2014년 12월 29일 월요일

Indienfahrt 5

Indienfahrt 5

Vergiß,≪ sagte sie, ≫woran mußt du denken? Hier ist weder Zeit, noch Tag
und Nacht.≪

≫Und doch, du Geliebte dieser kleinen Ewigkeit, ist nicht das Leben langer
als die Jugend?≪

≫Nein,≪ sagte Goy sicher, und ihr Lacheln hatte etwas unfaßlich
Uberzeugendes, ≫vielleicht fur euch Manner, aber fur uns Madchen nicht.
Eine alte Frau ist schlimmer als eine ausgepreßte Mangofrucht, mit den
Gliedern welkt die Hoffnung, denn das Blut verliert seine Stimme, der der
Gang der Welt gehorcht. Kein Kind wird meine Freude sein.≪

≫Was kann ich fur dich tun, Goy? Nimm alles, was ich habe!≪

≫Ich nehme nichts≪, sagte das Madchen. ≫Ich habe niemals etwas genommen.
Die Alte nimmt. Sage mir, daß ich schon bin und daß ich dich begluckt
habe.≪

≫Du bist sehr schon.≪

≫Du sagst nur das eine, so bist du undankbar, oder du bist von denen, die
niemals sich selbst vergessen konnen, als waren sie so wichtig, ach, so
wichtig!≪

Sie kam mir ganz nah und sah mir unter die Augen, dann zog sie gelinde den
Finger vom Winkel meines Auges uber die Wange und um den Mund herum,
seufzte tief auf, als beklagte sie mich, und nickte.

Ich schloß die Augen. Die feuchte Blute an ihrem Gurtel naherte sich meinem
Gesicht, und mir war fur einen Augenblick, als legte sie sich kalt auf
meine Stirn.

≫Welche Menschen meinst du?≪ fragte ich. Mir war, als wiche der bunte
Rausch, wie Wolken dem Wind weichen, fur kurz von mir.

Goy sann nach und lachelte wehmutig, als gabe sie mich verloren; dann hob
sie die Hand an meine Stirn, tippte schnell mit der Spitze des Fingers an
die Schlafen und sagte:

≫Das kalte Feuer dort! Es ist starker als alle anderen Flammen und scheint
heller. Es kampft mit der Warme des Herzens und hat schon viele Herzen
ausgeloscht. Ihr mußt immer von einem zum andern. Wer alle Hindernisse zu
seinen Mitteln machen will, verdirbt seine Ruhe, denn die Welt ist voller
Hindernisse. Wohin willst du? Unsere Weisen lacheln uber euch. So komm',
vergiß!≪ --

Als ich aus dem Hause trat, fiel mich die Sonne wie ein Raubtier an. Ich
taumelte und tastete mich an den Hausern entlang voran, bis langsam meine
Besinnungen zuruckkehrten. Ich wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war.
So muß Lazarus die Welt empfunden haben, als ihn ein Gott ins Leben
zuruckrief. Ich erinnerte mich langsam der Einzelheiten meiner Erlebnisse,
wie der eines tiefen Traumes. --

Es mag nun wohl gewesen sein, daß eine habgierige Alte mich gefuhrt und ein
verdorbenes Kind mein Lager geteilt hatte, aber da ich von beiden
Eigenschaften keine furchte, so bekummern sie mich wenig, denn es kam mir
damals nicht darauf an, wieviel die Dinge in den richterlichen Augen einer
Weltgerechtigkeit wert sein mochten, sondern es kam mir darauf an, wie sie
sich in meinen Augen spiegelten.

Das Leben aber trubt die Augen der Menschen mit Traumereien, Scherzen und
Tranen.

                  *       *       *       *       *

Langsam empfand ich nun mehr und mehr, daß es einzig noch auf jene
sonderbare Blume ankam und auf ihr schimmerndes Blau, das sich seltsam
herrschsuchtig und still vor mir auszudehnen schien. Da war mir, als
erwachte ich wiederum zu einem neuen Dasein. Eine unendliche Mattigkeit
beschwerte meine Glieder, und meine Augen waren unsicher und benommen, wie
befangen von jenem strahlenden Azur meiner Traumblume, die sich nun als
eine endlose blaue Mauer vor mir ausbreitete. Ich versuchte mit großer
Anstrengung, diese blaue Mauer zu begreifen. Da sah ich plotzlich, wie
einen ganz fremden Gegenstand, meine Hand auf meinen Knien liegen,
abgemagert und ganz weiß. Ich versuchte, sie zu heben, und sie gehorchte
mir. Die unbeschreiblichen Schauer eines ganz neuen Lebens ließen meine
Glieder erbeben; sie gingen vom Bewußtsein aus und rieselten wie
Lichtgarben durch meine Adern, eigensinnigen Funken gleich, heiß und kalt.
Ich seufzte tief auf und weiß heute noch gut und genau, daß ich laut sagte:

≫Es kann das alte Leben nicht sein.≪

Da kam Panja um eine weiße Saule geschritten, die sich von der blauen Wand
abhob, und starrte mich an. Er stand merkwurdig unwirklich da, als schwebte
er in der Luft. Dies ist ja ein brauner Mann mit einem weißen Turban,
dachte ich.

≫Sahib!≪ schrie er, als er in meine Augen sah. ≫Sahib, sprich.≪

≫Wo sind wir, Panja?≪ fragte ich matt, ≫was ist mit der Zeit geschehen,
Panja?≪

Mein Diener starrte mich verstandnislos und in einer deutlich in seinem
Gesicht aufs neue auftauchenden Angst an, aber sie wich mehr und mehr, je
langer er in meine Augen schaute.

≫Sahib, sprich gute Worte≪, bat er, zweifelnd und hoffnungsvoll zugleich.

Da kam mir zum Bewußtsein, daß ich meine Frage in deutscher Sprache
gestellt hatte, und ich wiederholte sie englisch.

An Stelle einer Antwort stieß Panja einen lauten Schrei aus und warf sich
auf die Knie, indem er die meinen mit seinen Armen bedeckte. Schluchzend
stammelte er: ≫Sahib, du wirst leben!≪

≫Wohin sind wir geraten, Panja? Was ist dort fur eine blaue Wand?≪

Panja erhob sich mit glucklichem Lachen, trat zur Seite und sagte: ≫Es ist
das Meer. Wir sind hoch in den Bergen, du siehst auf das Meer hinab. Wir
haben dich aus den Sumpfen hinaufgetragen, zwei Tage und zwei Nachte lang,
ohne zu schlafen und kaum, daß wir geruht haben, bis die leichte Luft kam,
die Kuhle und die Ruhe. Sieh um dich, sieh die Walder an! Dies ist das
verlassene Bungalow einer englischen Farm. Wir haben die Affen vertrieben,
die von ihm Besitz ergriffen hatten≪, er stockte und sah mich an. ≫Ach,
Sahib, nun bist du erwacht und gesund geworden, der Sinn ist in deine Augen
und Worte zuruckgekehrt und die Freude in meine Brust.≪

Ich sah Panja weinen und begriff, daß er die Wahrheit sprach, und daß mein
Geist aus dem Bereich der Fiebergifte in die Wirklichkeit zuruckgekehrt
war. Da sah ich in einiger Entfernung Guru am Boden hocken und mich
unverwandt mit seinen großen Nachtaugen anstarren. Es lag etwas in seinen
Blicken, was ich nie vergessen werde.

