Kindheit 24
Erst in diesem Augenblick begriff ich, woher der beklemmend starke
Geruch kam, der mit Weihrauchduft vermischt, das Zimmer erfüllte. Der
Gedanke, daß das vor einigen Tagen noch so schöne, zarte, von mir über
alles in der Welt geliebte Gesicht Abscheu und Schrecken einflößen
konnte, hatte mir zum erstenmal eine bittere Wahrheit enthüllt und
meine Seele mit Verzweiflung erfüllt.
30. Weitere, die letzten traurigen Erinnerungen.
Mama war nicht mehr; unser Leben aber ging ganz den alten Gang. Wir
gingen zu Bett und standen auf um dieselbe Zeit und in denselben
Zimmern; Morgentee, Abendtee, Mittagessen, Abendessen -- alles zur
gewohnten Zeit; Tische und Stühle standen auf demselben Fleck, nichts
im Hause, nichts an unserer Lebensweise hatte sich geändert; nur sie
war nicht mehr.
Mir schien aber, nach einem solchen Unglück müßte alles neue Form
annehmen; unsere gewöhnliche Lebenseinteilung kam mir wie eine
Beleidigung ihres Andenkens vor und erinnerte zu sehr an ihr Fehlen.
Jetzt liebe ich diese traurigen Erinnerungen; damals fürchtete ich sie
und suchte sie fernzuhalten.
Am Tage vor der Beerdigung wollte ich nach dem Mittagessen schlafen und
ging in Natalie Sawischnas Zimmer; dort wollte ich auf ihrem Bett, auf
dem weichen Daunenkissen unter der warmen Steppdecke ruhen. Als ich
eintrat, lag sie selbst auf dem Bett und schlief. Beim Geräusch meiner
Schritte erhob sie sich, warf die Wolldecke, mit der der Kopf zum
Schutz vor den Fliegen bedeckt war, zurück und setzte sich, die Haube
zurechtrückend und die Augen reibend, auf den Bettrand.
Da ich schon früher ziemlich häufig nach dem Essen in ihr Zimmer
gekommen war, um zu schlafen, erriet sie meine Absicht und sagte, sich
vom Bettrand erhebend: »Sie wollten sicher etwas ruhen, Liebling. Legen
Sie sich nur hin.«
»Was fällt Ihnen ein, Natalie,« sagte ich und faßte sie an der Hand,
»ich denke nicht daran ... bin nur so gekommen; Sie sind selbst müde,
legen Sie sich lieber hin.«
»Nein, Freundchen, ich habe schon ausgeschlafen,« sagte sie -- dabei
wußte ich, daß sie drei Tage und Nächte nicht geschlafen hatte. »Mir
ist auch jetzt nicht nach Schlafen zumute,« schloß sie mit einem tiefen
Seufzer.
Ich hatte den Wunsch, mit Natalie Sawischna über unser Unglück zu
sprechen; ich kannte ihre aufrichtige Liebe; deswegen war das Weinen
mit ihr für mich ein Trost.
»Natalie Sawischna,« sagte ich nach kurzem Schweigen und setzte mich
auf das Bett, »hatten Sie das erwartet?«
Die Alte sah mich verständnislos und neugierig an; wahrscheinlich
begriff sie nicht, weshalb ich sie danach fragte.
»Wer hätte das erwartet,« wiederholte ich.
