2015년 8월 30일 일요일

Kindheit 9

Kindheit 9


Zu Hause angelangt, ließ Mama Lichter bringen, nahm ein Notenheft und
setzte sich ans Klavier. Wolodja, Ljuboschka und Katja liefen in den
Saal, um zu spielen; ich kletterte mit den Füßen auf den Großvaterstuhl
im Gastzimmer und legte mich hin, um zuzuhören. Katja kam, um mich auch
in den Saal zu holen; aber ich war ihr böse und bat sie, mich in Ruhe
zu lassen.
 
 
11. Die Musik.
 
Mama spielte leicht und flüchtig mit beiden Händen eine Tonleiter,
rückte dann den Klavierbock näher und spielte das graziöse scherzhafte
zweite Konzert von Field -- ihrem Lehrer.
 
Sie spielte herrlich, hämmerte nicht auf den Tasten herum, wie die
Schüler und Schülerinnen der neuen Schule, trat nicht Pedal bei
Harmoniewechsel, griff nicht Arpeggio und verlangsamte nicht unnötig
das Tempo, um, wie viele tun, ihrem Spiel mehr Ausdruck zu geben;
fügte auch nicht eigene Modulationen hinzu.
 
Mir gegenüber führte die Tür ins Arbeitszimmer von Papa. Ich sah, wie
Jakob und einige bärtige Leute mit langen Röcken dort eintraten; hinter
ihnen wurde die Tür sofort wieder geschlossen.
 
Jetzt beginnt da die Arbeit -- dachte ich. Es kam mir vor, als wenn
es etwas Wichtigeres, als im Arbeitszimmer geschah, in der ganzen
Welt nicht geben könnte. Hierin bestärkte mich noch der Umstand, daß
alle Leute ins Arbeitszimmer stets auf den Zehenspitzen und flüsternd
eintraten, während von drinnen her laute Stimmen und Zigarrengeruch
kamen, welcher Duft mir stets, ich weiß nicht warum, Ehrfurcht
einflößte. Ich wollte bei den einfach herzlichen Klängen des Fieldschen
Konzerts gerade in süße Träumerei versinken, als ich im Dienerzimmer
plötzlich sehr bekanntes Stiefelknarren hörte und die Augen öffnete.
Karl Iwanowitsch schritt, zwar mit einer Miene, die Entschlossenheit
ausdrückte, aber ebenfalls auf Zehenspitzen, mit Papieren in der Hand
zur Tür und klopfte leise an. Er wurde eingelassen, dann schlug die Tür
wieder zu.
 
Wenn da nur nicht ein Unglück passiert, dachte ich. Karl Iwanowitsch
ist böse und in solchen Augenblicken zu allem fähig.
 
In diesem Augenblick spielte Mama das Konzert von Field zu Ende, erhob
sich von dem runden Klavierbock, nahm ein anderes Notenheft, stellte es
auf das Pult, schob die Lichter näher und setzte sich, nachdem sie ihr
Kleid geordnet, wieder an den Flügel. Die Aufmerksamkeit, mit der sie
das alles tat, und der nachdenklich strenge Gesichtsausdruck deuteten
an, daß sie ein sehr ernstes Stück spielen wollte. Was mochte das sein?
dachte ich, schloß wieder die Augen und lehnte den Kopf gegen die
Sesselecke. Der Geruch des Staubes, den ich beim Umdrehen aufwirbelte,
kitzelte mir die Nase; die längst bekannten Klänge des Stückes, das
Mama spielte, übten einen süßen und gleichzeitig beunruhigenden
Eindruck auf mich aus ... Sie spielte die Sonate ~pathétique~ von
Beethoven. Obgleich ich diese ganze Sonate so gut kannte, daß mir
nichts in ihr neu war, konnte ich vor Unruhe nicht einschlafen. Wenn
nun plötzlich nicht das käme, was ich erwartete? Das verhaltene,
majestätisch erhabene, aber unruhige Einleitungsmotiv, das gleichsam
Scheu trägt, sich zu äußern, ließ mich den Atem anhalten. Je schöner
und komplizierter die Phrasierung, um so stärker wurde das Angstgefühl,
es könnte etwas diese Schönheit stören, und um so stärker das Gefühl
der Freude, wenn die Phrase harmonisch endete.
 
