Die Herrin und ihr Knecht 25
Aber sie hielt den ernsten Blick, der immer finsterer wurde, mit ihrer
gewohnten überlegenen Lässigkeit aus. Ja, in ihr prickelte das Gefühl
des Wichtigen und des Begehrenswerten so angenehm und erregend, daß es
ihr vor allen Dingen darauf ankam, den seidenen Mantel kleidsam um sich zu
werfen und die weißen Handschuhe etwas höher über den Arm zu streifen.
Was galt ihr das in Fieberschauern zitternde Vaterland, wenn sie an die ihr
eigene geheimnisvolle Macht dachte?
»Guten Abend, Herr Leutnant,« rief der Konsul, der aufgesprungen war, aus
dem Wagen, »so spät noch im Dienst?«
Der Reiter zog die Zügel an, das Pferd stieg ein wenig, und an der Art,
wie es seinen Herrn hin und hin schleuderte, da erkannte Marianne -- selbst
eine Meisterin im Sattel -- daß der Infanterist auf diesem Gebiete seine
Lorbeeren nicht zu suchen schien.
»Nicht im Dienst,« schöpfte Fritz Harder nach dem harten Ritt Luft, und
während er die Hand hastig zum Gruß an die Mütze führte, beugte er sich
vor und ergriff in voller Erregung die Rechte Johannas. Aber seine Augen
hingen unausgesetzt an dem gleichmäßig lächelnden Antlitz seiner
Geliebten. »Ich hörte heute vormittag,« keuchte er noch immer atemlos,
»von Ihrer Fahrt über die Grenze, und da wollte ich mich unter allen
Umständen nach Ihnen umsehen. Sie wissen doch, was hier inzwischen
geschah?«
»Ja,« entgegnete Johanna, warm berührt von der Herzensangst des jungen
Mannes, indem sie kräftig seinen vertraulichen Handdruck erwiderte. »Wir
wissen es und danken Gott dafür, daß wir wieder im Lande sind. Es war
eine in dieser Zeit etwas absonderliche Unternehmung,« setzte sie mit
einem Blick auf Konsul Bark hinzu. »Wie steht es in der Stadt, lieber
Harder?«
Der Reiter hatte sein Pferd an die andere Seite des Wagens herangeschwenkt
und begrüßte nun Marianne, die den weiß behandschuhten Arm hob, als ob
sie einen Handkuß erwarte. Allein merkwürdig, auch der junge Offizier
schien gänzlich von dem drängenden Ernst der Stunde erfüllt. Er bemerkte
ihre auffordernde Bewegung gar nicht, sondern berichtete, dicht neben dem
Schlag reitend, in seinem jagenden Tone weiter:
»Meine Damen, ich bin leider für Sie der Überbringer einer unangenehmen
Botschaft. Nein, nein, es ist nichts Ernstliches,« beruhigte er sofort,
als er sah, wie sich Isa erschreckt zu ihm herumwarf, »nur die Chaussee
nach Maritzken ist für heute nacht durch unsere Pioniere gesperrt.«
»Ja, aber um Himmels willen, warum denn?« fuhr Johanna auf.
»Gott, es werden dort allerlei Ehrenpforten für den Empfang der Herren
von dort drüben gebaut, wenn sie etwa den Besuch der Damen zu erwidern
gedenken. Die Herrschaften werden für heute mit ein paar Hotelzimmern
vorlieb nehmen müssen. Und ich bitte jetzt bereits um Vergebung, weil ich
mir erlaubt habe, diese Räume für Sie im ›Deutschen Hause‹ belegen zu
lassen, denn der Andrang war heute nachmittag ein sehr großer.«
»Wie zartfühlend und freundschaftlich von Ihnen, lieber Herr Leutnant,«
sagte Johanna dankbar. »Wir machen natürlich von Ihrer gütigen
Bestellung Gebrauch.« Und in ihrer Seele legte sie sich wieder prüfend
die Frage vor: »Ob meine Schwester Marianne auch einen solchen
Mann verdient? Und ob sie das Gemüt und das Innenleben eines solch
Nachdenklichen zu würdigen weiß?«
Ehe sie sich jedoch hierüber die bang zurückgehaltene Antwort erteilen
konnte, da wandte sich jetzt der junge Offizier direkt an sie selbst, und
sein dunkles, ernstes Antlitz nahm den Ausdruck der offenen Sorge an.