Erst nach Tagen erfuhr ich langsam, was sich zugetragen hatte, denn Panja
verschonte mich mit allem, bis ich danach fragte. Ein großer Teil unseres
Gepacks war verloren, da die Leute sich meiner annehmen mußten und keine
Trager zu bekommen waren. Panja hatte hauptsachlich Proviant mitnehmen
lassen und die Koffer, von denen er wußte, daß sie meine wertvollsten
Besitztumer bargen, ebenso meine Waffen und ein Zelt. Zwar waren seit
gestern Pascha und ein Kuli hinabgestiegen, um zu retten, was noch zu
finden war, und um Sorge zu tragen, daß alles noch Vorhandene in einem
Eingeborenendorf untergebracht werden sollte, aber Panja hatte wenig
Hoffnung und furchtete, daß die ersten Gewitter hereinbrechen konnten. Er
saß oft lange schweigend in der Mittagsglut neben meinem Liegestuhl und sah
den Himmel uber dem Meer an und die weite, blaue Flache, die aus dieser
Hohe so ebenmaßig erschien, wie eine Platte aus Metall. Zuweilen lag ein
feiner, grauer Dunst daruber. Aber außer dieser Besorgnis, deren Gewicht
ich kannte, bedruckte ihn ein anderer Kummer; ich merkte es ihm an, wollte
aber nicht fragen. Erst als ich meine erste Zigarre anzundete, lachelte
Panja melancholisch und meinte: ≫Nun wirst du auch das Schlimmste ertragen,
da deine Kraft zuruckgekehrt ist.≪

Elias war vom Panther geholt worden.




Siebentes Kapitel

In den Bergen


Panja prufte aufs neue das verfallene Haus, in dem ein Raum notdurftig fur
mich hergerichtet worden war, so daß er geschlossen werden konnte, da ich
die Nacht ohne Feuer verbrachte.

≫Willst du bleiben, Sahib, bis die großen Regen kommen?≪

Ich wußte, daß dies nicht anging, und daß wir verloren sein wurden, wenn
die ersten Gewitter uns in den Bergen uberraschten. Erfolglos versuchte ich
die Zeit seit unsrer Abreise von Cannanore zu ermessen, es mochten vier,
funf oder sechs Monate vergangen sein.

Gurumahu war eines Morgens zu mir gekommen und hatte sich heimwehkrank
gemeldet. Er trennte sich mit schwerem Herzen von uns, aber wenn er sein
Dorf vor Anbruch der großen Regen erreichen wollte, so mußte er sich nun
auf den Weg machen.

Ich schenkte ihm meine verlotete Tropenuhr aus Nickel. Das war gewiß an
sich kein großes Geschenk, obgleich sie aufgeregt zu ticken verstand und
bei trockener Witterung sogar ging, aber Guru nahm sie begluckt entgegen.
Er wird kunftig alles aus ihr ersehen, was sein Herz zu wissen begehrt: die
Jahreszeiten, die Windrichtung und den Gang der Gestirne. --

Oft fehlte es uns am Notigsten. Panjas besorgte Augen schreckten mich aus
der Tauschung, in der ich mich dem Glauben hingab, daß die wohltuende, oft
kuhle Luft der Berge und der hochgemute Seelenzustand, wie er Genesende
erfreut, zu hoffnungsvollem Blick in die Zukunft berechtigten. Unser Gepack
war zum großten Teil gerettet, nur unter den Nahrungsmitteln hatten die
weißen Ameisen auf das furchtbarste gewutet, aber außer Panja und Pascha
hatte ich nur noch zwei Trager aus Sud-Kanara bei mir, die uns unter
großem Muheaufwand und oft unter Einsetzung ihres Lebens mit Reis und
Fruchten aus dem nachsten Dschungeldorf versahen. Die dortigen Bewohner
hatten unsere Abhangigkeit von ihrer Leistung herausgebracht, und meine
Geldvorrate schmolzen immer mehr zusammen, eine Tatsache, die Panja in
stille Raserei brachte. Er schwor den Erpressern unten im Grunen Rache und
versprach mehr als einmal, ihr Dorf in Brand zu stecken; meine
Gleichgultigkeit fuhrte ihn zu ernstlichen Ermahnungen:

≫Sahib, du bist ein großer Herr, und du kannst tun, was du willst, aber du
tust nichts. Die Tage verstreichen, einer nach dem andern, wie die
Wasserwogen an der Meereskuste, sie lassen keine Spuren zuruck und bringen
immer das gleiche. Wer lebt so? Als wir in Anandapur waren, hast du die
Brahminen verlacht, die den ganzen Tag in der Sonne liegen und den
Tempelreis fressen, der ihr Anrecht ist, aber wie machst nun du es? Fruher
hast du alles in Buchern verzeichnet, was du sahst, und mich oft gefragt,
aber nun tust du auch das nicht mehr, und die Bucher sind verbrannt.≪

Das war Panja ein großer Kummer, denn er wußte, daß auch seiner oft in
diesen Buchern Erwahnung getan war, und er hatte sich auf den Ruhm
vorbereitet, der seiner im Okzident, im Lande der Herren, wartete. Ich
lachte ihn aus; nur was die Gewitter betraf, hatte er recht, und so
entschloß ich mich eines Tages, den kurzesten Weg nach Mangalore zu nehmen,
um im Schutz dieser alten, gesicherten Hafenstadt die Regenzeit abzuwarten.

Aber im Herzensgrund ahnte ich bei solchen Vorsatzen, was ich aufgab und
dahinten ließ, und daß meinem Leben keine Zeit mehr wurde gegeben werden,
die der verstrichenen an Licht und Freiheit glich. Und so kam es, daß sich
unsere Abreise von Tag zu Tag hinauszogerte, obgleich alle meine Erlebnisse
in den Bergen sich im Schleier jener dammerigen Unwahrscheinlichkeit und
heimlichen Ruhlosigkeit zutrugen, die uns befallen konnen, wenn wir an
schoner Statte den Gedanken des Abschieds schon mit uns umhertragen. --

Da war Gong, ich werde ihn nicht vergessen, wahrscheinlich ist er
inzwischen gestorben, denn er zahlte schon damals nicht mehr zu den
Jungsten, und er uberwand sein Mißtrauen gegen mich niemals ganz. Er
gehorte jener Sorte von halbgroßen Affen an, die in Indien nur in den
Bergen leben, sie sind bedeutungsvoller als ihre Bruder aus dem Dschungel,
und sie haben andere Eigenschaften, aber keineswegs bessere.

Ich nannte diesen meinen Gefahrten der Fruhmorgenstunden Gong wegen seiner
außerordentlich haßlichen Stimme, die so klang, als ob man einen alten,
rostigen Blechkessel gegen eine Steinmauer wurfe. Gottlob sagte er nicht
viel, aber meine Erscheinung notigte ihm das großte Interesse ab, offenbar
hatte er sich in den Kopf gesetzt vor seinem Hinscheiden noch etwas ganz
Besonderes zu erleben, und sich meine Person ausgewahlt, die ihm dazu
angetan schien und die sich morgens unter den hohen alten Latan- und
Tamarindenbaumen finden ließ.

