2014년 12월 29일 월요일

Indienfahrt 7

Indienfahrt 7

Wenn dein Gott dich das lehrt,≪ sagte Panja, ≫so kennt er die Welt nicht
und weiß nicht, wie es in ihr zugeht.≪

≫Vielleicht weiß er nicht, wie sie ist, aber er weiß, wie sie sein sollte.≪

≫So sage mir, was du Freiheit nennst? Wie soll ich dich verstehen?≪

≫Freiheit beginnt mit der Erkenntnis und dem Willen, daß man sein Handeln
nicht mehr danach richtet, was man anderen damit antut, sondern danach, was
man sich selbst zufugt, oder was man um seiner selbst willen unterlaßt.
Nimm an, du schlagst einen Menschen oder ein Tier, das mag zuweilen
notwendig sein. Du und das fremde Wesen, ihr beide werdet etwas dabei
empfinden. Es wird dir solange gleichgultig sein, was ein anderer dabei
fuhlt, bis du gelernt hast, zu beachten, was dir selbst dabei durch die
Seele geht. Hierauf achtzuhaben und sein Handeln danach einzustellen, ist
der erste Schritt zur Freiheit.≪

≫Und der letzte?≪ fragte Panja.

≫Der letzte ist der Wille, alles Bose deines Herzens in Liebe zu
verkehren.≪

≫Ich weiß nicht, was gut ist und was bose. Alle Menschen denken daruber
verschieden. Die Brahminen denken anders als ich, du denkst anders als die
Fakire, die aus den Bergen niedersteigen, und wenn du gar einem Missionar
begegnest, so denkt er so daruber, daß sich deine Haare strauben.≪

≫Das ist nicht wahr, du weißt doch, was bose ist, und du brauchst es nur
fur dich selbst zu wissen. Es ist nicht deine Aufgabe, dem Bosen zu
begegnen, das dir bei anderen entgegentritt. Fur dich selbst aber wirst du
es wissen.≪

≫Gut, wenn ich aber keine Liebe habe, Sahib?≪

≫Dann bist du verloren, Panja, dann kann kein Gott dir zur Freiheit
verhelfen, der meine nicht und der deine nicht, keiner. Solche Menschen
sind wahrhaft arm und verloren.≪

Panja schien sich mit diesem Resultat einer bescheidenen Reflexion
zufrieden zu geben, er lachelte vor sich hin, als kame er selbst bei einer
solchen Lage der Dinge nicht eben schlecht weg. Aber dann begann er sich zu
kratzen, und ich erkannte, durch den Sonnenschein blinzelnd, daß kein
außerlicher Grund fur diesen Kraftaufwand vorlag. Er meinte vorsichtig:

≫Was du in deinem Kopf ausdenkst, Sahib, ist gar nicht ubel, aber wenn es
herauskommt und man will etwas damit anfangen, so geht es einem ahnlich,
als wollte man sich Sonnenlicht fur die Nacht aufheben. Das Leben ist doch
anders, das ist die Sache.≪

≫Es ist dunkel, Panja. Dadurch unterscheidet sich unser Herz von unseren
Handen, in ihm laßt sich Licht aufheben und bewahren.≪

Ware nicht eine trippelnde Schar kleiner Wilder am Ende des Pfades vom Dorf
her erschienen, so hatte sich Panja sicher noch einen Einwand ausgedacht,
jedenfalls behielt er insofern auch ohne Entgegnung recht, als die
greifbaren Tatsachen des Lebens gebieterisch die Oberhand forderten. Es
waren vielleicht zwanzig oder dreißig Hindukinder, die in einiger
Entfernung auf dem schmalen Weg den Versuch machten, immer eins vor dem
andern zu stehen, da jedes die Absicht mit sich trug, am besten glotzen zu
konnen. Dies Bestreben bewirkte, daß das belebte Knauel sich immer mehr
naherte, bis endlich die starksten Knaben vorn waren und die Beine in den
Boden stemmten, um nicht weiter an uns herangedrangt zu werden. Einige
kletterten in die Pfefferranken, und die schwarzen Augen sahen uber den
braunen Pausbacken durch die grunen Blatter.

≫Eine Botschaft im Kopf einer alten Frau ist wie Reis in einem groben
Sieb≪, sagte Panja und lachte.

≫Es war keine junge da, Panja.≪

Er sah mich neugierig an und meinte dann:

≫Dir ist es gleichgultig, Sahib. Du siehst auf die Frauen meines Landes wie
ich auf die Gedanken deiner Stirn.≪

Ich wunderte mich in der letzten Zeit oft uber Panjas Freimut und uber den
vergnugten Eifer, mit dem er vertrauensvoll im Element unserer Beziehung
umherzuschwimmen begann. Ich empfand daruber große Freude, denn meine Art,
mich mit ihm einzulassen, hatte bei den meisten Mannern seines Volkes und
seines Standes zu Enttauschungen gefuhrt.

Panja trat gebieterisch vor die lebenden Resultate der erfolgreichsten
Bemuhung der Einwohner der Konigsstadt, aber der Eindruck, den er machte,
war nicht so groß, als er erwartet hatte. Da kehrte er um, nahm mein Gewehr
und ging wieder zuruck. Jetzt wichen ihm die Kleinen scheu aus, und er
lachelte befriedigt und hielt eine Ansprache in hindustani, die einen um so
starkeren Eindruck machte, als sie nicht verstanden wurde. Er wurde durch
ein fernes Klirren und Floten unterbrochen und kam rasch zu mir zuruck.

≫Der Konig kommt,≪ rief er, ≫wenn er nicht zu neugierig ware, wurde er dich
wahrscheinlich langer haben warten lassen.≪

Die larmende Musik kam naher, sie spannte seltsam die Erwartung, wie sie
hinter den grunen Vorhangen des Dickichts heranruckte, und ihr Rhythmus
erschutterte das Blut geheimnisvoll. Das erste, was ich bald darauf
erblickte, war der graue Schadel eines riesigen Elefanten und uber ihm das
bunte Kattundach eines etwas schiefen Baldachins, der von drei vergoldeten
Stangen gehalten wurde und von einer eisernen. Unter dem hellen Dach war
ein geflochtener Verdeckstuhl aus Rohr kunstvoll befestigt, und auf ihm saß
der Konig von Schamaji und spahte mit eifrig bewegtem Kopf nach seinem
Besuch aus. Acht Diener zur Rechten und Linken des Elefanten trugen Facher
aus Pfauenfedern, die an dunnen Bambusstangen befestigt und etwas schadhaft
waren, ihre vielfarbigen Augen waren zum Teil erblindet, wie auch die
Gewander der Gefolgschaft in etwas den Eindruck einer raschen
Zusammengesuchtheit erweckten. Immerhin entbehrte der Anblick des Zuges
keineswegs einer gewissen Pracht, besonders die Decken des Elefanten
gefielen mir wohl und waren, bis auf die faustgroßen, glasernen Edelsteine,
wertvoll, von reicher Stickerei und schonem Stoff. Die Musikanten
schritten, entgegen der gewohnten Art solcher Festzuge, hinter dem
Elefanten, wahrscheinlich hatte der Konig ihnen den Vortritt nicht gegonnt,
und so gruppierten sie sich auch eher neugierig, als eben feierlich, und
suchten zur Rechten und zur Linken des dicken Ungeheuers soviel als moglich
von dem Fremden zu erspahen. Hinter ihnen zog in ungeordneten Haufen das
ganze Dorf heran.