»Ach, mein Kind,« sagte sie mit einem Blick zärtlichsten Mitgefühls,
»nicht erwartet -- ich kann auch jetzt noch nicht daran denken. Was
mich alte Frau betrifft, wäre es längst an der Zeit, die müden Knochen
zur Ruhe zu bringen, denn was habe ich nicht schon erlebt! Den alten
Herrn, Ihren Großvater, Gott hab ihn selig, den Fürsten Nikolai
Michailowitsch, zwei Brüder, meine Schwester Anuschka -- alle habe ich
begraben, und alle waren jünger als ich, mein Freund. Jetzt aber muß
ich, offenbar meiner Sünden wegen, auch noch sie überleben! Es war Sein
heiliger Wille! Er hat sie zu sich genommen, weil sie würdig war und
weil Er auch im Jenseits Gute braucht.«
Dieser einfache Gedanke tröstete mich; ich rückte näher an Natalie
Sawischna heran. Sie faltete die Hände auf der Brust und blickte
aufwärts; ihre eingefallenen feuchten Augen drückten tiefe, aber ruhige
Trauer aus. Ihre feste Hoffnung war, Gott würde sie nicht allzulange
von der trennen, auf die sie so viele Jahre die ganze Kraft ihrer Liebe
verwandt hatte.
»Ja, mein Liebling, es ist wohl schon lange her, daß ich sie gewiegt,
in Windeln gewickelt habe und daß sie mich ›Nascha‹ nannte. Wie oft
kam sie zu mir gelaufen, schlang ihre Arme um mich und plapperte unter
Küssen: ›Mein Naschachen, meine Süße, was bist du für eine Pute!‹ Ich
machte bisweilen Scherz und sagte: ›Nicht wahr, Liebling; du liebst
mich gar nicht; werde nur erst groß, dann heiratest du und vergißt
deine Nascha.‹ Dann dachte sie wohl nach: ›Nein,‹ meinte sie, ›ich will
lieber nicht heiraten, wenn ich Nascha nicht mitnehmen kann; Nascha
werde ich nie verlassen.‹ Nun hat sie es dennoch getan und hat nicht
auf mich gewartet. Und wie hat sie mich geliebt, die Verstorbene! Wen
hat sie überhaupt nicht geliebt? Ja, Liebling, Ihre Mutter dürfen Sie
nicht vergessen; sie war kein Mensch, sondern ein Engel vom Himmel.
Wenn ihre Seele im Himmelreich angekommen sein wird, wird sie euch auch
dort lieben und sich über euch freuen.«
»Warum sagen Sie: wenn sie angekommen sein wird, Natalie Sawischna? Ich
denke, sie ist jetzt schon da.«
»Nein, Liebling,« meinte Natalie, die Stimme dämpfend und rückte mir
auf dem Bette näher, »jetzt ist ihre Seele hier,« dabei deutete sie auf
die Zimmerdecke. Sie sprach fast im Flüsterton mit solcher Überzeugung,
daß ich unwillkürlich den Blick aufwärts richtete, den Fries ansah und
etwas suchte. »Sehen Sie, mein Liebling, das will ich Ihnen sagen,«
fuhr die Alte fort, »zwei Wochen nach dem Tode bleibt die Seele in
ihrem Hause und fliegt hier überall herum; nur sieht man sie nicht;
nach vierzehn Tagen hat sie die erste Prüfung zu bestehen, dann die
zweite, die dritte und so geht es vierzig Tage. Wenn sie alle bestanden
hat, erst dann läßt sie sich im Himmelreich nieder.«
Sie sagte das alles so einfach und zuverlässig, als wenn sie die
gewöhnlichsten Dinge erzählte, die sie selbst gesehen und die niemand
auch nur im geringsten bezweifeln könnte. Ich hörte ihr mit stockendem
Atem zu, und obgleich ich nicht recht verstand was sie sagte, glaubte
ich ihr vollkommen.
»Ja, mein Kind, jetzt ist sie hier, sieht auf uns und hört vielleicht,
was wir reden,« schloß Natalie Sawischna, senkte den Kopf und schwieg.
Sie mußte weinen; um die Tränen abzutrocknen, stand sie auf, sah
mir gerade ins Gesicht und sagte mit einer Stimme, die vor Erregung
zitterte: »Um wieviele Stufen hat Gott mich hierdurch sich näher
gebracht. Was bleibt mir jetzt noch übrig? Für wen soll ich leben? Wen
soll ich lieben?«
»Lieben Sie uns denn gar nicht?« rief ich vorwurfsvoll und enthielt
mich kaum der Tränen.