Ich beruhigte mich erst, als das Einleitungsmotiv alles aussprach
und geräuschvoll in das Allegro überging. Der Anfang des Allegro
ist zu gewöhnlich; deswegen liebe ich es nicht. Man hat unterdessen
Gelegenheit, von den starken Empfindungen des ersten Teiles auszuruhen.
Was kann es aber Schöneres geben, als die Stelle, wo das Fragen und
Antworten beginnt! Zunächst ist die Unterhaltung leise und zärtlich;
dann spricht plötzlich jemand im Baß zwei so strenge, dabei von
Leidenschaft erfüllte Phrasen, auf die man, scheint's, nichts
antworten kann ... Doch nein -- es gibt eine Antwort, und noch eine
und wieder eine, immer schöner, immer stärker, bis endlich alles in
ein undeutliches Murren zusammenfließt. Diese Stelle hat mich stets
in Erstaunen versetzt, und das Erstaunen war stets so stark, als wenn
ich sie zum erstenmal hörte. Dann ertönt im Lärm des Allegro plötzlich
ein Nachklang des Einleitungsmotivs; dann nochmals das Zwiegespräch,
abermals der Widerhall, und plötzlich, im Moment, wo die Seele durch
diese unaufhörliche Unruhe so erregt ist, daß sie um Schonung bittet,
hört alles auf, unerwartet und schön ...
 
Während des Andante träumte ich; im Herzen war mir ruhig und freudig;
ich wollte lächeln und träumte etwas Leichtes, Vergangenes, Helles.
Aber das Rondo in D-Moll weckte mich auf. Wovon handelte es? Wohin
strebte, was wollte es? Man wünschte, daß alles schnell, schnell zu
Ende ging. Als das Weinen und Bitten aber aufhörte, hätte ich gar zu
gern den leidenschaftlichen Ausdruck des Wehs noch einmal gehört.
 
Die Musik wirkt weder auf den Verstand noch auf die Einbildungskraft.
Wenn ich Musik höre, denke ich an nichts und stelle mir nichts vor,
aber ein sonderbar wonniges Gefühl erfüllt in dem Maße meine Seele, daß
ich das Bewußtsein meiner Existenz verliere; und dieses Gefühl ist --
Erinnerung. Es scheint, als erinnert man sich an das, was nie da war.
 
Ist nicht die Grundlage des Gefühls, das jede Kunst in uns erweckt,
Erinnerung? Rührt nicht der Genuß, den Malerei und Skulptur
uns verschaffen, von der Erinnerung an bestimmte Gefühle und
Gefühlsübergänge her? Ist das Gefühl der Poesie nicht die Erinnerung an
Bilder, Gefühle und Gedanken?
 
Die Musik war schon bei den alten Griechen imitativ; Plato erklärte
in seiner »Republik« als unbedingte Voraussetzung der Musik, daß sie
edle Gefühle ausdrückte. Jede musikalische Phrase drückt ein Gefühl
aus: Stolz, Freude, Kummer, Verzweiflung usw. oder eine der unendlichen
Kombinationen dieser Gefühle. Musikwerke, die kein Gefühl ausdrücken,
sind in der Absicht komponiert, entweder etwas zur Schau zu stellen, zu
erklären, oder Geld zu verdienen -- mit einem Wort, in der Musik gibt
es, wie überall, Mißgeburten, nach denen man nicht urteilen kann. (Zu
diesen Mißgeburten gehören Versuche in der Musik, Bilder zum Ausdruck
zu bringen.) Gibt man zu, daß Musik die Erinnerung an Gefühle ist, so
wird verständlich, warum sie so verschieden auf die Menschen wirkt.
Je reiner und glücklicher die Vergangenheit eines Menschen war, um
so mehr liebt er seine Erinnerungen und um so stärker fühlt er die
Musik; umgekehrt, je schwerer die Erinnerungen für jemanden sind, um so
weniger Sympathie hat er für sie. Daher kommt es, daß einige Menschen
Musik nicht ertragen können. Es wird auch verständlich, warum das eine
Musikstück diesem, das andere jenem gefällt. Für den, der dasjenige
Gefühl erlebt hat, das die Musik ausdrückt, ist es eine Erinnerung, und
er findet Genuß darin; für einen anderen aber hat es keine Bedeutung.
 