Wir waren bis zu einer Lichtung vorangeschritten, und der Konig nickte mir
huldvoll zu, nachdem er den Aufstieg der Musik durch eine Bewegung seiner
braunen Hand beschwichtigt hatte. Er hieß mich auf englisch in seinem Reich
willkommen, nachdem er zuvor einen prufenden Blick auf mein Gepack geworfen
hatte. Ich antwortete ihm englisch, und Panja ubersetzte meine Worte, denn
er traute dem Konig keine weiteren Kenntnisse dieser Sprache zu, und er
behielt darin recht.

Der Konig kletterte hierauf mit großem Geschick von seinem Elefanten, wobei
er so selbstverstandlich auf die Schultern seiner Wurdentrager trat, als
bildeten sie eine naturliche Treppe. Durch den Abstand, in welchem er sich
von mir hielt, deutete er mir an, daß er die abendlandische Sitte eines
Handedrucks zu vermeiden gedachte, und ich sagte ihm einige Hoflichkeiten
uber sein Ansehen und uber seine Macht, von welchen beiden der Dschungel
widerklange. Das gefiel ihm wohl, und so erfuhr ich von ihm, daß er noch
einen zweiten Elefanten besaße, der aber nicht mitgewollt hatte, daß mir
der Zutritt in seine Stadt offen stunde, und daß ich mein Zelt im Garten
seines Schlosses aufschlagen durfte. Wir standen in einem braun-weißen Ring
von staunenden Menschen, im Schatten des Elefanten, und sagten uns noch
eine ganze Weile angenehme Dinge. Endlich fragte der Konig, was mein Begehr
sei.

Panja riet mir rasch, eine Regierungspflicht vorzuschutzen, aber es
widerstand mir, und so antwortete ich, daß ich gekommen sei, sein Land und
seine Stadt zu sehen, von der ich im Abendland gehort hatte. Ich glaube
nicht, daß Panja dies richtig weitergegeben hat, jedenfalls minderte seine
Auskunft die Gunst des Konigs nicht herab, und er begleitete uns ins Dorf
zuruck, immer bemuht, mir nicht zu nahe zu treten, und außerordentlich
unhoflich gegen sein Volk.

≫Bist du ein Englander?≪ fragte der Konig zogernd, und Panja antwortete,
bevor ich etwas entgegnen konnte:

≫Der Sahib laßt fragen, ob du ein Konig seist?≪

Das wurde verstanden, ich wunderte mich sehr daruber auf wie freundliche
Art, aber man muß die Kalte und Sicherheit der englischen Beamten im Innern
Indiens gesehen haben, um zu begreifen, daß diese Gegenfrage keinesfalls
das gewohnte Maß der englischen Arroganz uberschritt. So war ich also ein
Englander. Wahrscheinlich hatte die Verkundigung meiner deutschen
Nationalitat keinen großeren Eindruck auf diesen Fursten gemacht, als wenn
sich in Berlin ein Neger mit Stolz als zum Stamme der Aschanti gehorig
ausgibt.

Wir kamen uber den Dorfplatz, der, wie mit großen graugrunen Zelten, mit
wilden Feigenbaumen umstellt war, deren hangende Wurzeln, wie das
Gitterwerk eines Kafigs, den Ausblick auf die fast ganz im Grun verborgenen
Hutten anfanglich verdeckten. Das Schloß lag am Ende des Dorfs in einem
Hain von wilden Zitronenbaumen und Arekapalmen, es war zweistockig und weiß
getuncht, von einem hohen Kakteenzaun umgeben, zwischen dem Termitenbauten
naturliche Befestigungsturmchen bildeten. Die mit Bambusgitterwerk
verhangenen Fenster schwiegen geheimnisvoll in dem abendlichen
Sonnenschein, der schrag durch die Palmen drang, nur zuweilen klirrten die
blanken Stabchen leise, als ruhrte sich hinter ihnen die Hand einer
Neugierigen.

Ich habe nur den Hof des Hauses betreten durfen und hatte nach dieser
kurzen Begrußung den Konig wahrscheinlich nicht mehr zu Gesicht bekommen,
wenn nicht ein aufregender Vorfall mein Interesse aufs hochste gespannt und
meine zur Stunde nicht sonderlich auf außere Abenteuer gestimmte Seele in
ein gefahrvolles Ereignis verwickelt hatte.

                  *       *       *       *       *

Als der rasche Abend niedersank und wir vor unserem Zelt unsere Mahlzeit
beendet hatten, vernahm ich aus dem Dunkel des Gartens einen klagenden
Sington von merkwurdig einschmeichelnder und zugleich wehmutiger
Verlorenheit. So singen zuweilen im Einsamen beschaftigte Menschen vor sich
hin, die sich fur unbeobachtet und unbelauscht halten. Es waren
langgezogene, wie mit dem schweren Atem hervorgehauchte Tone, nur wenig
voneinander unterschieden und tierhaft traurig. Sie wiederholten sich immer
wieder und bemachtigten sich meiner auf eine geradezu damonisch zwingende
Art, so daß ich mich getrieben sah, ihnen wider meinen Willen nachzugehen.
Panja ließ mich auf diesem Streifzug durch den nachtlichen Garten nicht
allein. Die Sterne schienen hell, und die riesigen Blatter der
Bananenstauden zur Rechten und zur Linken der schmalen Wege erhoben sich
wie gesturzte und sinkende Saulen eines heidnischen Bollwerks gegen die
Macht boser Gotter, oder sie hingen zerrissen im Sternenschein nieder, wie
die Haute zerfetzter Ungeheuer.

≫Der Konig gibt uns Boote,≪ sagte Panja leise, ≫aber er erwartet eine
Bezahlung, die seiner Wurde entspricht. Er hat auch Ruderer ausgewahlt,
sogar Bananen, Papaya und Gewurze fur den Reis.≪

Ich nickte schweigend, wir sprachen nicht uber die Tone, die uns lockten.
Vielleicht setzte Panja voraus, daß ich wußte, um was es sich handelte,
vielleicht hielt ihn eine ahnliche Scheu von seinen Mitteilungen ab wie
mich vom Fragen.

Dicht am Kakteenzaun des Gartens erhob sich nach einer Weile schwarz und
machtig die holzerne Pagode eines Tempels, wir sahen in den Hof hinuber,
was vom koniglichen Garten aus moglich war, und erblickten die heilige
Ziege zwischen den braunen Pfahlen des Vorplatzes zum Heiligsten. Es ruhrte
sich nichts an der geweihten Statte, nur ein schwacher, rotlicher
Lichtschein glomm hinter dem niedrigen dunkeln Turrahmen, als ware ein
Vorhang aus zartroter Seide vor dem geheimnisvollen Raum ausgespannt.