Kaum daß die ferne Flache des Meeres sich im Dammern silbern farbte, als
ich auch schon mein Lager verließ, um die kuhlsten Stunden nicht zu
verpassen. Ich sah diesen blassen Himmelsschein wie er sich vor der
vergitterten Offnung meines Fensters matt und glanzlos abhob, nur wenig vom
Licht des Mondes unterschieden und vom ersten Ruf der Raubvogel erfullt,
die weit hinter mir, schon in hellerem Licht, um die Felszacken kreisten.
Nun dauerte es noch etwa eine Stunde, bis die ersten Sonnenstrahlen unser
Hochland erreichten, zuerst sah ich sie fern auf dem Wasser funkeln, und im
Osten zeigten die Felszacken goldene Rander in unendlich freier, weiter
Hohe gegen den blaßblauen Morgenhimmel emporgereckt. Es gingen ein Glanz
und eine Stille von ihnen aus, die jeden Morgen aufs neue mein Gemut
erfullten und es bis weit in die Tagesstunden hinein begleiteten, da nichts
geschah, was ihren Frieden in meiner Seele auszuloschen vermochte. Nur wer
auf diese Art und unter solchen Bedingungen die Natur aufzunehmen vermag,
lernt sie begreifen, denn sie erfordert, wie alles Große, unsere
schrankenlose Hingabe, um sich uns voll zu offenbaren.

In dieser Stunde wartete Gong auf einem der meinem Hause nahe stehenden
Baume, meistens auf einem niedrigen dicken Ast. Die eine Hand umklammerte
allerdings in der Regel, fur alle Falle, einen hoheren Zweig, und wenn ich
meine Buchse bei mir hatte, so konnte anfangs kein Zureden ihn bewegen, zu
verharren. Ich weiß nicht, auf welche Art er die Bekanntschaft meiner Waffe
gemacht haben kann, sicher ist, daß die Affen mich weit langer kannten und
beobachtet hatten, als ich sie.

Seine Gefahrten flohen anfanglich in großen Scharen. Es war leicht, sie
dabei zu beobachten, weil die Baume in großen Abstanden voneinander
wuchsen, und die Herren sich jedesmal die Muhe machen mußten, erst wieder
auf den Erdboden herabzusteigen, wenn sie weiterkommen wollten. Gong nun
machte eines Tages eine Ausnahme, er blieb sitzen, als ich nahte, und ich
blieb stehen, denn es war mindestens erstaunlich, daß dieser Affe sich
nicht auf- und davonmachte. Er saß auf einem niedrigen, dicken Ast, hielt
sich mit allen vier Handen fest, als ob er sich hindern wollte, schließlich
doch die Flucht zu ergreifen, zitterte und sah mich mit hochgezogenen
Brauen zugleich neugierig, boshaft und angstlich an.

Ich habe nun bei Tieren immer zu erkennen geglaubt, daß sie es in der Regel
erst dann bose mit uns meinen, wenn wir ihnen Anlaß dazu geben. Es mag
sein, daß diese Anschauung daher kommt, daß ich in meiner Jugend niemals
schlechte Erfahrungen mit Hunden, Pferden oder Katzen gemacht habe,
obgleich diese Geschopfe aus jener Zeit durchaus nicht das gleiche von mir
behaupten werden, auch mag es daran liegen, daß ich mich nicht im
Bewußtsein einer Uberlegenheit wohlzufuhlen vermag. Von allen Empfindungen,
die die Geselligkeit unter andern Wesen, seien es nun Menschen oder Tiere,
mit sich bringt, ist mir die der Uberlegenheit am peinlichsten; ich habe
immer gesehen, daß die beschranktesten Menschen sie am ergiebigsten
auskosteten, wenn sich ihnen einmal Gelegenheit dazu bot. Es liegt im Wesen
aller Andacht vor dem Lebendigen, daß man sich einschließt, indem man
Rechte zugesteht, und sie erst dann einfordert, wenn das gemeinsame
Wohlergehen unserer Leitung bedarf. Von den gewaltigen Lebensstimmen, die
in der kurzen Wegstrecke des Erdendaseins unser Gemut erschuttern, ist das
Seufzen der unterdruckten Kreatur, wie die leitende und klagende Melodie in
einem brausenden Orgellied, immer das Vernehmlichste gewesen, das mir zu
Ohren gedrungen ist, und da ich verabscheue, Mitleid zu geben oder zu
empfangen, ist mir nur der Weg geblieben, in allem Lebendigen einen meinem
Leben gleichberechtigten Ausdruck der Natur zu erblicken.

Als nun Gong sitzen blieb, ohne mit seinen Gefahrten zu fluchten, und ich
mich ihm langsam naherte, unterschied ich deutlich in seinen Zugen die
Anspannung eines, der mit Herzklopfen zwischen Angst und Neugier schwankt.
Daruber aber schien ihm plotzlich einzufallen, daß es noch einen dritten
Weg gab, und er schlug ihn ein und machte den Versuch, mich dadurch
einzuschuchtern, daß er mir auf seine Art einen Beweis seiner Waldrechte
und seiner personlichen Bedeutung vermittelte. Er zog den Kopf tief
zwischen die Schultern ein, reckte ihn darauf mit einem Ruck vor und
schuttelte zugleich den Ast, auf dem er saß, durch ein energisches
Schaukeln seines ganzen Korpers so wild und angreiferisch, als seine Kraft
irgend zuließ. Dabei stieß er aus rund gehohlten Lippen einen Ton hervor,
der sehr schwer zu schildern ist, von dem man aber dadurch einen Begriff
bekommen wurde, wenn man einen Lampenzylinder fest an die Lippen setzte und
im Brustton ergrimmtester Uberzeugung hineinstieße: ≫Großer Gott!≪

Diese Erfahrung wirkte im ersten Augenblick so komisch auf mich, daß ich
lachen mußte, und ich schlug auf meine Schenkel und tat es laut. Einen
Augenblick schaute Gong verdutzt drein, aber dann nahm er meine Gebarde als
ein Zeichen wohlwollender Annaherung und wiederholte sie, so gut er konnte.
Seine Augen blieben dabei merkwurdig ernst, und seine Stirn zeigte tiefe
Falten.

Wir erwiesen uns nun diesmal und kunftig unser Verstandnis fureinander
dadurch, daß wir uns nach bestem Vermogen nachahmten, und so belustigend
wir vielleicht dabei aufeinander gewirkt haben mogen, blieb mir doch eine
Bekummernis und eine leichte Melancholie im Sinn, wenn ich bedachte, wie
groß und unuberbruckbar die Schranke war, die mich von Gong trennte.

Ich habe im Verlauf unserer Bekanntschaft die deutliche Beobachtung
gemacht, daß Gong sich verstimmt zeigte, wenn ich einmal ausgeblieben war,
und daß er sich ehrlich uber meine kleinen Aufmerksamkeiten freute.
Vielleicht mag ihn ein ahnlicher Gedanke bei seiner Betrachtung meiner
Person bewegt haben. Er versuchte zu lernen und zu begreifen, was irgend
sich fur ihn verstehen ließ, und wenn es haufig auch nur bei der außeren
Gebarde blieb, so war doch auf beiden Seiten der Wunsch erkennbar, einander
naherzukommen.

Zwar ließ er mich außerlich niemals weiter an sich herankommen, als bis
etwa auf funf oder sechs Schritte. Sobald ich den Versuch machte, diesen
Abstand zu verkurzen, hob er mit einem bedauernden Ablehnen die Hand und
ergriff einen hoheren Ast, um mir anzudeuten, welche Folgen mein
Entgegenkommen haben wurde.

