Kindheit 12
Wenn das alles nur bald ein Ende hätte, wenn man einsteigen und
losfahren könnte!
Das Fahren mit Postpferden war nämlich einer unserer stolzesten
sehnlichsten Wünsche, dessen Erfüllung mich fast davon überzeugte, daß
wir erwachsen wären.
»Wem soll ich das Verzeichnis der Kinderwäsche geben?« fragte Natalie
mit verweinten Augen, indem sie auf Mama zutrat.
»Geben Sie es Nikolas,« sagte Mama, »und kommen Sie nachher, um von den
Kindern Abschied zu nehmen.«
Die Alte wollte etwas erwidern, stockte aber plötzlich, bedeckte
das Gesicht mit dem Taschentuch und verließ mit einer abwehrenden
Handbewegung das Zimmer. In meinem Herzen rührte sich etwas, als ich
diese Bewegung sah, aber meine Ungeduld war stärker als dieses Gefühl
des Mitleids, und so hörte ich weiter gleichgültig die Unterhaltung
zwischen Papa und Mama an. Sie sprachen von Dingen, die offenbar beide
nicht besonders interessierten: was für den Haushalt einzukaufen wäre,
was man der Fürstin Sophie und Madame Julie sagen sollte und ob der Weg
gut wäre. Über die Trennung fiel kein Wort.
Foka erschien, blieb in der Tür stehen und sagte im selben Tonfall,
in dem er zu melden pflegte: »Das Essen ist angerichtet« -- »Die
Wagen sind vorgefahren.« Ich bemerkte, daß Mama bei dieser Meldung
zusammenfuhr als käme sie ihr unerwartet, und blaß wurde.
Jetzt mußte Foka alle ins Zimmer führen und dann die Türen schließen,
was mich sehr amüsierte und wunderte. Es war, als ob alle sich vor
jemandem versteckten.
Jetzt ließ Foka sich auf eine Stuhlecke fallen. Aber kaum war das
geschehen, da knarrte die Tür, alle setzten sich nun, und, mit dem
Schnupftuch in der Hand, trat Natalie Sawischna hastig ins Zimmer und
ließ sich auf demselben Stuhl mit Foka dicht an der Tür nieder. Noch
jetzt sehe ich den Glatzkopf und das unbewegliche Runzelgesicht Fokas
neben der gebeugten braven Alten im Häubchen, unter dem sich graues
Haar hervorstahl. Sie drückten sich auf demselben Stuhl herum, und es
war beiden ungemütlich.
Ich blieb nach wie vor unbekümmert und ungeduldig; die zehn Sekunden,
die wir bei geschlossenen Türen saßen, kamen mir wie eine Stunde vor.
Endlich erhob sich alles, bekreuzigte sich und fing an, Abschied zu
nehmen. Papa umarmte Mama und küßte sie mehrmals auf die Lippen. Das
wiederholten beide so oft, daß es mir komisch vorkam, und ich dachte,
wann das alles wohl ein Ende nehmen würde.
»Genug, mein Liebling,« sagte Papa, »wir trennen uns ja nicht auf
immer.«
»Es ist aber doch schwer,« erwiderte Mama, wobei ihre Stimme vor Tränen
zitterte.
Als ich diese Stimme hörte und Mamas Augen voll Tränen sah, vergaß ich
alles, und die liebe Mutter tat mir so leid, und die Trennung wurde
mir so schwer, daß ich bange den Augenblick erwartete, wo die Reihe
des Abschiednehmens an mich kommen würde. Ich fühlte und begriff in
dieser Minute, daß Mama, als sie Papa umarmte, sich schon von uns
verabschiedet hatte.
Dann küßte und segnete sie Wolodja so häufig, daß ich im Glauben, jetzt
ebenfalls an die Reihe zu kommen, mich schon mehrmals vordrängte. Aber
Mama segnete ihn immer wieder und drückte ihn ans Herz.
Endlich umarmte auch ich Mama, schmiegte mich fest an sie und weinte
helle Tränen, nur an meinen Kummer denkend.