Als unsere Schritte sich einem Bambusdickicht naherten, hinter dessen leise
sirrendem Gefieder der Umriß eines niedrigen Gebaudes sichtbar wurde,
verstummte der trube Singsang, ahnlich wie der Grillengesang im hohen Gras
erlischt, wenn ein nachtlicher Spaher herantritt. Wir drangen in die hohen
Stauden ein, auf einem schmalen, kaum sichtbaren Pfad, uber uns hingen die
Sterne im dunnen Bambusblatterwerk, wie stechende, kleine Ampeln. Hinter
einer vergitterten Tur, im Schwarzen, erklang ein schwaches Stohnen, dicht
an den holzernen Staben.

≫Wir mussen Licht haben≪, sagte ich leise zu Panja.

Dies ware nur durch eine Fackel moglich gewesen, und ihr Schein hatte uns
verraten. Wir waren unserem koniglichen Gastgeber wohl kaum als sonderlich
hoflich erschienen, wenn er uns daruber ertappt hatte, wie wir sein
hausliches Bereich nachtlicherweile durchforschten.

≫Wenn wir warten, so werden wir sehen lernen≪, meinte Panja. Die Sterne
schienen sehr hell, ich horte mein Herz klopfen und stand unentschlossen.

≫Ist es ein Tier?≪ fragte ich Panja.

Er sah mich uberrascht an, als hatte er mich fur unterrichtet gehalten und
wundere sich nun uber meine Frage.

≫Ein Tier? Es ist ein Weib, das klagt≪, sagte er. ≫Vielleicht hat die Liebe
sie verwundet, vielleicht erleidet sie eine Strafe.≪

Ein truber Dunst, der den Atem benahm, schlug mir entgegen, als ich nun
nahe an das Holzgitter herantrat. Meine Furcht war jenem gedankenlosen Mut
der Emporung gewichen, der mit Panjas Worten in mir erwachen mußte. Ich
hielt mich seitlich, um den schwachen Lichtschein auf die dunkle Offnung
fallen zu lassen. Das niedrige Hauschen war gemauert und glich einem
vernachlassigten Stall.

≫Wer ist dort?≪ fragte ich auf kanaresisch. Panja stand dicht hinter mir.
Da sah ich nach einer kurzen Weile bedrangten Wartens ein schmales
Menschengesicht, merkwurdig farblos und von kranker Blasse, zwischen zwei
Staben des Gitters erscheinen. Rechts und links von dem schwarzen Haar, das
gelost niedersank, erblickte ich die erschreckend mageren Finger der Hande,
die in der Hohe der Augen je einen Stab umklammerten. Diese Erscheinung war
im nachtlichen Licht so grauenhaft in ihrer Verdammnis, als tauchte das
Gesicht einer langst Verstorbenen aus der Gruft empor. Die großen dunklen
Augen saugten die Nacht auf und gaben sie in lahmender Stille zuruck. Mir
war, als erlosche mein Herz, und ich taumelte und ergriff Panjas Arm.

≫Komm, Sahib,≪ sagte er, ≫wenn sie krank ist, so schleicht die Seuche in
deine Glieder.≪

≫Ist sie krank?≪

≫Ich weiß es nicht≪, sagte er zogernd.

≫Du weißt es doch≪, schrie ich, die Zahne aufeinander gepreßt.

Panja erschrak.

≫Ich weiß nur, Herr, daß untreue Frauen in diesem Lande auf solche Art
bestraft werden, aber es ist moglich, daß sie erkrankt ist.≪

Mich verließ der Rest meiner naturlichen Besinnung, ich packte einen der
Holzstabe des Gitters mit beiden Fausten, stemmte den Fuß gegen die
Bodenmauer und setzte jenen großen Aufwand entfesselter Kraft ein, den die
hochste Emporung uns verleihen kann, aber meine Bemuhung war vergebens, da
die Stabe aus Bambus waren.

Panja zog mich zuruck. Ich entsinne mich nicht, daß er mich jemals vorher
beruhrt hat, und mehr diese Kuhnheit als seine Absicht brachten mich zur
einsichtvolleren Betrachtung der Lage, die zweifellos recht schwierig war,
wenn ich erwog, daß ich auf jeden Fall alles einsetzen wollte, dieser
Unglucklichen ihr Geschick zu erleichtern, und mich zum andern die
Angelegenheit durchaus nichts anging. Der Konig wurde mir einen
eigenmachtigen Eingriff in seine Rechte niemals verzeihen, und wenn seine
Machtbefugnisse auch keinesfalls so groß waren, wie er wahnte und vorgab,
so hatte ich andererseits nicht den Ruckhalt, den er bei mir vermutete. Die
Englander pflegen die Gebrauche und die personlichen Gewohnheiten der
vornehmen Hindus, wie auch die der Brahminen auf das zuruckhaltendste zu
respektieren, weil sie erkannt haben, daß sie durch die Unterschiede der
Sitten, welche die einzelnen Kasten auszeichnen, das Land um so leichter
beherrschen. So gering ihre Zahl im Vergleich zu den Eingeborenen ist, so
groß ist sie als eine einzige geschlossene Gesellschaft, selbst der
machtigsten Kaste gegenuber.

So mußte ich wohl bedenken, daß ich keinen Schutz bei einer Regierung
finden wurde, deren Verwaltungstendenz einen Eingriff, wie den von mir
geplanten, verurteilte, am wenigsten vielleicht als Deutscher. Gerade
damals war England noch nicht uber Deutschlands Krafte und Rechte
unterrichtet, und man hielt in London das erste energische Vorgehen der
Deutschen in uberseeischen Landern nur fur anmaßend.

Trotzdem stand mein Entschluß fest, meinen Wunsch zur Geltung zu bringen,
und ich nahm mir vor, Panja in der Morgenfruhe zum Konig zu senden und ihn
um eine besondere Unterredung zu bitten. Es ist seltsam, wieviel leichter
wir grausame oder ungerechte Handlungen begehen, als bei anderen dulden
konnen. Der Gedanke an das Elend dieser eingekerkerten Frau uberschuttete
mich in einer schlaflosen Nacht in der Schwule unter dem Moskitovorhang mit
einem heißen Schauer der Emporung nach dem andern. Im kurzen Eindammern
eines qualvollen Halbschlafs erschien das wachserne braune Frauengesicht
vor mir in gluhendem Nebel, und die klagenden Singtone ihrer ersterbenden
Stimme fullten die von Unheil und nahenden Ungewittern schwangere
Nachtluft.

                  *       *       *       *       *

Ich erhob mich mit dem ersten Morgengrauen in einem ins Schmerzhafte
gesteigerten Verlangen danach, endlich das Meer, die Weite, den Widerschein
der Befreitheit zu erblicken. Mir war, als hatten die grunen Wande meine
Augen, ja alle Sinne abgestumpft und bis zur außersten Gereiztheit
eingezwangt, ich fuhlte mich schuldig und am Ersticken. In diesem Zustand
mag der Eigensinn eines Gedankens um so ausschweifender und zaher Gewalt
gewinnen, es war zweifellos eine gesteigerte Wut, in der ich bald darauf
dem Konig gegenubertrat. Es kam mir wenig auf die Folgen meiner
Handlungsweise an, und dieser Verfassung mag ich mehr an Erfolg verdankt
haben, als ich vielleicht einem uberlegten Vorgehen zu danken gehabt hatte.

