Die Herrin und ihr Knecht 32
Das erste Mal in ihrem Leben barst der Panzer von Vernunft und Sitte
schallend über ihrer Brust auseinander. Es war ein anderes Weib, das,
ohne eine Ahnung davon, wie es im Moment mit den frei gewordenen, zur Rache
erhobenen Armen gleich einer Verkörperung ihres vergewaltigten Landes
dasaß, es war ein anderes, wutgeschütteltes Geschöpf, das da, keinen
Blutstropfen im Antlitz, mit unheimlich hervorblitzenden Zähnen zu dem
schönen Männerkopf hinaufstierte.
Das Bild sah mit seinen heißen, lebenshungrigen Augen auf das
frostgeschüttelte Geschöpf herab. Laut aufschreiend strauchelte sie und
stürzte so wie sie war, quer über das Bett. Das letzte, was sie hörte,
war das immer heftiger werdende Zischen und Schwärmen der wilden Bienen,
die mit den Köpfen summend gegen die Fensterscheiben taumelten.
* * * * *
Eine Uhr schlug. Und zur gleichen Minute richtete sich Johanna auf, um sich
die Augen zu reiben. So geregelt verfloß ihr Dasein, daß sie sich sogar
aus Schauer und Krampf pünktlich um die fünfte Morgenstunde emporraffte,
denn es war die Zeit, wo sie die Mägde beim Melken zu beaufsichtigen
pflegte. Erstaunt, ungläubig schüttelte sie das Haupt, als sie ihre
sonderbare Lage bemerkte. Im hellen Licht des Tages fehlte ihr bereits
jedes Verständnis für das schwächliche Nachgeben einer überwältigten
Natur. Derartige Dinge verachtete sie heimlich und hatte sie stets für die
Anzeichen einer überfeinerten und kränkelnden Epoche gehalten. Und jetzt
wollten ihre eigenen Nerven versagen?
Lächerlich!
Dazu war sie nicht geschaffen. Es traten jetzt soviel neue, eiserne
Aufgaben an sie heran. Mußte sie nicht versuchen, durch das Ansehen ihrer
Person die Zerstörung ihres Besitztums zu verhindern? Bildete sie nicht
den letzten Halt für ihre Untergebenen, die nur im Vertrauen auf ihren
Schutz nicht schon längst ihr Heil in einer eiligen Flucht gesucht hatten?
Während sie sich ankleidete, stieß sie unhörbar das Fenster auf und
beugte sich hinaus. Dort drüben über den dichten Weizenfeldern wallte
ein bläulicher Qualm. Schwer und massig dampfte er über die Flächen, wo
früher das Gewoge der gelben Frucht das Auge der Besitzerin erfreut hatte.
Und Johannas geschärfter Blick entdeckte sofort, daß dies bleigraue
Brodeln nicht die silbernen Gespinste des Frühnebels waren. Nein, dort
draußen unter der dichten Decke verbarg sich etwas, das ihr Herz mit
Grauen, aber auch mit lichter Hoffnung erfüllte. Vielleicht hatten die
Männer ihrer Heimat dort unten auf dem Felde bereits eine furchtbare Ernte
gehalten. Vielleicht war das Unkraut, das über Nacht aufgeschossen war,
von schwieligen Händen ausgejätet und fortgesichelt, und das Stück Erde,
auf dem sie groß geworden, der weiße Hof, dem ihr unermüdliches Wirken
gegolten, sie waren womöglich schon wieder erlöst von ihren unheimlichen,
nächtlichen Gästen. Noch gab sie sich solchen schimmernden Wünschen
hin, als vom Hof ein lautes Gepolter und fremdartiger Lärm zu ihr
heraufdrangen.
Welch ein Bild! Wie packte es mit rauhem Griff ihr aufpochendes Herz und
stieß es hin und her. Warum hatte sie den tollen Tumult, der dicht unter
ihr fessellos durcheinander quirlte, auch nur für eine Sekunde übersehen
können? Oh nein, die fremden Einlagerer waren weder versprengt noch
abgezogen. In unordentlichen Haufen, die meisten erst halb bekleidet,
standen sie gröhlend und lachend umher, und das Heu, das in Strähnen an
ihren grün-grauen Uniformstücken herumhing, bewies, wo die Mannschaften
diese Nacht eine Ruhestätte gesucht hatten. Schmerzlich verzog die
Hausherrin den Mund, als sie mit ansehen mußte, wie die feste Tür des
Kuhstalles von ein paar herkulischen Gestalten durch derbe Fußtritte
aufgestoßen wurde, und ihre Brust hob sich rascher, als sie sah, wie vier
bis fünf Kälber, jung geborenes Vieh, ohne weiteres aus ihrer warmen
Behausung herausgetrieben wurden. Jämmerlich blökten die Tiere und dann
verschwanden sie unter der dunklen Halle einer Scheune, aus der sich den
Widerstrebenden bereits blutgefärbte Fäuste entgegenreckten. Aus der
Küche erscholl lautes Zetern. Fluchende Männerstimmen schienen dort etwas
zu fordern, was sich in der Eile gewiß nicht so schnell herbeischaffen
ließ, und die Lauscherin zuckte zusammen, als das furchtsame Aufschreien
aus Mädchenkehlen an ihr Ohr schlug.
