihr zu bleiben, abgelehnt hat (das weiß ich bestimmt) --
daß ein solcher Mensch das alles aus Faulheit tun sollte. Was die
Prophezeiungen anlangt,« fuhr sie nach kurzem Schweigen mit einem
Seufzer fort -- »~je suis payée pour y croire~: ich habe dir erzählt,
wie Kiriuscha meinem Vater Tag und Stunde seines Endes vorausgesagt
hat.«
 
»Ach, mein Gott, was richtest du da an!« sagte Papa, nach Mimis Seite
die Hand an den Mund legend. (Wenn er diese Bewegung machte, horchte
ich stets mit größter Aufmerksamkeit in Erwartung von etwas Komischem.)
»Warum hast du mich an seine Beine erinnert? Jetzt kann ich nicht
weiteressen.«

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