≫Du haltst ein Weib in deinem Garten gefangen≪, sagte ich barsch. ≫Es ist
eines machtigen Fursten unwurdig, so gegen ein hilfloses Wesen vorzugehen.
Ich verlange, daß du ihr sogleich ihre Freiheit zuruckgibst. Mehr nicht,
aber das. Tu es gleich!≪

Nach einem betroffenen Aufblick kam eine große Geschmeidigkeit in das Wesen
des Hindufursten, eigensinnig und zugleich unterwurfig und von einer
Ausdauer im Umstandlichen, die auch den großten Langmut ermudet hatte.
Panja war sehr ernst und ubersetzte jedes Wort aufs genaueste, ich fuhlte,
daß er nicht wagte, in dieser Situation eine Verantwortlichkeit zu
ubernehmen.

≫Ich sehe, daß du mir nicht zu Willen bist,≪ ließ ich dem Konig antworten,
≫so erinnere ich dich an das Gesetz der Regierung, das verbietet zu toten
und das den Mord mit Tod bestraft.≪

Der Konig erblaßte und seine Lippen zitterten leicht, aber er blieb
freundlich und herbeilassend und versuchte mich zu uberzeugen, daß es sich
um eine leichte Strafe handelte, die zu verhangen sein gutes Recht sei.
Auch sei mir das Vergehen dieser Frau unbekannt. Er wußte von der Strenge
der Englander, aber zugleich habe er bisher niemals Grund gehabt, an ihrer
Gerechtigkeit zu zweifeln, und er wurde eher glauben, daß ein ungerechter
Mann kein Englander sei, als er einem Englander eine Ungerechtigkeit
zutraue.

Ich begriff aufs neue die Schlauheit und Zahigkeit dieser Menschen, ihre
Beharrlichkeit und die List, mit der sie ihre kleinsten Zweifel zu Waffen
machen, ohne eine nachweisbare Krankung damit zu verbinden. Billigerweise
blieb mir kein anderer Ausweg, als nachzugeben, bevor ich nicht die Rechte
zu einer Prufung erbracht, oder die Grunde fur die Bestrafung der
Eingekerkerten angehort hatte. Aber die kleine Enge, in die ich getrieben
worden war, machte mich nicht vorsichtig, sondern zornig, und so rief ich
bose: ≫Wenn die Englander ihre Gerechtigkeit von den indischen Konigen
gelernt hatten, so saßest du hinter jenen Staben, noch ehe ich nach Bombay
zuruckgekehrt ware.≪

Es ist sonst nicht meine Art, Konigen auf so unhofliche Weise zu begegnen,
aber nach dem Anfang, den ich gemacht hatte, blieb mir nur dieser Weg
ubrig, denn mir ist die Klugheit fremd, die ihre Zelte auf der Walstatt
errichtet, auf welcher ein hochherziger Vorsatz von Furcht uberwaltigt
worden ist. Ich sah Panja an, daß er meine Antwort fur richtig hielt, er
trat vor und sagte ruhig:

≫Die Beine der Gefangenen sind bis an die Knie hinauf von den Ameisen
zerfressen.≪

Der Konig gab ihm keine Antwort, er sah vor sich nieder, als ginge ihn dies
alles plotzlich nichts mehr an, und zum erstenmal schlich, uber dieser
neuen Gebarde meines Gegners, eine graue Furcht in mein Herz. Ich fuhlte,
daß er den Gebrauch von Waffen erwog, denen keine Gesinnung gewachsen ist;
dies war die Stille, in der das Bose, zum außersten getrieben, das Niedrige
beschwort.

≫Ich werde die Gefangene freigeben, Sahib Kollektor≪, sagte er ruhig und
trat zuruck.

Dieser Titel war mir gewiß nicht aufrichtigen Herzens zugelegt, denn der
englische Kollektor ist der hochste Regierungsbeamte des Bezirks und wurde
sicherlich nicht in meinem Aufzug durch die vergessene Wildnis des
Dschungels von Kanara reisen. Ich wußte dies wohl, und nicht nur der
lauernde Blick des Konigs unterrichtete mich uber die Tucke dieses
Angriffs.

≫Wenn der Kollektor hatte kommen wollen, so ware ich nicht selbst
gegangen≪, sagte ich frech. Es kam mir nun durchaus nicht mehr darauf an,
etwas anderes zu geben, als gute Antworten. Ich forderte die Entgegnung des
Konigs mit ruhigen Augen heraus, und sicherlich hat ihre Farbe ihn mehr
bedrangt als meine Anmaßung. Er sah mich nur einmal rasch und voll
unterdruckten Hasses an. Das dunkle Gift der Dschungelnacht blinkte in
seinen muden Samtaugen auf, die Bosheit der Fremde und der ganze Rassenhaß
eines unterdruckten Volks.

Ich hielt es fur angebracht, mich vorderhand mit diesem Zugestandnis zu
begnugen und abzuwarten, welche weitere Wirkung meine Forderung haben
wurde. So verabschiedete ich mich vom Konig, wobei wir uns beide beflissen
zeigten, so gnadig als moglich zu erscheinen. Ich ließ das Zelt abbrechen
und alles zur Abfahrt vorbereiten, nahm mir aber fest vor, das Boot nicht
eher zu betreten, als bis ich das Resultat meiner Bemuhung gesehen hatte.
Es blieb mir kaum recht Zeit zu uberlegen, ob ein Erfolg oder ein Mißerfolg
großere Schwierigkeiten fur mich mit sich bringen wurde, denn noch ehe die
letzten Eisenkoffer geschlossen waren, brachten zwei Diener des Konigs
seine Gefangene zu uns. Die junge Frau war in ein weißes Tuch gehullt und
schritt langsam und muhselig dahin, ich sah kaum mehr als ihre Augen, als
sie vor mir stand, und die flackernde Furcht darin machte mich ratlos.

Panja versuchte mit ihr zu sprechen, und nach langer Muhe gelang es ihm,
ihr verstandlich zu machen, daß sie uns ihre Befreiung aus ihrer Lage
verdankte, und daß es ihr anheimgestellt sei, zu gehen, wohin es ihr
beliebte.

Sie ließ sich stumm am Boden nieder, wahrscheinlich aus Erschopfung, und
schloß immer wieder fur lange ihre Augen, die des Lichts entwohnt waren.
Kein Zeichen von Dank oder Freude belohnte uns, bis sie endlich, nachdem
ich mich zuruckgezogen hatte, Panja fragte, ob sie den fremden Sahib
begleiten musse.