Gong hatte im Laufe unserer Bekanntschaft alles gelernt, was sich mit den
Augen von den Vornahmen eines Menschen begreifen laßt, er hat meinen
Tropenhut auf dem Schadel gehabt, mein Taschentuch gebraucht, und er weiß
wozu ein Messer gut ist. Er hat meine Notizbucher durchblattert und in
meiner Hangematte geschaukelt, und er verstand die Bewegungen des An- und
Ausziehens eines Rockes so tauschend nachzuahmen, als sei er von alters her
gewohnt, Kleidung zu tragen.

Oft allerdings begriffen wir einander gar nicht, denn Gong wußte in seiner
Sucht, mir gleich zu sein, bald kein Maß mehr zu halten, und verstimmte
mich zuweilen empfindlich durch seine Nachahmungen, so daß ich mir
lacherlich in meinen Bewegungen vorkam und den bestimmten Eindruck gewann,
verspottet zu werden. Es mußte nun daruber nachgedacht werden, auf welche
Art Gong eines Teils seiner Erziehung wieder zu entwohnen war, denn es
wurde von Tag zu Tag offenkundiger, daß sowohl er selbst, wie auch seine
Gefahrten, mich nicht mehr ernst nahmen und es an dem Respekt fehlen
ließen, den ich glaubte beanspruchen zu durfen. Die Tiere lachten geradezu,
wenn ich kam. Zuweilen warteten sie morgens in Reih und Glied auf mich, um
mich bei jeder Gelegenheit auszulachen. Sie stießen sich gegenseitig an, um
sich aufmerksam zu machen, rieben sich vor Vergnugen die grauen Hande und
schlugen sich auf die Schenkel, dabei quietschten sie in allen Tonarten,
mißgonnten sich im nachsten Augenblick ein Gluck, das sie einander noch vor
kaum einer Minute zuerteilt hatten, und fuhlten sich bei alledem auf eine
Art wichtig, die auch bescheidenere Leute, als ich einer bin, ernstlich
verdrossen hatte.

Ich war nirgends mehr allein, wo immer ich mich aufhielt, und selbst die
Achtung vor meiner Buchse schwand von Tag zu Tag, da die Herren
herausgebracht hatten, daß es mir auf Vogel und Rotwild ankam, und daß das
wichtige Geschlecht der Affen vollig außer Gefahr war, geschadigt zu
werden. War es mir aber einmal gelungen, irgendein kleineres Tier zu
erbeuten, so warteten sie, bis ich die Buchse beiseite legte, und kamen
herzu, wobei sie sich gebardeten, als hatte ich diesen Erfolg einzig ihnen
zu verdanken.

Am meisten argerte ich mich uber ihre Vergeßlichkeit. Es war schandlich,
wie wichtig sie sich bei einer Sache anstellen konnten, die ihrem
Gedachtnis gleich darauf entglitt, als ware sie nie in der Welt gewesen.
Jeden Augenblick fiel ihnen etwas anderes ein, und immer beanspruchten sie,
in ihrer neuen Pose vollig ernst genommen zu werden. Ich kam mir
schließlich so vor, als sei ich in einer fremden Stadt ein zum Amusement
der Burger geduldeter Sonderling, und begann an meiner Tier- und
Weltbetrachtung ernstlich irrezuwerden.

So klagte ich Panja mein Leid. ≫Oh,≪ sagte er, ≫die Affen! Wer wird sich
mit den Affen einlassen, Sahib? Aber wenn du nur eine Heuschrecke
erblickst, so wirst du schon sorgenvoll und redest sie an, und dann tust du
so, als ob es dir antwortete, das Vieh. Wer aber mit Affen umgeht, hat bald
den Eindruck, als sei sein eigener Schatten narrisch geworden, und den
Schatten kann man nicht fangen.≪

≫Ich will Gong haben≪, antwortete ich.

Panja dachte nach. ≫Ich habe als Kind manchen Affen in der Schlinge
gefangen, und wenn der Affe, den du haben willst, dich kennt und kein
Mißtrauen hegt, so kannst du ihn leicht fangen, wenn du ihm zuvor genau
zeigst, wie man in eine Schlinge geht. Von diesem Kunststuck lernt er nur
die erste Halfte, und wenn du rasch hinzuspringst, kannst du ihn greifen.
Aber du mußt ihm mit der linken Hand entgegenkommen und ihn unversehens
mit der rechten im Genick packen. Die alten Affen beißen, solange sie noch
Hoffnung haben, entwischen zu konnen. Spater denken sie nach und geben es
auf.≪

Das war ein ausgezeichneter Gedanke. Ich nahm am andern Morgen ein
haltbares Hanfseil, fettete es ein, und als meine Peiniger mich empfingen,
begann ich mich auf alle Arten, bald am Arm, bald am Hals, aufzuhangen,
wobei ich besonders Gongs Aufmerksamkeit zu erregen suchte. Seine Gefahrten
zogen sich betroffen zuruck, da meine Maßnahmen ihnen fremd waren, aber
Gong sah mir nachdenklich zu und wurde ungemein ernst. Als ich glaubte,
genugsam durch mein Beispiel gewirkt zu haben, offnete ich die Schlinge,
soweit als notig, zog mich zuruck und legte mich in einiger Entfernung ins
Gras, um meiner Genugtuung in aller Ruhe entgegenzusehen.

Aber Gong blieb ruhig auf seinem Ast sitzen und schaute mit hochgezogenen
Brauen bald die Schlinge an, bald mich. Dann machte er sein boses, rundes
Maul, stieß den Kopf gegen mich vor, sagte verachtlich ≫Großer Gott≪ und
wandte sich ab, um die Gegend zu betrachten.

Da horte ich Panja hinter mir lachen und beschloß, ihn sofort zu toten.

≫Sahib, dieser Affe kennt die Schlinge, er kennt auch die Menschen, deshalb
ist er damals so nahe herangekommen.≪

≫Warum lachst du?≪ schrie ich. ≫Wer hat dir erlaubt, zu lachen?≪

≫Das muß man≪, sagte Panja.

Da sah auch ich es ein und lachte mit ihm zusammen.

                  *       *       *       *       *

Die grune Wildnis des Dschungels unter mir dampfte in der Fruhsonne und
blieb oft bis Mittag verhullt, ich begriff nun zuweilen schwer, wie ich es
dort unten so lange Zeit ertragen hatte, jetzt, da die Klarheit der
Bergluft kuhl um meine Stirn wehte. Nachts kam der Panther bisweilen bis
auf die Veranda des Hauses, von Hunger aus dem durren Hugelland in unsere
Nahe getrieben. Das Wild hatte sich aus der verbrannten Steppe in den
Dschungel zuruckgezogen, und ich begegnete außer Schakalen bald nur noch
Hyanen, wenn ich mit der Buchse aus den Waldpartien bisweilen des
Nachmittags uber die kahlen Berge zog. Aber immer huschten die Tiere in
Abstanden und außer Schußweite am Horizont dahin. Die graubraunen Schakale,
die die Farbe des Bodens hatten, reizten mich oft zum Schuß, aber kaum
hatten die zierlichen Kopfchen mit den hochstehenden Ohren sich gezeigt, so
schien der Boden sie auch schon wieder verschlungen zu haben.

Nahe bevor wir abreisten, schoß ich meinen ersten Panther. Es war in einer
klaren Mondnacht, als ich horte, wie Panja in mein Zimmer drang und mich
rief. Hinter ihm stand Pascha still und steil im Mond, von unten her ein
wenig vom Schein des Feuers beleuchtet, das nur schwach am Boden des
Vorplatzes brannte.