Als wir zum Wagen gingen, drängte das lästige Gesinde zum
Abschiednehmen ins Zimmer. Ihr »Bitte das Händchen«, die schallenden
Küsse auf die Schulter und der Fettgeruch von den Köpfen ärgerten mich
fast bis zur Erbitterung, wie das bei sensitiven Naturen vorkommt.
Unter dem Einfluß dieses Gefühls küßte ich Natalie Sawischna, als sie
ganz in Tränen von mir Abschied nahm, sehr kühl auf die Haube.
Wunderbar, daß ich alle Gesichter des Gesindes noch jetzt so deutlich
vor mir sehe, daß ich sie mit den kleinsten Einzelheiten zeichnen
könnte; Mamas Gesicht und Stellung dagegen ist mir vollständig
entschwunden. Wahrscheinlich rührt das daher, daß ich mir während der
ganzen Zeit nicht einmal das Herz faßte, sie anzusehen. Mir schien,
daß, wenn ich das täte, ihr und mein Schmerz unerträglich werden würde.
Ich stürmte zuerst in den großen Wagen, um niemanden mehr zu sehen,
und setzte mich auf den Rücksitz. Obgleich ich wegen des Verdecks des
Wagens nichts sehen konnte, sagte mir mein Gefühl, daß Mama noch hier
sei.
Soll ich sie noch einmal küssen oder nicht? Na, zum letztenmal, sagte
ich zu mir selbst und beugte mich aus dem Wagen zur Treppe. Im selben
Augenblick trat Mama mit dem gleichen Gedanken an die andere Wagenseite
und rief mich beim Namen. Beim Hören ihrer Stimme wandte ich mich um,
aber so schnell, daß wir mit den Köpfen zusammenstießen; sie lächelte
schmerzlich und küßte mich fest, zum letztenmal.
Ich wagte sie erst anzusehen, als wir schon einige Schritte gefahren
waren. Der Wind lüftete ihr blaues Tuch, das sie beim Hinaustreten um
den Kopf geschlungen hatte. Jetzt senkte sie den Kopf, bedeckte das
Gesicht mit den Händen und ging langsam hinein. Foka stützte sie.
Papa saß neben mir, Wolodja -- gegenüber. In seinen Augen war keine
Spur einer Träne, aber er war blaß wie ein Taschentuch und schnitt
bisweilen mit dem Munde schreckliche Grimassen. Ich wimmerte und
schluchzte vor Tränen und dabei schnürte mir etwas die Kehle zusammen,
daß ich zu ersticken fürchtete.
Papa sagte kein Wort und sah uns bisweilen teilnahmsvoll an; diese
Teilnahme gefiel mir, und der Gedanke, daß meine Tränen Herz verrieten,
machte mir Vergnügen und tröstete mich.
Ich setzte mich bequemer hin und betrachtete aufmerksam die nächsten
Gegenstände vor meinen Augen -- das Hinterteil des Beipferdes auf
meiner Seite. Ich sah, wie es mit dem Schweif wedelte, wie ein Bein
das andere streifte, wie die Peitsche des Kutschers es berührte und
wie es aus dem Trab in Galopp verfiel; sah, wie der Längsriemen und an
diesem Längsriemen die Schnallen hin- und herrutschten -- sah so lange
hin, bis sich das Geschirr an einigen Stellen mit Schaum bedeckte.
Dann schaute ich in die Runde, auf die wogenden reifen Kornfelder, die
dunkle Brache, auf der am Horizont ein Bauer mit Pflug und ein Pferd
mit Füllen sichtbar wurden, und auf die Werstpfähle; blickte sogar auf
den Kutschbock, um zu sehen, welcher Kutscher uns führe, und die Tränen
in meinem Gesicht waren noch nicht getrocknet, als meine Gedanken schon
weit von der Mutter schweiften, von der ich mich vielleicht für immer
getrennt hatte.