Panja will ihr gesagt haben, daß wir nichts von ihr forderten oder
erwarteten, er hat ihr die Freiheit so verlockend geschildert, als sie ihm
nur immer erschienen sein mag. Nach einer kleinen Weile kam er zu mir und
sagte ohne Triumph oder Parteinahme, aber ehrlich besturzt:

≫Sahib, die junge Frau bittet dich, sie zuruckkehren zu lassen.≪

≫In ihr Gefangnis?≪

≫Ja, Herr. Sie hat die Hande auf ihr Herz gelegt und den Namen des Konigs
genannt.≪ --

Eine Stunde darauf stießen unsere Boote vom Landungsplatz des Dorfes
Schamaji aus in die lauen Strudel des Kumardary, der uns trage und still
nach Westen trug, auf das Meer zu. Der Liebe lassen sich keine
Liebesdienste erweisen, sie ist in ihrem Fortgang selbstandiger und
beharrlicher als jedes andere menschliche Gefuhl, und ihre Sicherheit ist
hoheren Ursprungs als die Vernunft.




Elftes Kapitel

Mangalore


Die merkwurdige Tatsache unseres irdischen Daseins ist mir immer in den
Augenblicken des Erwachens am wunderbarsten erschienen. Wenn sich unsere
Sinne, unter dem Glanz der Morgensonne oder durch das Lied eines Vogels im
Licht erweckt, aufs neue zum Bewußtsein zusammenfinden, so bricht uber das
Herz bisweilen wie ein Schauer von Gluck und Erstaunen die Gewißheit
herein, am Leben zu sein, noch nach Unzahligen, die versunken sind, und
nach Ungezahlten, die kommen werden, auf der beschienenen Oberflache der
Erde ein lebendiger Mensch zu sein. Ich wurde mir dieses freudigen
Erstaunens in keiner Stunde starker bewußt, als an jenem Morgen, an dem ich
im Boot auf dem Fluß erwachte. Am Abend vorher hatten wir einen toten Arm
des versandeten Stroms gefunden, in dem das Wasser, still wie in einem See,
unter einer grunen Decke wunderlicher Sumpfpflanzen lag, und da keine
Moglichkeit bestand, die Boote durch den Morast der Ufer an festes Land zu
ziehen, hatte Panja geraten, auf dem Wasser zu ubernachten. Es war mir
gegen Morgen entgangen, daß das Boot, in welchem ich schlief, wieder in die
Stromung gestoßen wurde, und so erwachte ich erst, als schon die Sonne
schien, und der leise Gesang des Wassers traf meine leicht besturzten
Sinne. Ich erinnerte mich nur langsam der Lage, und sogar meine Lebenszeit
hatte sich mir fur Augenblicke verwischt. In einem von aller Zeitrechnung
befreiten Aufstieg meines Bewußtseins wurde mir nur eines zur Gewißheit:
Die Sonne scheint auf die Erde, in den Baumen rufen lebendige Geschopfe und
du selbst lebst.

Solche Augenblicke erscheinen uns oft in spaterem Gedenken daran sehr
bedeutungsvoll, da sie mit dem Abstand wachsen, und weil die Erinnerung
die Geschehnisse nicht nach ihrer Dauer und ihrem Wert zu bewahren pflegt,
sondern nach dem Maße ihrer Eindringlichkeit. Und ob ein Erlebnis uns im
Gedachtnis zuruckbleibt, hangt wenig von seiner erkennbaren Bedeutung ab.
Vielmehr sind es zumeist so unscheinbare, ja oft geradezu kleinliche
Begebenheiten, welche unsere Erinnerung unausloschbar bewahrt, daß wir ihr
nur ein Lacheln gonnen, ohne zu begreifen, daß ihre Krafte ein eigenes
sittliches Reich darstellen, dessen mystische Eigenart unserem Willen in
keiner Weise untergeordnet ist. ≫Wenn Gottes Augen, welche ohne Aufhor die
Regionen seiner Schopfung durchschweifen, unser Dasein treffen, so bleibt
der Augenblick in unserer Erinnerung fur immer haften≪, sagte einmal ein
buddhistischer Monch aus Kaschmir zu mir, der Malabar auf der Suche nach
einem heiligen Baum mit grauen Bluten durchwanderte. So werden die
Lebensstunden, welche wir fur groß gehalten haben, oft abhangige Kindlein
kleiner Einzelfalle, an die sie sich lehnen mussen, um nicht im Dunkel zu
versinken. --

Ich richtete mich im Boot auf und sah die Ufer gleiten, sie waren so dicht
umwachsen, daß es erschien, als waren wir zwischen zerbrockelten grunen
Mauern auf stiller, eiliger Flucht, zwischen Wanden, die bald
auseinanderwichen, bald aufeinander zuruckten. Das unsterbliche
Himmelsblau, unwirklich in seiner funkelnden Farbstille, spannte sich
daruber aus, und bisweilen schossen die blendenden Strahlen der Morgensonne
in meine Augen und schlossen sie.

Der zuruckliegende Tag war voller Beschwerden gewesen, und wir hatten
Uppanangadi nur mit Muhe erreicht, ohne die Stadt angeschaut und ohne
langer Rast gemacht zu haben, als es aus Rucksicht gegen die Ruderer
notwendig war. Ihre Tatigkeit bestand zu Anfang unserer Fahrt mehr im
Steuern als im Rudern, sie taten es stehend, und indem sie, je nach der
Richtung, die eingehalten werden mußte, ihr Ruder zur Rechten oder Linken
des Kanus ins Wasser tauchten. Dies geschah mit großem Geschick und
unterhielt mich lange. Es war haufig vorgekommen, wahrend wir noch auf dem
Kumardary schwammen, daß die Boote sich auf Sandbanken festfuhren, wir
mußten dann ins Wasser und sie mit vereinten Kraften wieder flott machen.
Bisweilen kreisten wir sanft, aber recht ausdauernd, in tiefen Kesseln oder
glitten niedrige Falle nieder, eine Beschaftigung, an die sich meine Sinne
gewohnen mußten, weil die Vorstellung etwas durchaus Erschreckendes hatte,
dort zu kentern und vom truben Wasser an die sumpfigen Ufer getrieben zu
werden, oder in Stromschnellen und tiefen Wirbeln mit den Alligatoren in
nahe Beruhrung zu kommen.

Nachts war es am schonsten. Zwar fuhren wir nachts nur die Stromstrecke vor
der Stadt Uppanangadi bis an die holzernen Landungsstege des Orts, aber die
wandernden Fackeln im Dunkel der Ufer, die wie riesige Leuchtkafer
aussahen, erregten die Phantasie geheimnisvoll und unterrichteten uns
daruber, daß wir uns bewohnteren Gegenden naherten.