»Gott weiß, wie ich euch liebe, mein Täubchen; aber so wie sie kann und
werde ich niemanden mehr lieben.«
Sie konnte nicht weitersprechen, wandte sich ab und brach in lautes
Schluchzen aus.
Ich dachte nicht mehr an Schlaf; wir saßen uns schweigend gegenüber und
weinten beide.
Foka trat ins Zimmer; da er unseren Zustand bemerkte und wahrscheinlich
nicht stören wollte, blieb er schweigend mit schüchternen Blicken in
der Tür stehen.
»Was willst du, Foka?« fragte Natalie Sawischna, die Tränen trocknend.
»Anderthalb Pfund Rosinen, vier Pfund Zucker und drei Pfund Reis zum
Leichenschmaus.«
»Sofort, sofort, Freund,« sagte Natalie Sawischna, nahm schnell eine
Prise und trippelte zum Vorratskasten. Die letzten Spuren des durch
unsere Unterhaltung hervorgerufenen Kummers verschwanden, als sie ihre
Tätigkeit begann, die ihr wichtig erschien.
»Wozu vier Pfund?« fragte sie brummig, den Zucker hervorholend und auf
der Schnellwage abwiegend, »dreieinhalb Pfund sind genug,« dabei nahm
sie ein paar kleine Gewichtstücke fort.
»Was soll denn das heißen; gestern erst hab' ich acht Pfund Reis
ausgegeben, und nun wird schon wieder welcher verlangt. Mach, was du
willst, Foka Demidytsch, aber Reis gebe ich nicht. Wanka freut sich
wohl, daß im Hause alles drunter und drüber geht und denkt, man merkt
es nicht. Nein, mit dem Herrschaftsgut wird nicht geschleudert. Ist das
wohl erhört: acht Pfund Reis.«
»Was soll ich machen? Er sagt, alles sei draufgegangen.«
»Na, dann nimm! Er soll daran ersticken!«
Mich überraschte damals dieser plötzliche Übergang von der Rührung
in der Unterhaltung mit mir zur Brummigkeit und kleinlichen
Berechnung. Bei späterem Nachdenken verstand ich, daß Natalie trotz
der seelischen Erregung noch genug Geistesgegenwart besaß, um ihre
Arbeit zu verrichten, zu der die Macht der Gewohnheit sie hinzog. Der
Kummer wirkte so stark auf sie, daß sie es nicht für nötig hielt zu
verbergen, daß sie es vermöchte, sich auch noch mit anderen Dingen zu
beschäftigen; sie hätte wahrscheinlich gar nicht verstanden, wie man so
etwas denken könne.
Eitelkeit ist das mit aufrichtiger Trauer am wenigsten zu vereinigende
Gefühl; dabei ist diese Eigenschaft der menschlichen Natur so tief
eingeimpft, daß selbst die stärkste Trauer sie kaum unterdrücken kann.
Eitelkeit in der Trauer äußert sich in dem Wunsch, entweder sehr
betrübt, oder unglücklich, oder besonders fest zu erscheinen; und
dieses niedrige Verlangen, das wir nicht eingestehen, das uns aber
fast nie, selbst beim heftigsten Schmerz nicht verläßt, nimmt unserem
Kummer jede Kraft, Würde und Aufrichtigkeit. Natalie Sawischna war
von dem Unglück so tief betroffen, daß in ihrem Innern kein Wunsch
übriggeblieben war und daß sie nur aus Gewohnheit weiterlebte.
Nachdem sie Foka die verlangten Dinge ausgeliefert und an den Kuchen
erinnert hatte, der für die Popen gebacken werden müsse, entließ sie
ihn, nahm ihren Strumpf vor und setzte sich wieder neben mich.
Die Unterhaltung betraf wieder denselben Gegenstand; wir weinten
abermals und trockneten unsere Tränen.
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