2015년 8월 31일 월요일

Kindheit 23

Kindheit 23


Ich war in diesem Augenblick tief betrübt, bemerkte aber unwillkürlich
alle Einzelheiten; ich sah das an Papas Adresse gerichtete
verführerische Lächeln des Mädchens und den flüchtigen Blick, den Papa
dicht vor dem Bett auf ihre schönen, halb entblößten Arme warf.
 
Im Zimmer war es heiß, fast dunkel, und es roch gleichzeitig nach
Pfefferminz, Eau de Cologne, Kamillen und Hoffmannstropfen. Dieser
Geruch wirkte so auf mich, daß meine Phantasie, wenn ich ihn auch
nicht mehr spüre, sondern nur daran denke, mich unverzüglich in
dieses dunkle, schwüle Zimmer versetzt und mir die geringfügigsten
Einzelheiten dieser schrecklichen Minute in die Erinnerung zurückruft.
 
Mamas Augen waren offen, aber sie sah nichts. Nie werde ich diesen
schrecklichen Blick vergessen. Er drückte entsetzliche Leiden aus. Man
brachte uns fort.
 
Als ich später Natalie Sawischna nach Mamas letzten Augenblicken
fragte, erzählte sie mir: »Nachdem man euch weggebracht hatte, wälzte
sie sich noch lange hin und her, als wenn sie gerade hier an dieser
Stelle etwas drückte; dann sank ihr Kopf auf das Kissen, und sie
schlief so sanft und ruhig ein, wie ein himmlischer Engel.
 
Nur einen Augenblick bin ich hinausgegangen, um zu sehen, warum das
Getränk nicht kommt -- da hat sie, als ich zurückkomme, schon alles
auf dem Bett durcheinander geworfen und winkt den Papa zu sich heran;
der beugt sich über sie, sie hatte aber offenbar nicht mehr die Kraft
zu sagen, was sie wollte; sie öffnet nur die Lippen und beginnt wieder
zu stöhnen: Ach Gott, mein Gott! Die Kinder! Die Kinder!Ich wollte
nach euch laufen, aber Iwan Wassilitsch hielt mich zurück und sagte, es
beunruhige sie nur noch mehr; lieber nicht. Dann hob sie nur noch die
Hand und ließ sie sinken; was sie damit sagen wollte, weiß Gott allein.
Ich denke mir, daß sie euch dadurch abwesend segnete, da Gott ihr nicht
beschieden hatte, vor ihrem Ende die Kinder noch einmal zu sehen.
 
Dann erhob sie sich, mein Täubchen, machte so mit der Hand und sprach
mit einer Stimme, daß ich nicht mehr daran denken kann, plötzlich:
Mutter Gottes, verlaß sie nicht! ...
 
Dann trat ihr das Weh ans Herz -- man sah den Augen an, daß die Ärmste
sich schrecklich quälte; sie fiel auf die Kissen, biß in das Bettuch
und ihre Tränen flossen ununterbrochen.«
 
»Und dann?« fragte ich.
 
Natalie Sawischna konnte nicht weiter sprechen; sie wandte sich ab und
weinte bitterlich.
 
Mama starb unter schrecklichen Qualen.
 
Warum litt sie? Warum ...
 
 
29. Trauer.
 
Am nächsten Tage, spät abends, wollte ich sie noch einmal sehen. Das
unwillkürliche Angstgefühl überwindend, öffnete ich leise die Tür und
trat auf Zehenspitzen in den Saal.
 
Mitten im Zimmer stand der Sarg auf einem Tisch; ringsum
heruntergebrannte Lichter in hohen silbernen Leuchtern; in einer
entfernten Ecke saß der Küster und las halb im Schlaf mit leiser,
gleichmäßiger Stimme den Psalter.
 