 
12. Ljubotschka.
 
Mama hörte auf zu spielen. Ich erwachte, schob den Kopf hinter der
Sessellehne hervor und sah, daß Mama auf derselben Stelle saß, aber
nicht mehr spielte, sondern horchte. Aus dem Saal drang lautes Weinen.
 
»Ach Gott!« rief Mama, »sicher ist eins von den Kindern zu Schaden
gekommen!« Damit stand sie vom Klavierbock auf und lief fast in den
Saal.
 
Ljubotschka saß zwischen zwei Stühlen auf dem Fußboden; über ihr
Gesicht flossen Blut und Tränen. Wolodja und Katja standen mit
erschreckten Gesichtern neben ihr.
 
»Was ist? Wo tut es dir weh? Sag, was ist mit dir! Liebling,
Ljubotschka, Herzblatt, mein Engel!« rief Mama besorgt und selbst dicht
vor dem Weinen. Als sie die Hand fortnahm, mit der Ljubotschka ihre
Nase hielt, sah man, wie Mama sich freute, als sie wahrnahm, daß das
Blut aus der Nase kam und daß nichts Ernstliches passiert war. Sofort
änderte sich ihre Miene und sie fragte Wolodja strenge: »Wie ist das
gekommen?«
 
Wolodja erklärte, Ljubotschka hätte einen Hasen gemacht und sei schon
ganz weit fort gewesen, da wäre sie plötzlich gestolpert und mit der
Nase gegen einen Stuhl gefallen.
 
»So, so,« sagte Mama und hob Ljubotschka auf. »Das wird dir eine
Lehre sein, daß du nicht mehr so läufst wie eine Wahnsinnige. Geh ins
Gastzimmer, Liebling, hast genug getollt.«
 
Ljubotschka ging vorauf; hinter ihr Mama; dann folgten wir drei.
 
Ljubotschka schluchzte noch immer, und dieses Schluchzen glich sehr
einem Rülpsen. Aus den Augen flossen Tränen, aus der Nase Blut, aus
dem Munde Speichel; beim Abwischen mit dem Taschentuch schmierte sie
das alles über das ganze Gesicht. Die Füße setzte sie stets wie eine
Gans; jetzt war ihr breitbeiniger Gang noch komischer -- ich habe eine
so klägliche und gleichzeitig lächerliche Gestalt nie wieder gesehen.
Sogar Mama deutete beim Umblicken nach uns lächelnd auf Ljubotschka.
 
»Ihr könnt weiter spielen,« sagte sie zu uns.
 
Wolodja aber erwiderte, ohne Ljubotschka könnten wir unmöglich Hasen
spielen, und so gingen wir alle ins Gastzimmer.
 
»Setz dich und ruh dich aus,« sagte Mama zu Ljubotschka und wischte ihr
die Nase mit Essig und Wasser ab. »Weil du Dummheiten gemacht hast,
stehst du nicht eher wieder auf, bis du die Lektion kannst, die Mimi
dir aufgeben wird.«
 
Mimi gab der immer noch weinenden Ljubotschka eine Häkelnadel und eine
fünf Ellen lange Aufgabe.
 
Gewöhnlich, wenn jemand von uns etwas ausgefressen hatte, wurden wir
alle bestraft, indem man uns anempfahl, uns hinzusetzen und auszuruhen.
Heute dagegen erlaubte Mama uns zu spielen, woraus ich schloß, daß
heute der letzte Abend sei, wo wir zusammen wären, und Mama uns keinen
Kummer machen wollte -- als wenn sie uns Kummer machen könnte.
 
Jetzt kam Papa mit Karl Iwanowitsch aus dem Arbeitszimmer.
 
Karl Iwanowitsch ging nach oben, Papa aber kam mit heiterer Miene ins
Gastzimmer, ging auf Mama zu, legte ihr die Hand auf die Schulter und
sagte: »Weißt du, was ich soeben beschlossen habe?«
 
»Nun?«
 
»Ich behalte Karl Iwanowitsch bei den Kindern. Im Wagen ist noch Platz;
sie haben sich an ihn und er an sie gewöhnt; siebenhundert Rubel
jährlich spielen schließlich keine Rolle. ~Est puis, au fond, c'est un
bon diable~,« fügte er hinzu.
 
»Das freut mich sehr, der Kinder wie seinetwegen. Er ist ein prächtiger
Alter,« sagte Mama.

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