Je weiter wir nun den Netrawati hinabtrieben, um so gemachlicher zog die
Flut, und die Arbeit der Ruderer setzte ein. Bei Krummungen des Stroms
verloren wir oft das zweite Boot fur lange aus den Augen, aber es lag kein
Grund zur Besorgnis vor, denn Pascha, der unser Gepack im andern Kanu
bewachte, genoß jenen Respekt bei den Leuten, der schweigsamen Menschen
leicht zufallt, die, ohne unhoflich zu erscheinen, niemals ein Lacheln und
selten eine Frage erwidern. Meine Trager waren in Schamaji von Panja
entlassen worden, ich langte nach dreitagiger Fahrt, in Begleitung von
Panja und Pascha, in Mangalore an, die Kanus kehrten im Hafen um, ohne daß
die Leute aus Schamaji das Ufer betreten hatten. Sie leben in keinem guten
Einvernehmen mit den Kustenvolkern, die sie fur abtrunnig und
fremdenfreundlich halten.

Die letzten Stunden war unser Boot langsam durch trubes, stehendes Wasser
gerudert worden. Die Vegetation nahm immer mehr ab, Reisfelder wechselten
mit sumpfigen Einoden, auf denen bose, stille Lachen spiegelten, von
schweren Dunsten umlagert und von Menschen und Tieren verlassen. Dort
schlief die Pest ihren Sommerschlaf, um mit den ersten Regen wieder zu
erwachen. Es war so druckend heiß, daß das Atmen zur qualvollen Muhe wurde,
die Ruderer arbeiteten zuletzt wie in einer dumpfen Betaubung, und die
Stimmen des truben Wassers erloschen oft ganz. Der Fluß teilte sich in
vielerlei breite und schmale Kanale, aus den Palmen am Ufer ragte der rote
Schornstein der deutschen Ziegelei.

Wir durchfuhren die ganze Stadt bis zum Meerhafen, der am Ort unserer
Ankunft kahl und ode, durch eine Sandbank gegen das Meer geschutzt, lag,
und die Dunste der See, ohne Leben und Frische, enttauschten mich bitter.
Von der Stadt hatten wir so gut wie nichts gesehen, sie liegt ganz im
Palmengrun auf drei sanften Hugeln. Nun aber erblickte ich die Hauser des
Hafens, schlechte zerfressene Steinbauten, unfreundlich und verlottert, in
jener ganzen Roheit und erbarmlichen Charakterlosigkeit, wie man sie oft in
orientalischen Hafen findet, deren Tradition langst zerstort und deren neue
Gewohnheiten und Einrichtungen dem Geist einer flachen und rauberischen
Geschaftigkeit dienen. Ein paar alte, große Segelboote mit hohem Bug und
breitem Deck lagen kreuz und quer, bald halb im Wasser, bald eingesunken in
schmutzigen Sand. Es war fast menschenleer, nur auf einer kleinen
Dampfschaluppe kauerte ein Hindu im Schatten und rauchte. Er spahte
neugierig nach uns aus; als ich mich im Boot erhob, sprang er empor, rief
gellend und uberlaut ein paar Worte uber den Damm gegen die truben Fenster
eines bemalten Hauses. Sein kleines Schiffchen vermittelt den
Personenverkehr zwischen der Kuste und den Hochseedampfern, die einige
Kilometer vom Land entfernt Anker werfen, um fur zwei oder drei Stunden auf
Passagiere zu warten. Der Hafen von Mangalore selbst ist fur den Verkehr
großerer Dampfschiffe nicht geeignet.

                  *       *       *       *       *

Die ersten Eindrucke, die ich von Mangalore empfing, boten sich mir um so
abstoßender dar, als ich nach der Lebensweise der zuruckliegenden Zeit
alles mit der großzugigen Einfachheit der unberuhrten Natur zu vergleichen
genotigt war. Es kam hinzu, daß die Stadt in einem dumpfen Schlaf der
Erwartung lag und mir uberall Tragheit, Verfall und Teilnahmlosigkeit
begegneten. Der vernachlassigte Hindugasthof, in dem ich meine ersten Tage
zuzubringen genotigt war, ermutigte meine Unternehmungslust in keiner
Weise, und das qualvolle Harren auf die ersten Gewitter nahm allen und
endlich auch mir den Rest wohlbestellter Daseinsfreude. Als Mangalore nach
wenig Monaten im Glanz der Fruhlingssonne seine bunte Auferstehung feierte,
glaubte ich die Stadt nicht wiederzuerkennen. Die Unterschiede zwischen
unserem deutschen Sommer und Winter sind in ihrer Einwirkung auf das
Befinden und die Lebensgewohnheiten der Menschen bei weitem nicht so
bedeutungsvoll, wie der Wechsel der Jahreszeiten in den Tropen. Die Meinung
von dem Gleichmaß und der steten Sommerlichkeit der Witterung in diesen
Zonen, entstammt der mangelhaften Kenntnis oberflachlicher Passanten oder
einer falschen Vorstellung; wer das tropische Jahr von Beginn bis zu Ende
in der Nahe des Aquators durchlebt hat und die Menschen in Leid und Freude
seines Wechsels beobachtet hat, wird dagegen die Unterschiede unserer
Jahreszeiten in den gemaßigten Zonen als unerheblich empfinden.

Spater lernte ich vieles in Mangalore verstehen, das ich anfangs mit
Geringschatzung ubergangen hatte, manches lieben, das mir zuerst fremd und
abstoßend entgegentrat, und ich schied mit der Gewißheit aus der Stadt, daß
kein bewohnter Ort der Welt an paradiesischer Schonheit und Versunkenheit
sich mit Mangalore zu messen vermochte. Wir erlangen in unseren kurzen
Lebenstagen niemals das Maß von Erfahrung fremden Erscheinungen gegenuber,
das uns ermoglichte nach dem ersten Eindruck gerecht auf den allgemeinen
Wert zu schließen.

                  *       *       *       *       *

In einem unbeschreiblichen Zustand von Gereiztheit entschloß ich mich am
dritten Tage meines Aufenthaltes kurzer Hand den englischen Kollektor
aufzusuchen, um endlich Gewißheit uber die Moglichkeit eines langeren
Aufenthalts, uber die Wohnungsverhaltnisse und die Lebensbedingungen zu
erhalten.

Die Leute druckten sich uberall in einer mir vollig unverstandlichen Angst
um offene Antworten herum, bald furchteten sie, es mit der Regierung zu
verderben, bald mit den Priestern, selbst meine Opfer an Geld machten mir
nur den Pobel gefugig.

Das Bungalow des Beamten lag herrlich auf einem beschatteten Hugel und
erinnerte mich an einen alten Herrensitz. Der Garten war aufs beste
gepflegt, die Amtsraume sauber, kuhl und groß. Im Vorzimmer saß ein
Mischling in weißer, halbeuropaischer Kleidung an einem großen Schreibtisch
und stellte sich ungemein beschaftigt. Ich war zu Anfang so bescheiden, als
meine Nerven irgend zuließen, aber die gedankenlose Einbildung dieses
Sklaven auf seine Beziehungen zu einer Kultur, die er nicht verstand,
brachte mich auf. Ich hatte mich sicher beherrscht, wenn Panja nicht an
meiner Seite gewesen ware.

≫Stehn Sie auf, wenn ich rede≪, sagte ich.