Ich blieb an der Tür stehen und schaute hin; aber meine Augen waren so
verweint und meine Nerven so zerrüttet, daß ich nichts unterscheiden
konnte. Licht, Brokat, Samt, die hohen Leuchter, das spitzenbesetzte
rosa Kissen, das Stirnband, die Haube mit Bändern und noch etwas
Durchsichtiges, Wachsfarbenes -- alles floß ineinander. Ich stieg auf
einen Stuhl, um ihr Gesicht zu sehen; aber an der Stelle, wo es sein
mußte, war wieder das blaßgelbliche, durchsichtige Etwas. Ich konnte
nicht glauben, daß das ihr Gesicht sei; ich blickte unverwandt hin
und unterschied allmählich die bekannten, lieben Züge. Als ich mich
überzeugte, daß sie es war, fuhr ich vor Schreck zusammen. Warum waren
die geschlossenen Augen so eingefallen? Woher diese schreckliche Blässe
und der schwärzliche Fleck unter der durchsichtigen Haut auf einer
Wange? Warum war der ganze Gesichtsausdruck so streng und kalt? warum
die Lippen so blaß und ihre Linie so schön, majestätisch, überirdisch
ruhig, daß mich kalter Schreck bei ihrem Anblick überlief?
 
Ich schaute hin und fühlte, daß eine rätselhafte, unbezwingliche
Macht meine Blicke an dieses schöne, leblose Antlitz fesselte. Ich
wandte kein Auge von ihr, und meine Phantasie malte mir Bilder voll
Leben und Glück. Ich vergaß, daß der Leichnam, der vor mir lag und
den ich stumpfsinnig wie irgendeinen Gegenstand anstarrte, der nichts
mit meinen Erinnerungen zu tun hatte, -- sie war. Ich stellte mir
die Mutter bald in diesem, bald in jenem Zustande vor -- lebend,
heiter, lächelnd; dann überraschte mich plötzlich ein Zug in dem
blassen Gesicht, auf welches meine Blicke gerichtet waren -- mir
fiel die schreckliche Wirklichkeit ein, ich zuckte zusammen, wandte
aber die Augen nicht ab. Und wieder traten Träume an Stelle der
Wirklichkeit, und das Bewußtsein der Wirklichkeit zerstörte die Träume.
Endlich war die Phantasie ermüdet; sie betrog mich nicht mehr; das
Wirklichkeitsbewußtsein verschwand ebenfalls; ich war nicht mehr bei
mir selbst.
 
Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand dauerte, weiß nicht, worin er
bestand; ich weiß nur, daß ich eine Zeitlang das Bewußtsein meiner
Existenz verlor und einen unerklärlich hohen und zugleich traurigen
Genuß empfand.
 
Vielleicht blickte ihre reine Seele auf dem Fluge zur besseren Welt mit
Kummer auf diese hernieder, in der sie uns zurückließ; sie sah meinen
Schmerz, empfand Erbarmen mit ihm und ließ sich auf den allmächtigen
Schwingen der Liebe mit himmlischem Lächeln des Mitleids auf die Erde
nieder, um mich zu trösten und zu segnen.
 
Die Tür knarrte; ein Küster trat ein, um den anderen abzulösen. Dieses
Geräusch ernüchterte mich, und der erste Gedanke, der mir kam, war,
daß der Küster, da ich nicht weinte und in einer Stellung, die nichts
Rührendes an sich hatte, auf einen Stuhl gestiegen war, mich für einen
gefühllosen Jungen halten müsse, der aus Mutwillen oder Neugierde
hinaufgeklettert war. Infolgedessen bekreuzigte ich mich, verneigte
mich zur Erde und begann aus Gewohnheit zu weinen.
 
Wenn ich jetzt an meine Eindrücke denke, finde ich, daß nur diese
Minute des Selbstvergessens wirkliche Trauer war. Vor und nach dem
Begräbnis hörte ich nicht auf zu weinen und traurig zu sein; aber
ich schäme mich, an diese Traurigkeit zu denken, weil stets ein
eigennütziges Gefühl dabei war; bald der Wunsch zu zeigen, daß ich
trauriger sei als alle anderen, bald die Sorge um die Wirkung, die ich
auf andere ausübte; dann zwecklose Neugierde, die mich veranlaßte,
Betrachtungen über die Stiefel des Küsters, Mimis Haube und die
Gesichter der Anwesenden anzustellen. Ich verachtete mich, weil ich
nicht ausschließlich das eine Gefühl der Trauer empfand und suchte alle
anderen Gefühle zu verbergen; deswegen war meine Trauer unaufrichtig
und unnatürlich. Außerdem empfand ich eine Art Genuß im Bewußtsein
meines Unglücks, suchte dieses Bewußtsein in mir wachzurufen, und
dieses egoistische Gefühl erstickte am meisten dasjenige wahrer Trauer.
 