»Liebes gnädiges Fräulein,« bat er, »Sie müssen mir auch ein anderes
Anliegen nicht übel deuten. Die Verhältnisse haben sich leider so
geändert, daß auf eine günstige Wendung, an die wir ja alle noch heute
vormittag glaubten, kaum gerechnet werden darf. Und da wir waffenfähigen
Männer binnen kurzem nicht mehr hier weilen werden, so ist es für mich
und gewiß für viele andere,« setzte er in Beziehung auf den Konsul
hinzu, »ein unerträglicher Gedanke, Sie dort draußen auf Ihrem einsamen
Gute ohne rechten Schutz zu wissen. Nicht wahr, ich darf mich doch der
Hoffnung hingeben, daß die Damen ihren Aufenthalt in der Stadt so lange
ausdehnen, bis die nötige Sicherheit von uns geschaffen wurde? Darin
verrechne ich mich doch hoffentlich nicht?«
»Ja, Hans,« drängte jetzt auch Konsul Bark auf die Älteste von
Maritzken ein, und der spöttische Gesellschaftston des Lebemannes war
wie weggewischt, »der Bitte unseres Freundes schließe ich mich auf
das dringendste an. In einer solchen Zeit, liebes Kind,« entfuhr es
ihm achtlos, ohne daß er die zärtliche Benennung zu verdecken suchte,
»müßten ja eigentlich all die lächerlichen Bedenklichkeiten zum Teufel
fahren. Mein ganzes Haus steht leer. Ich besitze so viele Zimmer, daß
ich ein Regiment unterbringen könnte. Wäre es nicht das
Allernatürlichste -- --«
»Nein,« schnitt die große Blonde mit aller Bestimmtheit ab, »das
verstehen Sie nicht, lieber Konsul.« Und leiser fügte sie an: »Sie sind
vielleicht allein daran schuld, daß ich Ihr freundliches Angebot für
meine Schwestern nicht akzeptieren kann. Ich selbst komme ja gar nicht in
Betracht.«
»Sie selbst nicht?« fragte der Kaufmann mit einem Schatten von
Mißfallen, das der lebhaft aufhorchenden Isa nicht entging.
»Nein,« beendete die Gutsherrin das Gespräch in der ihr eigenen
entschlossenen Weise, »lieber Freund, Sie wissen ja, wie das gemeint ist,
wir wollen keinen unnötigen Streit darauf verwenden. Nein,« wiederholte
sie völlig entschieden, »ich selbst kehre morgen auf das Gut zurück, um
dort alle Anordnungen zu treffen, die jetzt gewiß sehr nötig werden.
Aber über den ferneren Verbleib meiner Schwestern werde ich gern mit Ihnen
beraten.«
»Schön, Hans,« erklärte sich der Konsul, der seine Fassung gewaltsam
zurückzwang, in einem nicht ganz frei klingenden Gelächter zufrieden.
»Und hier,« machte er abschweifend seine Schutzbefohlenen aufmerksam,
»fahren wir bereits über die ersten holprigen Straßen. Merken Sie
die Stöße? Weiß Gott, niemals sind sie mir so vertraut und gemütlich
vorgekommen, als heute, seit wir aus dem gottverfluchten Polackennest --
na ja, über dies und vieles andere unterhalten wir uns bei dem berühmten
Fischgericht im ›Deutschen Hause‹ eingehender. Sie werden mich des
Vergnügens nicht berauben, lieber Hans, die Mitglieder meiner Expedition
noch einmal an dem runden Tisch zu vereinigen. Wer weiß, wann wir wieder
so nach altväterlicher Sitte beieinander sitzen werden! -- Langsam,
Johann, langsam.«
Und die Mahnung an den Kutscher war berechtigt. In den schmalen, schon von
den Abendschatten verhängten Gassen der ernsthaften Handelsstadt wogte
das Volk durcheinander. Überall Gedränge, überall schwarze Massen auf
Fahrdamm und Trottoiren. In den matt erleuchteten Läden lauter Disput.
Und dann -- ein merkliches Strömen und Schieben nach der Gegend der
zweistöckigen grauen Häuser hin, wo die öffentliche Meinung des
Platzes gemacht wurde, -- nach den Zeitungen. An der schwarzen Tafel des
Kreisanzeigers ein riesiges weißes Plakat mit Blaustift beschrieben:
»Deutsches Ultimatum an die russische Regierung«. Und nun, je näher man
dem Markt zustrebte, ein dumpfes Schwellen und Brausen, das manchmal sich
zu einem rastlos wirbelnden Trommelschlag verminderte, manchmal aber auch
dem Dröhnen und Toben stürzender Wellen verglichen werden konnte.