Mein Blut kochte. Es bedarf in der Tat nur eines sehr geringen Grades von
Erregtheit, um in dieser Zeit das ohnehin vor dem Sieden stehende Blut zum
Uberschaumen zu bringen.

Der Schreiber erhob sich trage, als hatte er Blei in den Knien, aber sein
frecher, erstaunter Blick entzundete mir Feuer in den Handen, und noch ehe
er ganz auf seinen durren, braunen Beinen stand, schallte eine Ohrfeige
durch den wurdigen Raum, die ich wie einen kalten Wasserguß genoß. Ihn mag
sie anders beruhrt haben. Er drehte sich einmal um sich selbst, sein
Strohsessel machte es ihm in bureaukratischer Ergebenheit dienstbeflissen
nach, und, auf der verschonten Wange erbleichend, rang er vergeblich nach
Fassung. Die dunklere Linie seiner Abstammung besann sich auf die Gasse.

≫Ich wunsche den Kollektor zu sprechen≪, sagte ich freundlich. Es ging mir
um vieles besser, aber ich bin lange Zeit nicht fahig gewesen mir die
Rauheit dieser Handlung voll erklaren zu konnen. Sicherlich hing diese
bedachtlose Aufwallung und mein Mangel an Beherrschung mit der Verwohntheit
zusammen, in der ich fast ein halbes Jahr lang nur unter Menschen
zugebracht hatte, bei denen selbst auch nur ein Gedanke an
Gleichberechtigtheit niemals aufgekommen war, so daß mir der erkennbare
Widerstand dieses Menschen weit mehr als Uberhebung erscheinen mußte, als
er es in der Tat gewesen sein mag.

Der in zweierlei Hinsicht arg betroffene Mann begann den Kampf um seine
beleidigte Beamtenehre erst, nachdem er einen Abstand von etwa vier Metern
und einen Tisch aus gebeiztem Hartholz zwischen sich und mich gebracht
hatte. Alles an ihm war Emporung, sogar sein geoltes Haar, von dessen
glanzender Frisur das graue Leinenkappchen sich entfernt hatte, schien mir
vor Entrustung zu funkeln.

Ich nahm fur alle Falle ein schwarzes Kastchen aus Ebenholz vom Tisch, in
dem Stahlfedern, ein Radiergummi und Kupferannas mit dem Anstand geordnet
waren, mit dem eine Prinzessin Juwelen verwahrt. Dabei war ich entschlossen
das erste unehrerbietige Wort dadurch zu erwidern, daß ich dies Kastchen
als Wurfgeschoß verwandte. Ich habe einmal davon gehort, daß Bauern, deren
Felder unter anhaltender Hitze in Gefahr sind zu verdorren, den Regen durch
Kanonenschusse herbeizulocken suchen. Eine ganz ahnliche Hoffnung muß mich
damals bewegt haben, und ein verwandter Glaube. Aber es kam zu keinem Wort
und keinem Gewaltakt mehr zwischen mir und meinem Widersacher, weil die Tur
sich offnete und mit kuhlen Augen und wohlrasiertem Antlitz der englische
Beamte im Rahmen erschien und seinen Blick gelassen bald von mir zu seinem
Sklaven und bald wieder zuruck wandern ließ.

Der Abstand, in dem wir uns voneinander befanden, der Tisch zwischen uns,
die an die Wange gelegte Hand des Schreibers und meine streitsuchtige
Haltung mogen den Beherrscher Sud-Kanaras genugsam daruber unterrichtet
haben, was etwa vor sich gegangen sein mochte. Die im Tropendienst und an
ausgesetzten Posten bewahrten, gebildeten Englander haben eine
bewunderungswerte Besonnenheit in allen ungewohnlichen Lagen und verstehen
es ausgezeichnet, die Dinge zunachst einmal so zu nehmen, wie sie sind,
ohne vorschnell kundzutun, wie sie nach ihrer Meinung sein sollten. Das
zeugt mindestens von großem Selbstbewußtsein. Und so wandte der Beamte sich
mir ruhig zu und fragte hoflich, ob er in der Lage sei, durch seine
Einmischung diese Situation harmonischer zu gestalten. Dabei wies er ohne
weitere Frage auf die geoffnete Tur zu seinem Zimmer und ich trat ein, ohne
ein Wort der Beschwerde, denn ich merkte, daß dies in Gegenwart eines
Untergebenen nicht erwunscht sei. Ich sah mich gleich darauf in einem
bequemen Korbsessel einem Manne von etwa funfzig Jahren gegenuber, dessen
starke, wohlbestellte Gestalt, dessen kluges und zugleich wohlwollendes
Gesicht mir das unbedingteste Vertrauen einfloßten, und da ich etwa dreißig
Jahre junger war als er, wurde es mir leicht, ihn zu bitten, die
ungewohnliche Art meiner Einfuhrung nicht als Mißachtung gegen die
englische Regierung oder gegen seine Person anzusehen. Als ich ihm meinen
Namen nannte, sagte er mir kuhl den seinen und fragte mich, ob ich
Englander sei.

Wie wichtig den Vertretern dieser Nation diese an sich so unschuldige
Tatsache erscheint! Auf meine Antwort hin glitt ein kleiner Schatten von
Unwillen uber seine Stirn und er fragte mich, ob ich der deutschen Mission
in Mangalore zugehorte.

≫Schließen Sie das aus der Behandlung, die ich Ihrem Schreiber angedeihen
ließ?≪ fragte ich.

Er lachelte und schuttelte den Kopf, schien aber ohne weitere Erklarung aus
der Art meiner Antwort zu ersehen, daß ich seine Frage damit verneinte, und
dann wartete er. Als ich sprach, musterte er mich unauffallig, und ohne daß
sich auch nur ein Schatten von Kritik in seinen Zugen zeigte. Nach seinem
Ausdruck zu schließen, hatte ich selbst und meine Erzahlung ihm ebensogut
unausstehlich wie angenehm, oder vollig gleichgultig sein konnen. Bei einer
Pause, die ich machte, setzte er eine kleine Tischglocke in Bewegung und
gab einem eintretenden Diener einen Befehl, und gleich darauf pflanzte ein
stilles, braunes Wesen ein Tablett zwischen uns auf, das Whisky, Sodawasser
und -- Eis trug.

Mein Herz schlug in Empfindungen, wie sie nicht zartlicher fur einen Vater
hatten sein konnen, und dies Gefuhl wurde noch durch die einfache Warnung
des Kollektors erhoht, als er mich bat, mit dem Trinken vorsichtig zu
sein, da ich wahrscheinlich in Schamaji kein Eis vorgefunden hatte. Die
Geschichte mit dem Konig hatte ihm gefallen, nach einer Weile meinte er:

≫Als ich vor Jahren meinen ersten tropischen Sommer erlebte, wurde ich
nahezu ein Morder, im zweiten ein Verzweifelter und erst im dritten begann
ich wieder einem Englander zu ahneln. Sie brauchen sich deshalb nicht
besorgt zu zeigen, wenn Ihre Besinnung sie fur Augenblicke verlassen hat,
die Geduld verliert man in Indien zuerst, dann gewohnlich den Verstand. Nur
wenige finden beides wieder, aber diese pflegen sie dann auch zu brauchen.≪

Ich erfuhr damals, was ich in meiner Angelegenheit wissen wollte, und
brauchte dabei nur wenig zu fragen.