≫Sahib,≪ sagte Panja, ≫der Panther ist so hungrig, daß er Feuer frißt, wir
konnen ihn nicht vertreiben und keinen Schlaf finden.≪

Mir war die Nachricht willkommen, ich nahm die Buchse und befahl Panja, das
Feuer zu loschen. Die Trager waren unterwegs in die Niederungen, um Reis
und Geflugel zu kaufen, und wurden nicht vor Ablauf des kommenden Tages
zuruckerwartet. Ich lud beide Laufe mit Kugeln und legte den Revolver neben
mich. Das Fenster enthielt keine Scheiben, sondern war nur mit dicken
Holzstaben versehen, die Panja zum Teil erneuert hatte, die aber einem
energischen Eingriff keineswegs standgehalten hatten. Ich stellte mich in
den Mondschatten, und wir warteten.

Pascha legte sich im Winkel des Raumes zum Schlafen nieder, und ich horte
ihn nach kurzer Zeit schnarchen; Panja dagegen blieb dicht an meiner Seite,
nachdem er sich mit dem langsten Messer bewaffnet hatte, das unser
Lagerbestand aufwies, und mit einer Wegaxt. Er schuttelte sie wie ein
Indianerhauptling und grinste vor Aufregung, dann begann er das Meckern
einer Ziege so tauschend nachzuahmen, daß mir zum ersten Mal mit ganzer
Klarheit vor Augen trat, daß wir hier das große Raubtier erwarteten.

Es war vielleicht eine Stunde vergangen, und ich begann bereits die Geduld
zu verlieren, als plotzlich unter meinen Augen, jenseits des Fensterbretts,
das Mondlicht erlosch. Ich dachte zuerst an alles andere, merkwurdigerweise
nur nicht an den Panther, zumal sich nichts mehr ruhrte, weil das Tier mit
seinem letzten Schritt Witterung von uns bekommen haben mußte. Und nun
erkannte ich die große Katze unmittelbar vor mir, niedriger zwar, als sie
in meiner Vorstellung lebte, und merkwurdig farblos, aber ich unterschied
deutlich die geschmeidige Belebtheit der schonen Ruckenlinie und den
herrlichen Katzenkopf, der mir mit halb geoffnetem Rachen zugekehrt war. In
diesem Augenblick brach ein Gerausch aus den zuruckgezogenen Lippen hervor,
das mein Blut erstarren machte, es war ein fauchendes Schnarchen, uberlaut
und von einem Zorn und einer Angst hervorgestoßen, die den Willen bannten.
Ich erinnerte mich, dieses haßliche und zugleich so uberwaltigende Fauchen
in meiner Kindheit im Tiergarten am Kafig des Tigers gehort zu haben, wenn
der Warter nahe an den Staben voruberschritt. Nun trennte mich allerdings
auch in diesem Augenblick ein Gitterwerk von dem Raubtier, aber der Grimm
dieser Stimme erweckte die Vorstellung einer so unmittelbaren Nahe, daß
auch die starksten Eisenstabe kein Vertrauen eingefloßt hatten.

Ich entsinne mich nicht mehr, ob ich die Buchse im Anschlag hatte, oder ob
ich sie emporriß, jedenfalls zielte ich ohne das geringste Zutrauen zur
Wirkung meines Geschosses, zwischen die Augen, die ich deutlich
unterschied, wobei ich mich mehr auf die naturliche Fahigkeit der Arme
verließ, dem Lauf die notwendige Richtung zu geben, als auf das Visier, und
druckte, wahrscheinlich viel zu rasch, beide Laufe ab.

Ich horte ein Gerausch am Boden, als sprange das Tier in diesem Augenblick
vom Hausdach herunter vor mich hin, gleich darauf zerkrachte wie ein
Zundholz einer der Fensterstabe unter einem furchtbaren Tatzenhieb. Dann
wurde es ruhig vor mir und leer, wir horten den rollenden Widerhall der
Schusse von den Bergen her, sie polterten bellend von Felswand zu Felswand,
rollten durch die Taler und verhallten endlich fern in der Mondnacht wie
zwei gehetzte, klagende Bruder auf der Flucht.

Die erste deutliche Empfindung, die mich zu mir brachte, war das Schmerzen
meiner Hand, mit der ich den Revolver so fest umklammerte, als ob ich mit
dem ganzen Korper daran hinge. Ich erinnerte mich nicht mehr, ihn ergriffen
zu haben, lockerte aber nun aufatmend die Finger und gewahrte, daß ich am
ganzen Korper zitterte wie im Frost. Ich habe spater in Kanara und Maisur
noch manchen Panther erlegt, auf Reisfeldern, in Baumen auf der Lauer
liegend und in Felsschluchten, aber nie wieder durchschuttelte mich, selbst
bei weit großerer Gefahr, ein annahernd so starkes Fieber des Entsetzens
und der Hilflosigkeit. Ein unzulanglicher Schutz ist oft bei weitem
beangstigender als die volle Gewißheit einer schrankenlos wirkenden Gefahr,
und nicht nur, wenn es sich um einen Panther handelt. Es mag hinzukommen,
daß es in der Tat uberwaltigend ist, plotzlich zum ersten Mal dieser großen
Katze Auge in Auge gegenuberzustehen, deren Ankundigung aus geheimnisvoller
Nachtfinsternis man monatelang vernommen hat, und aus der die Phantasie in
unablassiger Beschaftigung ein bei weitem schlimmeres Fabelwesen
erschaffen hat, als der Panther es in Wirklichkeit ist.

Er ist im Grunde sehr scheu und fallt fast niemals Menschen an, selbst
Kinder nicht, wenn ihn nicht die außerste Not des Hungers oder die
Bedrangnisse der Treibjagd notigen. Im gesattigten Zustande weicht er stets
der Begegnung mit dem Menschen aus und er mordet nicht mehr, als zur
Erhaltung seines Daseins erforderlich ist. Alle Hirten, die mir in Malabar
vom Tiger oder Panther erzahlt haben, stimmten in ihrer Erfahrung darin
uberein, daß diese Katzen sich mit dem begnugen, was sie brauchen; unter
gewohnlichen Verhaltnissen nimmt der Panther eine Ziege aus der Herde,
schleppt sie davon, sattigt sich und uberlaßt die Reste seiner Beute
neidlos den Hyanen, die fast immer in seiner Gefolgschaft zu finden sind,
und die er nur dann angreift, wenn der außerste Hunger ihn notigt.