Dennoch lenkte jede Erinnerung meine Gedanken zu ihr. Als wir zwanzig
Werst gefahren waren, fiel mir ein, daß ich vor zwei Tagen im Garten
einen kleinen Birkenpilz gefunden hatte. Ich hatte ihn nicht
abgebrochen, sondern mit trockenen Blättern bedeckt, da ich warten
wollte, bis er gewachsen wäre.
Jetzt fuhr ich fort und hatte ihn vergessen. Wer würde ihn pflücken?
Vielleicht zertrat ihn der Gärtner, vielleicht fanden ihn Ljubotschka
und Katja.
Dabei fiel mir ein, wie die beiden, besonders Ljubotschka, beim
Abschied von uns geweint hatten.
Sie taten mir leid, und Natalie Sawischna ebenfalls, und die
Birkenallee, und sogar die böse Mimi -- alle, alle! Und die arme Mama.
Tränen traten wieder in meine Augen, aber nicht für lange.
17. Die Kindheit.
Glückliche, selige, unwiederbringliche Tage der Kindheit! Wie soll man
die Erinnerung an euch nicht hegen und pflegen! Sie erhebt und erquickt
meine Seele und bildet für mich die Quelle der besten Genüsse.
Man hat sich müde gelaufen und sitzt matt auf seinem hohen Kinderstuhl
am Teetisch; es ist schon spät, die Tasse Milch mit Zucker ist längst
geleert, Schlaf fällt auf die Augen, aber man rührt sich nicht von der
Stelle -- sitzt da und hört und sieht.
Wie soll man nicht hören! Mama spricht mit jemandem, ihre Stimme klingt
so lieb, so unbeschreiblich freundlich. Der bloße Klang sagt meinem
Herzen so unendlich viel!
Mit schlafbeschwerten Augen blicke ich unverwandt in ihr Gesicht, und
plötzlich kommt es mir vor, als würde sie ganz, ganz klein, ihr Gesicht
nicht größer als ein Knopf, aber dabei sehe ich alles ganz deutlich,
wie sie mich ansieht und lächelt. Ich habe es gern, daß sie so klein
ist. Ich schließe die Augen noch mehr, und nun wird sie so klein,
wie Jungen im Augapfel; aber dann bewege ich mich und das Zauberbild
verschwindet. Ich mache die Augen kleiner, drehe mich hin und her,
bemühe mich, das Bild wieder hervorzuzaubern, aber es ist umsonst. Ich
stehe auf, schlage die Beine unter und lege mich bequem in den großen
Lehnstuhl.
»Du schläfst wieder ein, Nikolas; solltest nach oben gehen,« sagt Mama.
»Ich will nicht schlafen,« erwidere ich, und undeutliche aber süße
Träume erfüllen die Phantasie. Ein gesunder Kinderschlaf schließt die
Augen, und eine Minute später ist man bewußtlos und schläft, bis man
aufgeweckt wird.
Bisweilen fühlt man im Halbschlaf die Berührung einer zarten Hand; an
der Berührung schon erkennt man sie und ergreift sie noch im Schlaf
dicht vor dem Gesicht und preßt sie fest, fest gegen die Lippen.
Alle sind bereits fortgegangen; im Gastzimmer brennt nur noch ein
Licht. Mama hat gesagt, sie würde mich wecken. Dann kommt sie, setzt
sich auf den Lehnstuhl, auf dem ich schlafe, fährt mit ihrer wunderbar
zarten Hand über mein Haar und flüstert mit der lieben bekannten Stimme
dicht an meinem Ohr: »Steh auf, mein Liebling, es ist Zeit zu Bett zu
gehen.« Kein gleichgültiger Blick stört sie, ungescheut gießt sie all
ihre Zärtlichkeit und Liebe über mich aus.
Ich rühre mich nicht, presse aber ihre Hand noch stärker an meine
Lippen.
»Steh doch auf, mein Engel!«
Mit der anderen Hand umfaßt sie meinen Hals, und ihre kleinen Finger
bewegen sich und kitzeln mich.
Im Zimmer ist es still, halbdunkel; durch das Kitzeln und Erwachen
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