Oh, hier war die Hölle los. Alle Ordnung, jeder Respekt vor dem
Hergebrachten, den die Älteste von Maritzken in ihrem Kreise mit soviel
Mühe und Selbstaufopferung errichtet, alles das schien unter Hohnlachen
von fremden Fäusten umgestürzt und in den Kot geworfen, als hätte es
niemals das ganze Sein und Treiben hier beherrscht. Und mit einer Gebärde
des Ekels und der Verachtung stürzte Johanna an ihren Schrank, um sich ein
Gewand überzuwerfen. Eine flüchtige Minute strichen ihre Finger zögernd
und prüfend über das zarte Geriesel eines waschseidenen Stoffes, denn
eine ferne Vorstellung befiel sie von einem vornehmen Herrn und der
möglichen Pflicht, ihr Haus stattlich zu vertreten. Aber gleich darauf
schnürten sich ihre Augenbrauen unwillig zusammen, und mit einem kurzen
Entschluß und ohne auch nur einen Blick an den Spiegel verschwendet
zu haben, streifte sie ihr gewöhnliches blau und weiß gepunktetes
Kattunkleid über, schnallte den schwarzen Ledergürtel fest über den
Hüften zusammen und eilte mit einem einzigen Sprung bis zur Treppe. Allein
schon auf der ersten Stufe besann sie sich. Gewaltsam zwang sie ihre alte
Ruhe und Besonnenheit zurück. Sie strich sich eine Strähne ihres blonden
Haares aus der Stirn und stieg mit ihrem gewohnten gebieterischen Gang
die Treppe hinunter. Unten auf der Diele, dicht neben der Ausgangspforte,
blitzte der Hausherrin im Morgenlicht ein metallischer Schein entgegen. Ein
russischer Infanterist, dessen langer, rötlich-blonder Bart fast bis auf
die Brust herabhing, hielt dort mit aufgepflanztem Bajonett die Wacht,
während er einem struppigen Hund, den er an eiserner Kette hielt,
zärtlich das Fell kraute.
»Treten Sie hier zurück, damit ich herunter kann,« herrschte Johanna den
Mann mit ihrer festen Stimme an.
Der Russe hob das verschwommene gutmütige Haupt, und aus seinen
verkniffenen blinzelnden Augen brach ein Strahl von Respekt und
bedingungslosem Gehorsam. Einer solch imponierenden Frauengestalt, die
so befehlend und deutlich ihre Wünsche durch ein Zeichen der Hand
auszudrücken verstand, mußte der Slawe in seinem heimatlichen
Garnisonsnest niemals begegnet sein. Demütig hob er die zerbeulte Mütze
von seinem wilden Schopf, beugte sich und ließ klirrend das Gewehr auf
den Steinen der Diele aufstampfen. Selbst der Hund kroch murrend unter die
Stufe der Treppe.
»Ist Fürst Fergussow zu sprechen?« fragte die Blonde.
Verlegen wandte sich der Wachtposten hin und her. Sein Deutsch war so
mangelhaft, daß er sich fast nur durch Zeichen zu verständigen vermochte.
Deshalb hielt er das Bajonett auf den Hof hinaus und zeigte damit durch das
Tor.
»Weit,« sagte er.
Johanna atmete auf, und doch ergriff sie ein leichter Schrecken.
»Ist der Fürst schon abgerückt?« drängte sie weiter.
Jetzt kraute sich der Wachtsoldat hinter den Ohren, und da seine
Unfähigkeit, sich verständlich zu machen, immer mehr wuchs, so verlegte
er sich völlig auf die den Slawen so geläufige Weise der pantomimischen
Darstellung. Schallend warf er sein Gewehr an die Wange, nahm eine drohende
Miene an und tat so, als ob er mit einem fernen Gegner Schüsse wechsle.