Vom Tiger gibt es vielerlei widersprechende Geschichten, die aber alle mit
großer Vorsicht aufgenommen sein wollen, denn die aberglaubische Furcht der
Hindus vor dem Tiger ist so groß, daß kaum einer noch in der Lage ist,
zwischen Tatsachen und allegorischen Erfindungen zu unterscheiden. Das
Grauen der Eingeborenen vor dem Tiger ist so nachhaltig, daß sich in vielen
Provinzen der Begriff des Bosen, des Satans, im Namen mit dem dieses
Raubtiers deckt, eine Tatsache, die nur verstandlich ist, wenn man die
unerhorte Uberlegenheit des Tigers uber die dortigen Menschen kennt, die
fast alle ohne Waffen sind, und deren Laubhutten keinen genugenden Schutz
gegen einen nachtlichen Uberfall bieten. Von vielen Sagen beruht jedenfalls
die auf Wahrheit, daß Tiger, welche den Genuß des Menschenfleisches kennen,
selten noch andere Nahrung zu sich nehmen, und solche Exemplare konnen dem
Lande ein außerordentlicher Schrecken werden. --

Wir fanden den erlegten Panther in der Morgendammerung in den Aloen. Der
Boden umher war zerwuhlt und im Todeskampf aufgerissen worden, aber das
große Tier lag jetzt ruhig, fast friedlich da, ohne Entstellung und ohne
Spuren eines Todeskampfs. Ich fand nur den Weg der einen Kugel, die hinter
dem Ohr in den Nacken gedrungen war und den Wirbel zerschmettert hatte. Die
Augen waren geschlossen, was man sehr selten bei einem erlegten Tier
findet, und das schon geschnittene Maul, in einem wehmutigen und beinahe
zartlichen Ernst, war ein klein wenig geoffnet, wie von einem letzten
Todesseufzer bewegt.

Seltsam harmonisch, fremdartig und zugleich im Sinn dieses Landes vertraut
und notwendig, hoben sich die stachligen, blaugrunen Blatter der
Aloestauden von der gelben Farbung des Fells ab. Ich vergesse diesen
Anblick niemals, der sich mir so entscheidend in die Seele einpragte, als
erfaßte ich zu dieser Stunde zum ersten Mal mit ganzer Inbrunst den
unnennbaren Begriff Indien, den der Pinsel keines Malers und das Wort
keines Dichters in seiner ganzen Fulle und Eigenart zu vermitteln vermogen.

Panja war den ganzen Morgen uber schweigsam, ein machtiger Herr der Berge
war gestorben. Ich trug mich den Tag hindurch mit eigenartigen Gedanken,
und zuweilen war mir zumut, als sei eine arge und sinnlose Willkur
geschehen, als habe ich einen Eingriff in die Pracht und Mannigfaltigkeit
der Schopfung getan, die mit dem Aussterben der großen Katzen in Indien
langsam um ihre vollkommensten Resultate geschmalert wird.




Achtes Kapitel

Am Thron der Sonne


Nachts, wenn ich nicht einschlafen konnte, weil das Mondlicht wie das
wahrsagerische Gespenst einer ewigen Todeskuhle an den zerbrockelten Mauern
entlang geisterte, die mich vor den Gefahren der Außenwelt schirmten,
erwachte in meiner Brust der Wunsch, jene Hohen zu erreichen, auf denen des
Morgens das rote Gold der aufgehenden Sonne leuchtete. Es verlangte mich
danach, von jener kuhlen, hohen Ruhe aus auf das indische Land jenseits der
Berge hinabzusehen und angesichts der unermeßlichen, hugligen Weite meine
Gedanken noch einmal durch jene Tage zu fuhren, die ich durchlebt hatte,
bevor ich in Cannanore angelangt war.

Panja riß die Augen auf, als ich mit meinen neuen Planen herausruckte. Er
stampfte den Wasserkessel in das Feuer, daß die Funken stoben und
betrachtete mich eine Weile auf jene Art, die Leute an den Tag zu legen
pflegen, die aus lauter Hoffnungslosigkeit, jemals uberzeugen zu konnen, am
Rande der Verzweiflung angelangt sind, und die doch daruber ihren Wunsch zu
uberzeugen nicht verbergen konnen. Als ich meinen Lebensretter so
erblickte, im Augenblick aber mehr Verlangen nach dem Tee, als eben nach
seinem Verstandnis trug, mußte ich fur eine kurze Weile an eine Schulstunde
zuruckdenken, in der mir von einem ahnlich ergriffenen Mannerangesicht
zugemutet wurde, Pythagoras dadurch gleichzusein, daß ich ihn begriff. Auch
dort erstickte ein bedauernswerter Zorn in der Hochflut anschwellender
Ohnmacht, und sprachlos gewordene Verachtung sagte mir an bosem
Lebensgeschick weit mehr voraus, als ein vereinzeltes Gemut, mit leisem
Hang zum Grubeln, ertragen kann.

≫Du siehst aus wie Professor Stolzenburg≪, sagte ich zu Panja, denn ich
halte dafur, daß man bose Gedanken guten Leuten gegenuber am besten offen
ausspricht, damit sich ein Weg zum Ausgleich mit gemeinsamen Kraften suchen
laßt. Hatte ich das nur in der Schule auch schon gewußt, vielleicht hatte
der gestrenge Verbitterer so mancher meiner Morgenstunden zwischen zehn und
elf Uhr mit sich reden lassen.

Panja verschmahte es der Bedeutung meines Vergleichs nachzuforschen, er
sagte nach einer Weile resigniert:

≫Nun, es ist ja gleichgultig, Sahib, ob wir hier oder dort im Wasser
umkommen.≪

Das befestigte meinen Beschluß aufs beste, denn wie alle leichtsinnig und
zugleich eigensinnig veranlagten Naturen habe ich oft dem Hang in mir
nachgegeben, jede Latte, die mir zwischen die Fuße geworfen worden ist, als
Sprungbrett zu benutzen. Man muß allerdings springen konnen, um dererlei
wagen zu durfen, das ist wahr, und dieses ≫Springen-Konnen≪ ist im Grunde
nichts anderes, als das, was die Menschen in der Regel ≫Gluck-Haben≪
nennen. Gluck haben gibt es nicht. Das sogenannte Gluck ist so eng mit
Geschicklichkeit verbunden, wie Ungluck mit Ungeschick, und diese Wahrheit
bezieht sich durchaus nicht einzig auf außere Vorgange, auch das Ungluck
der Seele ist zuletzt Ungeschick, wenn auch in einem weit hoheren Sinn, der
sein Recht in der Gesetzmaßigkeit des Weltwesens findet.

Ich habe das Panja damals nicht gesagt, er lief hin und her und hantierte
dergestalt mit den Gegenstanden, daß man deutlich wahrnehmen konnte, daß
keine Zweckmaßigkeit mit seinem Eifer verbunden war. Es ist merkwurdig, daß
Leute, die argerlich geworden sind, so oft dazu neigen, leichtere
Gegenstande von einem Platz auf den anderen zu stellen, und dann mitunter
sogar wieder von dem neuen Platz auf den alten zuruck. Offenbar liegt es
daran, daß ihre Gedanken mit den Entschlussen ahnlich verfahren, und daß
ein heimlicher Hang existiert, den Korper und die Seele moglichst im
Einklang miteinander zu erhalten. Ich erinnerte mich bei Panjas nutzloser
Beschaftigung meines Vaters, wenn er aus irgendeinem Grunde zum Ausdruck
brachte, daß seine Weltanschauung sich nicht mit der meinen deckte. Leider
geschah dies gewohnlich bei den Mittagsmahlzeiten, denn sonst vermied ich
es nach Kraften, ihm ohne Grund langere Zeit ruhig gegenuberzusitzen, und
dann sah ich, wie das Messer oder die Gabel, auch das Salzfaß oder der
Serviettenring bald an die rechte, bald an die linke Seite des Tellers
wanderten. Leider hatten wir damals Messerscharfer aus Schmirgelstein in
Gebrauch, runde, schwarze Stabe von der Lange einer maßigen Spargel und mit
einem polierten Handgriff aus Hartholz. Wenn zufallig eine besonders
wichtige Meinungsaußerung meines Vaters mit dem Transport dieses nutzlichen
Gegenstandes zusammenfiel, so geschah es in der Regel, daß der
Schmirgelstein zerbrach, denn seine Uberlegenheit, selbst dem besten Stahl
gegenuber, bewahrt sich nicht im Kampf mit der Tischplatte.