»Horch, sie singen,« sagte Isa erschauernd.
»Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.«
»Ist das nicht erhaben?« fragte Fritz Harder, dessen Antlitz schneebleich
geworden war, von seinem wiehernden Tier herunter, »die deutsche
Volksseele betet.«
Machtvoll und zwingend umfaßte dabei sein Blick Mariannens dunkle Züge,
als müsse er sie gewaltsam zu seinen eigenen Erschütterungen reißen. Und
sie? Sie lächelte, lehnte elegant in den Kissen des Wagens und knüpfte
die Bänder ihres breithin schattenden Hutes fester an dem schlanken Hals
zusammen.
* * * * *
Eine halbe Stunde später wurde leise an die Tür des Hotelzimmers
geklopft.
»Bitte einen Augenblick,« rief eine frische Stimme von drinnen.
Dann ein Hin- und Herhuschen, gleich darauf öffnete sich die hohe weiße
Pforte, und durch den Spalt lugte Marianne auf den von einer flackernden
Gasflamme erleuchteten Gang hinaus. Draußen auf dem Läufer des Flurs
wartete ein junger Offizier, die Mütze in der Linken und die Rechte auf
den Degen gestützt.
»Ach du bist es, Fritz,« flüsterte Marianne, über die Heimlichkeit der
Szene erfreut, und zog ihren Besucher eilig über die Schwelle. »Ist
das nicht reizend, daß wir hier bleiben mußten? Denke doch, ein so
unverhofftes Stelldichein.«
»Marianne!«
»St-- nicht so laut, Ihr Männer könnt Euch niemals an Diskretion
gewöhnen. Hier nebenan sind Johanna und Isa einquartiert, und wenn sich
meine Schwestern auch zum Glück bereits zu Konsul Bark in das Gastzimmer
begeben haben, so darf dich doch auch kein anderer hören. Wie denkst du
dir das eigentlich?« Und dabei schmiegte sie sich an ihn und streichelte
ihm sanft die Wangen.
Draußen aber von dem Marktplatz hob sich wieder die gewaltige Woge, die
dazu bestimmt war, ein ganzes Volk auf unerkannte Gipfel seines Daseins zu
tragen. Tausendstimmig einten sich Kampfesmut, Vaterlandsliebe,
Seligkeit und Schluchzen immer wieder zu der längst und heiß und
willig beantworteten Schicksalsfrage. Himmelan brauste der wilde, der
beschwörende Gesang, der das eiserne Gelöbnis enthielt.
Und siehe da, der junge Offizier machte sich schnell von der hingebenden
Umschlingung frei, ja es lag ein Abschütteln in der Bewegung, als er jetzt
rasch unter das Fenster trat. Einen vollen Blick sandte er auf die dunklen
wogenden Häupter dort draußen hinaus, dann wandte er sich entschlossen
zurück, und seine Stimme klang anders als sonst, kurz, gepreßt und voll
innerer Entschiedenheit, da er jetzt zu seiner Geliebten dicht an den Tisch
zurückkehrte.
»Du irrst, Marianne,« nahm er das Gespräch rasch wieder auf, »ich
besuche dich hier mit Erlaubnis deiner ältesten Schwester.« Und bewußt
setzte er noch hinzu: »Ich möchte dir übrigens gleich bemerken, daß
Johanna, seitdem ich sie näher kenne, meine volle Verehrung genießt.«
»So?« spottete die Schwarze und ließ sich in dem verblaßten roten
Plüschsessel des Hotelzimmers nieder, so daß ihr Besuch jetzt vor ihr
stand, »das ist ja äußerst schmeichelhaft für die ganze Familie. Darf
man auch erfahren, Fritzchen, was du mir in ihrem Auftrage überbringst?«
Dabei dehnte sie sich ein wenig und ließ die Spitzen ihrer schwarzen
Lackschuhe leise gegeneinander klappen. Ihr Besucher indessen wurde von den
Lockungen des Bildes nicht eingefangen. Bezwungen horchte er vielmehr
auf den Gesang, der ungeschwächt um die dunklen Umrisse der Häuser
fortbrandete, und ohne sich selbst darüber klar zu sein, so war es dem
Lauschenden doch, als ob das bessere Teil von ihm, seine Seele, gar nicht
hier drinnen in dem Zimmer weile, wo die höchsten Wünsche des Mannes
sich erfüllen sollten, sondern draußen bei den Namenlosen,
Durcheinanderwogenden, die dem in Gefahr befindlichen Vaterlande das Trostlied sangen.
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