Gleich darauf stach er mit dem Bajonett kräftig in die Luft, warf den
Oberkörper vor und stampfte so schrecklich mit den Füßen, daß sein
zottiger Hund unter dem Treppenabsatz furchtsam aufzuwinseln begann.
Johanna hatte begriffen. Sie faßte rasch nach dem Geländer der Treppe und
warf hastig hin:
»Es findet also hier in der Nähe ein Treffen statt, nicht wahr? Ist
Fürst Fergussow dabei?«
Der Russe nickte lebhaft und befriedigt.
»Schon zu Ende,« stoppelte er mühsam aneinander. »Nemzows alle hin« --
er schlug mit dem Kolben auf die Erde, schloß die Augen und streckte die
Zunge heraus -- »spitze Mützen viel zu wenig -- viel zu wenig.«
Die Gutsherrin ließ ihren Halt fahren und richtete sich auf. Nun wußte
sie, was die geschäftigen Bienen bei Tagesgrauen vor ihren Fensterscheiben
gesummt hatten. Eine kleine Schar deutscher Männer, die es versucht hatte,
die widerrechtlich Eingedrungenen zu vertreiben, sie war der Übermacht,
der stupiden Masse, erlegen. Und Fürst Dimitri, der elegante Liebling der
Petersburger Salons, der Träger der letzten und überfeinertsten Kultur,
hatte es sicherlich nicht verschmäht, seinen Degen in das Blut der halb
Wehrlosen zu tauchen. Wie selbstgefällig und von eigener Bewunderung
geschwellt er jetzt wohl dort draußen über ihr zerstampftes Weizenfeld
reiten mochte, unter dessen Halmen die verstummten Landsleute sich zum
letzten Schlafe verkrochen hatten.
Ein heftiges Gefühl des Widerwillens durchfuhr die Nachdenkende. Und
mit einer entschiedenen Bewegung wandte sie sich zur Tür, als ob sie den
Infanteristen, dessen darstellerischem Geschick ihr quälender Wissensdurst
soviel verdankte, ohne weiteres beiseite zu schieben gedächte. Indessen
der Russe bewegte wiederum bedauernd sein plumpes Haupt, knickte zusammen
und streckte in seiner kauernden Stellung sein Gewehr quer vor den Eingang.
»Was heißt das?« widersprach Johanna ungehalten, »sehen Sie nicht, daß
ich auf meinen Hof hinaus will?«
Der Posten aber schüttelte seine dichte Mähne noch stärker. »Nix,«
suchte er zu erklären, »keiner heraus.«
Da stieg eine feurige Röte in die sonst so blassen Wangen der
Gutsbesitzerin, und sich verächtlich abwendend, schritt sie ohne ein
weiteres Wort der Entgegnung an die Tür des kleinen Salons, den sie am
verflossenen Abend für den Verwundeten geöffnet, und klopfte laut an
das dunkle Holz. Zu ihrer größten Verwunderung rief Mariannes immer
gleichmäßige und ruhige Stimme: »Herein.«
Was war das?
Unwillkürlich lauschte die große Blonde, als wünschte sie den
entschwundenen Laut noch einmal zu erhaschen. Das war doch nicht möglich?!
Wie konnte das unbesonnene Geschöpf es wagen, ohne die Erlaubnis der
Ältesten den verwundeten Krieger in seinem Zimmer aufzusuchen, und zwar zu
einer Zeit, zu der die sonst immer Müde und Phlegmatische noch lange der
Ruhe zu pflegen gewohnt war? Allmächtiger Gott, war denn alles, was bis
dahin als unverbrüchliches Gesetz galt, mit dem Einrücken der Fremden
über den Haufen geworfen? Gab es nichts mehr, was in einer deutschen
Wirtschaft unverrückbar feststand, nichts Solides und Sicheres, dem man
sich williger beugte und unterwarf, als der dummen zufälligen Macht der
Hereingeschneiten?
Festen Schwunges öffnete Johanna die Tür, und so groß war die Gewalt
ihres Armes, daß das zurückfallende Holz einen schneidenden Luftzug
verursachte, vor dem der Verwundete auf dem Sofa gestört das bärtige
Gesicht verzog. Aber wie seltsam hatten sich die Züge des robusten
Rittmeisters verwandelt. Die glänzende Rundung seiner Wangen dunkelte hohl
und eingefallen, unter der aufgerissenen Uniform hob sich die entblößte
Brust schwer und rasselnd, und der schlaff herabhängende Arm zeigte die
innere Ermattung deutlicher, als alles andere. Nur die großen blauen Augen
blitzten noch ebenso wild und unstet, wie am Abend zuvor.
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