Dies erhohte den Verdruß meines Vaters bis an die Grenze bedenklicher
Einseitigkeit und zog die Laune meiner Mutter in Mitleidenschaft, wahrend
es meist meinem Selbstbewußtsein einen erheblichen Aufschwung verlieh und
mir nicht ohne Berechtigung den Gedanken beibrachte, daß mein Charakter in
den Augen meines Vaters um vieles milder angesehen wurde, wenn wir
Messerscharfer aus gerilltem Stahl in Gebrauch nahmen.

So sagte ich denn Panja meine Ansicht uber Messerscharfer, und dieser
unerwartete Ausdruck meiner Uberzeugung brachte ihn so weit zur Besinnung,
daß ich Tee bekam.

Er trank mit, wie gewohnlich, hockte mir gegenuber in der Morgensonne und
ruckte melancholisch an seinem Turban. Außer ihm trug er nun schon seit
Wochen nicht mehr als ein schmales Lendentuch, aber auf seinen schweren
Turban verzichtete er selbst in der großten Hitze nicht. Es ist wirklich
recht merkwurdig mit diesem Panja gewesen, je entschiedener sein
Widerspruch oft zu Anfang war, um so lebhafter wurde sein Eifer fur
gewohnlich von dem Augenblick an, in dem er merkte, daß ich nicht
umzustimmen war. In beidem erkannte ich die ehrliche Besorgnis seiner
Neigung, und ich erinnere mich seiner niemals ohne den Kummer uber einen
der großten Verluste meines Lebens. Die Harmonie unseres Verhaltnisses mag
im Grunde auf seiner Gewißheit beruht haben, daß die Uberlegenheit meiner
Rasse mit der Unerschutterlichkeit eines Naturgesetzes feststand. Das nahm
seinem Wesen jede Devotion im niedrigen Sinn und machte seine Ergebenheit
durch eine Demut wurdig, die beinahe einen Einschlag von Religiositat
hatte. Heute bebaut er in Malabar die Reisfelder am Purrha, jenem
beschatteten Landstrich am Palmenwald, auf dem die Hutte seines Vaters
stand, und den er aufgeben mußte, um in der Fremde zu dienen, weil seine
Bruder den Verlockungen der großen Stadte in Verschwendung erlegen waren.
Der Ruckkauf dieses Stuckchens Land war meine letzte Gabe an ihn, und es
bedruckt mich, daß ich ihm niemals die Gewißheit habe verschaffen konnen,
daß seine Gaben an mich reichere und unverganglichere Geschenke gewesen
sind.

Als der Tee getrunken war, sagte er wutend:

≫Aber Pascha bleibt hier.≪

Er tat immer noch so, als ware an diese Reise auf keinen Fall zu denken,
und wahrscheinlich meinte er deshalb nach einer Weile:

≫Es sind drei Tage oder Nachte fur den Aufstieg notig, aber in der halben
Zeit steigen wir ab. Hast du etwa geglaubt, wir brauchten langer?≪

Ich hatte es nicht geglaubt.

Panja sah hinauf zu den Gipfeln. Oben flutete alles in Licht, ein nie
gesehener Glanz verklarte die einsame Ruhe, die kreisenden Adler
schimmerten, als waren sie aus Gold.

≫Alle Traume bleiben lange leicht von der Frische der Hohen≪, sagte er
versunken.

≫Panja, hore, nur wer die Schonheit der Erde lieben gelernt hat, hat die
Erde in seinen kurzen Lebenstagen wahrhaft beherrscht. In diesem Sinn ist
sie uns von Gott gegeben, so hat er es mit uns gemeint, als er sie uns
gab.≪

Panja lachelte kindlich, in solchen Augenblicken hatte ich ihn in die Arme
schließen konnen.

≫Dir wird nichts geschehen, Herr≪, sagte er still und wie zu sich selbst.
Ich weiß nicht, ob er bei solcher Zuversicht an Gottes Hilfe glaubte oder
an seine, gewiß ist, daß ich selten im Leben wieder durch eines Menschen
Nahe so glucklich geworden bin wie durch die seine. Durch nichts vermag ein
Mensch uns seine eigenen Krafte besser zur Verfugung zu stellen, als indem
er die unseren glaubt.

                  *       *       *       *       *

So wagten wir vor Anbruch des kommenden Tages den Aufstieg zu zweien, noch
als die Nacht umher herrschte und uber den blauen Zelten der Berge vor uns
die Sterne leuchteten. Wir schritten im sparlichen Gesang der Grillen durch
durres Steppengras unter den hohen Latambaumen dahin, die in weiten
Abstanden voneinander standen. Zuweilen schalt uber unseren Kopfen ein
Affe, den unser Tritt geweckt hatte, oder ein Vogel flog auf mit einem
lauten Warnruf, der unser Nahen der ahnungslosen Natur verkundete, die an
diesen Statten wohl seit undenkbar langer Zeit der Fuß keines Menschen
betreten hatte. Es war kuhl und still, Panja sprach nicht, und ich schritt
im Traumbann einer so tiefen Einsamkeit dahin, daß mir zuweilen war, als
sahe ich, wie ein fremder Dritter, uns kleine Zwei durch die riesenhaften,
graugrunen Wogen der Hugellandschaft dahinschreiten, im Dammerlicht unter
den Baumen und Sternen.

Es war unvorsichtig genug, daß wir den Weg ohne Fackeln machten, denn am
Morgen ist in dieser Jahreszeit der Panther am kuhnsten, wenn er nach
vergeblichem nachtlichem Raubzug durch die Dammerung schweift. Aber es war
so hell unter den Sternen, daß wir das Land weithin ubersahen, und ich trug
die Buchse in der Hand. Panja schritt schweigend neben mir dahin, leichten
Tritts und mit erhobenen Augen, Kraft und Freude gingen von ihm aus, und
ich empfand ihn als allen Lebewesen seines Landes zugehorig, und die
Harmonie seiner Seele teilte sich mir mit, als sei auch ich in der Heimat.

Plotzlich begann er leise zu singen, immer die Augen auf die Hohen
gerichtet und so versunken in sich selbst, als schritte er allein durch das
Land. Seine gedampfte Stimme erinnerte mich, wie auch der eintonige
Rhythmus seines Liedes, an den Singsang der Priester, deren Tempel in
Cannanore hinter dem Garten meines Hauses im Grunen lag, und jahlings war
ich aus der freien Hohe und aus der kuhlen Luft in die tropische Niederung
versetzt, so daß mir war, als schlugen die schwulen Dampfe des
leidenschaftlichen Wachstums uber mir zusammen.