Im Amtszimmer des Kollektors fiel auch in spateren Tagen zuerst der Name
Mangesche Raos, des Brahminen. Bei diesem Klang und beim Anhoren der kurz
und ohne tieferes Verstandnis vorgetragenen Lebensgeschichte dieses Mannes,
empfand ich deutlich eine Beziehung, die weit uber Neugierde oder Interesse
hinausging. Der Beamte erzahlte mir nach und nach folgendes, anknupfend an
meine Bitte, mir in Mangalore unter den gebildeten Brahminen eine
Personlichkeit zu nennen, mit der ich nutzbringenden Umgang pflegen konnte,
und nachdem unsere Beziehung zu einiger Freundschaftlichkeit erprobt war:

≫Mangesche Rao ist unter den jungeren Brahminen Mangalores, ja Sud-Kanaras,
einer der bekanntesten, und zweifellos auch einer der klugsten. Uber seine
Gesinnung kann ich keinen Aufschluß geben, da seine Interessengebiete die
unseren nur politisch beruhren, und kaum eine andere Leidenschaft verhullt
den Charakter des Gegners vor dem Gegner mehr, als eben eine solcher Art.
Der Mann hat uns viel zu schaffen gemacht und nur deshalb, weil er das
Verstandnis und die Teilnahme seiner Kastengenossen nicht einmutig
gefunden hat, ist er uns nicht gefahrlich geworden. Da er die Universitat
von Madras besucht hat und so weit akademisch gebildet ist, als die
englischen Hochschulen in Indien es ermoglichen, hat er naturgemaß das
Vertrauen seiner Kaste verloren, dagegen lange das unsere besessen, im
Grunde allerdings niemals mein personliches. Ich war als Vertreter der
Regierung verpflichtet, ihn so weit zu fordern, als er uns nutzte, wenn er
mir aber, was damals oft geschah, in jenem Sessel gegenubersaß, den nun Sie
einnehmen, so bin ich niemals ein Gefuhl heimlicher Scheu vor der seltsamen
Undurchdringlichkeit seines Wesens losgeworden. Er erreichte bald einen
fuhrenden Posten am hiesigen englischen College, man sah ihn unter den
Jesuiten, in geheimen Versammlungen seiner Stammesgenossen und sogar im
Lager der protestantischen Mission. Ich habe nie in Erfahrung bringen
konnen, ob ihm die Sympathie, die er uberall zu erwecken schien, aufrichtig
entgegengebracht, oder ob sie ihm gezeigt worden ist, weil man ihn
furchtete.

Vor einem halben Jahre ist er entlassen worden. Ich habe nicht gewagt,
weiter gegen ihn vorzugehen, weil ich inzwischen erfahren habe, daß sein
Einfluß groß ist, und wahrscheinlich auch sein Anhang, wenn auch nicht eben
in der Provinz, so doch im ganzen Reich. Wir mussen uns wohl huten, in
diesem Lande die Strafe als Vergeltung oder Rache aufzufassen, vielmehr
durfen wir in solchen Fallen durchaus nur so weit vorgehen, als unsere
Gegner unter ihr machtloser werden. Es hatte sich folgendes ereignet. Ein
Jesuitenpater des hiesigen Klosters ließ sich eines Tages bei mir melden,
und brachte mir ein kleines, in Malayalam verfaßtes Schulbuchlein, wie sie
hier uberall in den Regierungs- und Missionsschulen nach Form und
Aufmachung Verwendung finden. Ich will Ihnen das Buch zeigen.≪

Er erhob sich und schritt im Nebenraum auf einen eisernen Schrank zu, dem
er nach einigem Suchen unter Akten und Papieren ein graues, heftartiges
Buchlein entnahm und vor mich hinlegte. Es war schmal und an drei Seiten
beschnitten, nuchtern und sachlich von Gewand und wies in der
traditionellen Anordnung eines Lehrbuchs einen Titel auf und unten die
Abzeichen der Druckerei der Jesuiten, die fur ihre Propaganda eine
Druckerei mit mehr als zehn verschiedenen Schriftzeichen der
Eingeborenensprachen unterhalten. Der Kollektor ubersetzte mir den Titel:
≫Ein Lehrbuch der vergleichenden Sprachwissenschaft uber den Zusammenhang
der Sudindischen Dialekte mit dem Sanskrit. Bearbeitet von Mangesche Rao,
Lehrer am englischen College zu Mangalore, gedruckt in der Offizin der S.
J. daselbst.≪

Der Titel und die ersten zehn Seiten des unscheinbaren Heftes wurden in
kurzen Vergleichen seiner Aufschrift gerecht, dann aber folgte eine mit
großem Verstand und agitatorischer Inbrunst verfaßte Kritik der englischen
Regierung in den Sudprovinzen, die um so aufreizender wirkte, als sie
sachlich war und eingehende Kenntnis verriet, ohne daß etwa ein
Landesverrat nachzuweisen war. Ich habe mir diese Abhandlung spater von
Panja im einzelnen ubersetzen lassen.

Der Beamte fuhr fort: ≫Der Pater erzahlte mir, daß ein Zufall zur
Entdeckung dieses Mißbrauchs ihrer Druckerei gefuhrt habe, er lehnte die
Verantwortung seines Ordens der Regierung gegenuber mit diesem
Eingestandnis ab, und teilte mir mit, daß die bestochenen Leute entlassen
seien. Auf meine Bitte, mir seinen Verdacht zu nennen, wen er fur den
Verfasser dieser Broschure hielte, erwiderte er in großer Hoflichkeit, daß
wohl ein solcher Verdacht bestunde, daß es aber nicht zu den Absichten und
Gewohnheiten seines Ordens gehore, uber Verbrechen Meinungen auszutauschen,
die nicht klar zu begrunden seien. Es war augenscheinlich: die Leute hatten
Furcht, Furcht, wie hier alle haben, die nicht dem interesselosen Pobel
angehoren. Es ist allzuoft vorgekommen, daß die eifrigsten Fuhrer einer
Partei an einem Morgen, gekrummt vom Gift ihrer Gegner, tot in ihren
Hausern aufgefunden wurden. So war es an mir, Mut zu zeigen, aber alle
unbedachte Art von Kuhnheit, die nicht von hochster Vorsicht geleitet ist,
hat hierzulande nur den Wert einer eiteln Knabenposse. Mir wurde, noch ehe
ich eine Verhandlung eingeleitet hatte, sehr unverblumt deutlich gemacht,
daß ich im Falle eines unbesonnenen Eingriffs nicht mit einem
leichtsinnigen Verbrecher, sondern mit einer machtigen Partei des ganzen
indischen Reiches zu kampfen hatte. Das steht mir weder zu, noch garantiert die Tragweite meiner Stellung mir auch nur geringen Erfolg. Ich gab den Fall an die Regierung weiter.

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