Nachdem ich diese Nacht, wie stets nach starkem Kummer, fest und ruhig
geschlafen, wachte ich mit getrockneten Tränen und beruhigten Nerven
auf. Um zehn Uhr wurden wir zur Totenmesse vor der Beerdigung geholt.
Das Zimmer war voll von Hofgesinde und Bauern, die unter Tränen von
ihrer Herrin Abschied nehmen wollten. Ich ärgerte mich über ihre Tränen
und traurigen Gesichter, ärgerte mich beim Gedanken, daß mein Weh
geradeso ausgedrückt wurde.
 
Während der Messe weinte ich, wie es sich gehört, bekreuzigte und
verneigte mich bis zur Erde; ich betete aber nicht und war im Herzen
ziemlich gleichgültig. Es verdroß mich, daß der neue Frack, den man
mir angezogen hatte, unter der Achsel kniff; ich achtete darauf, beim
Knien die Hose nicht zu beschmutzen und beobachtete insgeheim alle
Anwesenden. Papa stand am Kopfende des Sarges; er war blaß wie ein
Leinentuch und hielt nur mit merklicher Anstrengung die Tränen zurück.
Seine hohe Gestalt im schwarzen Frack, sein blasses, ausdrucksvolles
Gesicht und seine stets sicheren und ausdrucksvollen Bewegungen, wenn
er sich bekreuzigte, verbeugte, mit der Hand den Boden berührte, ein
Licht aus der Hand des Küsters entgegennahm oder an den Sarg trat
-- waren sehr effektvoll; aber ich weiß nicht wie es kam, mir gefiel
gerade das nicht, daß er in diesem Augenblick so schön und erhaben
sein konnte. Mimi stand gegen die Wand gelehnt und schien sich kaum
auf den Beinen zu halten; ihr Kleid war zerknüllt und voller Daunen,
die Haube auf die Seite gerutscht, die Augen rot und geschwollen, der
Kopf wackelte; sie schluchzte fortwährend herzzerreißend und bedeckte
ihr Gesicht häufig mit Schnupftuch und Händen. Mir kam es vor, als wenn
sie das tat, um ihr Gesicht vor den Zuschauern zu verbergen und einen
Augenblick von dem verstellten Schluchzen auszuruhen. Ich erinnerte
mich, daß sie tags zuvor Papa gesagt hatte, Mamas Tod sei für sie ein
so schwerer Schlag, daß sie ihn wahrscheinlich nicht ertragen würde;
er hätte ihr alles geraubt; der Engel (so nannte sie Mama) hätte sie
vor dem Tode nicht vergessen und den Wunsch geäußert, ihre und Katjas
Zukunft für immer zu sichern. Sie vergoß bittere Tränen bei dieser
Erzählung, und vielleicht war ihr Kummer aufrichtig; aber er war nicht
rein und selbstlos.
 
Ljubotschka im schwarzen Kleid mit Trauerbesatz senkte ihr verweintes
Köpfchen und blickte bisweilen auf den Sarg; dabei drückte ihr Gesicht
kindliche Furcht aus. Katja stand neben ihrer Mutter und war trotz des
verzogenen Gesichtes rosig wie immer.
 
Wolodja war bei seiner offenen Natur auch in der Trauer aufrichtig;
bald stand er nachdenklich, regungslos auf einen Gegenstand starrend;
dann wieder verzog sich plötzlich sein Mund, und er bekreuzigte und
verneigte sich schnell. Alle Fremden, die bei der Beerdigung zugegen
waren, kamen mir unerträglich häßlich vor. Die Trostworte, die sie Papa
sagten, -- ihr würde dort besser sein, sie wäre nicht für diese Welt
bestimmt -- erregten eine Art Wut in mir. Welches Recht hatten sie, von
ihr zu sprechen und zu jammern? Einige nannten uns Waisen. Als ob man
ohne sie nicht wüßte, daß Kinder, die keine Mutter haben, so benannt
werden. Es machte ihnen wahrscheinlich Vergnügen, uns zuerst so zu
nennen, wie man es eilig hat, ein Mädchen nach der Hochzeit mit »Frau«
anzureden.
 
In einer entfernten Saalecke, fast hinter der offenen Büfettür, lag ein
gebücktes, altes Weib auf den Knien. Mit gefalteten Händen, die Augen
gen Himmel gerichtet, betete sie ohne Tränen. Ihre Seele strebte zu
Gott; sie bat ihn, sie mit der zu vereinigen, die sie am meisten auf

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