Als ich nach einer Weile die Blicke hob, nachdem wir die letzten
Baumbestande durchschritten hatten, erschrak ich vor einer zackigen,
flammend roten Lichtlinie, die den Himmel vor uns, hoch oben, in
wagerechter Richtung zerteilte. Totenstill und wie aus Farbe zog sich dies
rote Band langs des Gebirgskamms dahin, hinter den Hohen war die Sonne
aufgegangen. Ich wandte mich erschuttert um und sah hinter mir das Land
unter dem besternten Dammerblau der sinkenden Nacht, fern auf dem Meer
regte sich ein matter Silberglanz. Wie zwischen zwei Himmeln aus Blut und
Silber pochte mein entzucktes Herz seinen Lebensschlag auf den weiten,
grunbraunen Wellen der Erde, unendlich klein und doch die beseligte Quelle
meiner unfaßbaren Daseinsfreude. Panja warf sich auf die Knie und verbarg
sein Gesicht in den Handen. --

Eine Stunde, nachdem die Sonne uber die Bergzinnen schaute, horten die
Baume fast ganz auf. Wohl sahen wir, sobald wir eine Hohe erklommen hatten,
zur Rechten oder Linken die dunklen Mauern großer Walder in der Ferne, aber
bald wurde uns der Ausblick erschwert, da wir in einer Schlucht, im Bett
eines eingetrockneten Gebirgsbachs aufwarts klommen. Einen der Berggipfel
ersteigen zu konnen, stellte sich bei der Art unserer mangelhaften
Ausrustung bald als unausfuhrbar heraus, und so schlug Panja den Versuch
vor, einen der nachstliegenden Passe zu besteigen. Wir konnten fast den
ganzen Morgen hindurch marschieren, denn die Luft war kuhl und von einer
Durchsichtigkeit, gegen die ein wolkenloser deutscher Sommertag wie in
Nebel gehullt wirkt. Panjas Frohlichkeit erleichterte mir jede Strapaze, er
lachte oft ohne allen erkennbaren Grund, nur aus Uberfluß von Daseinskraft
und glucklich uber die Tatsache, in der von himmlischem Blau uberdachten
Welt da zu sein.

Als wir gegen Mittag, um vieles hoher, im Schatten eines Felsens Rast
machten und Panja unser Mahl bereitete, schreckte in nicht allzu weiter
Entfernung ein dumpfer, anwachsender Donner mich auf. Panja sprang empor
und spahte mit geschutzten Augen in die flimmernden Steppenwogen.

≫Die Buffel!≪ rief er, ≫sieh die Wolke, die sich den Hang niederwalzt.≪

Es war das erstemal, daß ich aus so unmittelbarer Nahe eine Buffelherde
gewahrte. Sie rollte wie eine dunkle Lawine dahin, und der Erdboden
drohnte. Nur fur kurz unterschied ich im Vordergrunde einen oder den andern
der schwer gehornten schwarzen Kopfe, den Glanz der großen Augen und den
Fall der Mahnen. Ich schoß nicht, da Panja mir erregt in den Arm fiel, als
ich die Buchse emporhob, und spater erklarte er mir, daß es vorgekommen
sei, daß der leitende Stier, durch einen Angriff in Schrecken oder Wut
versetzt, plotzlich die Richtung geandert und gerade auf das Hindernis zu
genommen habe. Zwar hatten wir einen Schutz auf den Felsen gefunden, aber
wenn unsere Flucht uns mißlungen ware, so wurden wir zerstampft worden
sein, da die ganze Herde dem Stier folgt.

≫Die Buffel kampfen mit dem Tiger,≪ erzahlte mir Panja, ≫selbst die
gezahmten furchten ihn nicht, und wenn du mit ihnen das Reisfeld bestellst,
so wird der Tiger sich huten, euch anzugreifen. Der Buffel spurt ihn eher
als du, und es wird dir nicht gelingen, ihn von seinem Standort zu
verdrangen, denn er wendet sich genau dem Tiger zu, wie eine Fahne, die du
gegen den Wind tragst. Wenn der Tiger den Sprung wagt, so endet er auf den
Hornern, und du bist in Sicherheit, solange du dich hinter dein Tier
stellst.≪

Die Staubwolke verrauchte im tieferen Gelande, und die klare Luft war
wieder still. Ich schlief kurz nach diesem Vorfall ein, ohne Nahrung zu
mir genommen zu haben, und Panja weckte mich nicht, denn er kannte die
ermudende und gefahrliche Kraft der Sonne, deren Strahlen auf den
Berghohen nicht anders wirken als im Tal, obgleich die Kuhle daruber
forttauschen kann. So gilt es in den Bergen, fast mehr noch als im Tal,
den Kopf und die Schlafen nicht ungeschutzt zu lassen, die Sonne hat viele
todlich getroffen, die ihre Macht uber diesen kalteren Regionen nicht
geglaubt oder vergessen haben. Mein Korkhelm druckte mich auch keineswegs
sonderlich, im Gegenteil, er wurde von Tag zu Tag leichter, weil eine
Schar mottenartiger Parasiten von ihm Besitz ergriffen hatten und ihn
zugleich bebauten und verzehrten. Bisweilen rieselte ein feines Korkmehl
nieder, wie ein liebevoller Beweis der Natur, daß sie keinen Menschen in
volliger Vereinsamung seinen Weg machen laßt. Panja war bereits mit
allerlei Mitteln gegen diese Tiere ins Feld gezogen, aber sie verließen
sich auf mich und vermehrten sich um so leidenschaftlicher, je mehr Panja
sie unterdruckte. --

So geschah es mir, daß ich bald darauf von einem hohen Paß aus einen Blick
in das weite indische Land hinab gewann, das ich vor meiner Zeit in Malabar
durchreist hatte. Die ungeheure Hugellandschaft erstreckte sich, wie von
Urzeiten her gelagert, ohne ein Anzeichen menschlichen Werks, und wie die
riesenhaften Wogen eines Meeres, das mitten im Sturm in Erstarrung geraten
war. Die Ebene in weiter Ferne schimmerte lichtgrau und wie die Oberflache
eines gewaltigen Sees, ich glaubte winzige Spitzlein und Turmchen in ihr zu
erkennen, deren Silhouetten nicht anders gegen den Himmel abstachen, als
sei der Horizont mit feinem Stacheldraht umzaumt.

Wir blieben den Tag uber auf der Paßhohe, unter dem Dach eines schrag
gesunkenen Felsens gegen die Strahlen der Sonne geschutzt, und durch die
unbeschreibliche Stille der Hohe zogen die Gestalten meiner Erinnerung, wie
in der Stunde eines Abschieds, unter dem Lied der Adler, noch einmal durch
meinen Sinn. Geister kamen aus dem Blau zu meinem Geist, Dahingesunkene
drangen in die Bewußtseinswelt des noch Verweilenden ein, Bruder und Gegner
in Gesinnung, Hoffnung und Schicksal, Freunde und Feinde in der Welt der
Lust und Trubsal und des raschen Todes.

Auf jedem Erdteil hat der Tod ein anderes Angesicht, nirgends sind seine
Zuge feierlicher, als bei uns in Europa, ich habe ein wenig verlernt, seine
pathetische Sonntagsgebarde meiner Heimat zu uberschatzen. Es hat noch
niemand dem Gespenst der Willkur sein Schauriges dadurch genommen, daß er
es heiligsprach; sicherlich ist die schwerfallig romantische Auffassung vom
Tode, die in Europa herrscht, eine Folge der Einwirkung der Kirche, die die
Tatsache des Todes so sehr in das Bereich des Ungeheuerlichen geruckt hat,
um aus ihrer Einwirkung einen Teil ihrer Autoritat zu gewinnen. Uns ist das
Sterben in der Vorstellung so schwer gemacht, daß sicherlich ein gut Teil
Gerechter und Ungerechter beim Tode auf das angenehmste enttauscht sein wird.

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