2015년 11월 30일 월요일

Die Herrin und ihr Knecht 40

Die Herrin und ihr Knecht 40



Entsetzen!
 
Für eine Sekunde fassen die drei Ernüchterten dasselbe Bild in
schonungsloser, peinigender Klarheit auf. Elegant, geschmeidig, tadellos
angezogen wie immer, lehnt Rudolf Bark hinter dem hohen Kirchenstuhl. In
dem hübschen glatten Gesicht verrät keine Blässe, kein nervöses Zucken
auch nur eine Spur von Abscheu vor seiner eigenen Tat. Nein, neugierig fast
beobachtet der Kaufmann, dessen Finger noch immer die Waffe umspannen,
die er seinem Gastfreunde aus dem Waffenrock gerissen, wie Leo
Konstantinowitsch Sassin mitten in der Stube über seinem eigenen
Mantel auf dem Rücken liegt, um mit der Rechten unter Lachen und
einem schmerzlichen Brüllen an den Uniformknöpfen oberhalb der Brust
herumzureißen. Draußen unter der Einfahrt drängt es sich schon wieder
Kopf an Kopf, obwohl keiner, von der Furchtbarkeit des Geschauten gelähmt,
es wagt, die tolle Stätte dieses blutigen Gerichts zu betreten. Stumm
recken sie die Hälse vor, um auf das zu horchen, was sich niemand
erklären kann.
 
»Oh du verfluchter deutscher Hund, du Vieh, du hinterlistiges Schwein,
so behandelst du deinen Freund? Pfui, man möchte weinen! Warte nur, du
widerlicher Affe, wie sauber dir unser Profoß die Schlinge um den Hals
legen wird. Was steht ihr hier und haltet Maulaffen feil? Hat man nicht
euer Väterchen ermordet? Schnell, nehmt ihn fest, die Rothaarige auch. Und
mir gebt zu trinken. Einen Topf Champagner. Mir ist ein wenig schlecht.
Oh, Rudolf Bark, mein bester Freund, ich wollte, ich könnte dich selbst
zappeln lassen. Ich gäbe den ganzen Feldzug darum. Pfui, du treulose,
deutsche Spinne, ich trete dir den Kopf ein.«
 
* * * * *
 
In der Gefängnistür rasselte ein Schlüssel. Und das Geräusch unterbrach
den auf dem Schemel hockenden Kaufmann in seinen rückwärts gerichteten
Gedanken. Er fuhr auf und sah nach der Uhr: es war hoch am Spätnachmittag.
Aus der Schar der vor Müdigkeit Eingeschlafenen erhob sich der kahle
Schädel des Tischlermeisters Majunke, und seine befleckten Hemdsärmel
sägten aufgeregt durch die Luft.
 
»Um Gottes willen, sie kommen,« zischte er durch die Zahnlücke,
»schnarcht nicht, Kinderchen, sie könnten es uns übelnehmen. Herr
Kowalt, verstecken Sie Ihre Peitsche, man kann nicht wissen, was sie dazu
denken.«
 
Langsam drehte sich das schwere Holz, und auf dem rot gepflasterten
Ziegelflur stand neben dem ehrfurchtsvoll geduckten Kosaken eine
schmächtige Jünglingsgestalt in grauer Uniform, dessen blasses
kränkliches Antlitz der Konsul sich besann, schon einmal gesehen zu
haben. Richtig, das war einer der beiden Fahnenjunker, der im Hause Sassins
erzählt hatte, welch ein freimütiges Testament er für seinen Vater, den
Polizeioberst in Kiew aufgesetzt hätte. Der glatt rasierte Knabe hielt
einen Bogen Papier in der Hand und sah kurzsichtig und mit blinzelnden
Augen in den dumpfen Raum, aus dem eine Wolke schwüler Hitze herausschlug.
Dann trat er auf die Schwelle, zog sich den grauen Waffenrock zurecht, und
indem er ein wenig mit der Degenscheide klirrte, gab er sich den Anschein
einer amtlichen Würde.
 
»Rudolf Bark,« rief er mit seiner gebrochenen Knabenstimme, in die er
vergeblich einen militärischen Kommandoton zu legen suchte, »ist hier der
Konsul Rudolf Bark anwesend?«
 
Der Prinzipal des »Goldenen Becher« erhob sich.
 
»Was steht zu Diensten?« fragte er kurz.
 
»Sie sind es? Ach ja,« erinnerte sich das uniformierte Kind und
errötete leicht; dann aber besann es sich und verbeugte sich förmlich.
»Unterleutnant von Karström,« stellte er sich vor.
 
Und Rudolf Bark erriet nicht allein aus dem Namen, sondern vor allem an der
flüssigen Aussprache des Deutschen, daß er einen Balten vor sich habe.
 
Der Unterleutnant blinzelte flüchtig in sein Papier und fuhr fort:
 
»Sie werden mir folgen. Ich habe den Befehl, Sie auf das Rathaus zu
unserem Kommandanten zu bringen.« Und einen Blick auf den eleganten hellen
Sommeranzug seines Gefangenen heftend, setzte er mit einer Rücksicht, die
er durchaus nicht verleugnen konnte, höflich hinzu: »Bitte bedecken Sie
sich mit Ihrem Hut.«
 
Hier zuckte der Konsul die Achsel. Und nachdem er erklärt, daß man ihn
barhäuptig hierher transportiert, da errötete der junge baltische Adlige
von neuem und schüttelte ratlos das schmale, kränkliche Haupt. Selbst den
Konsul rührte diese kindliche Unbeholfenheit.
 
»Ich werde mir mit Ihrer Erlaubnis, Herr Unterleutnant,« half er deshalb
rasch ein, »einen Hut von einem meiner Mitgefangenen ausborgen. Nicht
wahr, Herr Kowalt, Sie sind so freundlich?«
 
»Ja allerdings, bitte tun Sie das,« atmete der Balte ganz erleichtert
auf. Dabei verbeugte er sich unwillkürlich, als der Kaufmann nun mit
dem abgetragenen fettigen Hut des Pferdehändlers in der Hand an ihm
vorüberschritt.
 
Auf der Diele hatte der Kosak inzwischen von einem Stuhl einen handfesten
Strick genommen, mit dem er sich nun dem Konsul geschäftig näherte.
 
»Was soll das?« fragte der Leutnant, wobei er sichtlich zusammenschrak.
 
Grinsend deutete der Kosak auf die Hände des Gefangenen. Da warf der junge
Offizier wie beschwörend die Rechte vor.
 
»Keineswegs,« stammelte er, »davon steht kein Wort in meiner
Instruktion. Der Herr ist nicht fluchtverdächtig. Auf der Stelle wirfst
du den Strick fort.« Und sich zu dem gelassen dastehenden Rudolf Bark
wendend, versuchte der junge Mensch eine Entschuldigung anzubringen.
»Bitte vergeben Sie, mein Herr,« sagte er trotz seiner Kindlichkeit mit
einer Haltung, die ganz zweifelsfrei die gute Erziehung eines halbdeutschen
Adelshauses verriet, »das war keineswegs beabsichtigt.« Und indem er mit
dem Haupte auf den wieder zusammengesunkenen Kosaken deutete, warf er noch
eifrig hin: »Der Mann stammt aus den Donschen Steppen. Die Leute haben
dort eine ganz eigene Gerichtsbarkeit, die von der unsrigen erheblich
abweicht. Sie sollten daraus keine allgemeinen Schlüsse ziehen, mein
Herr.«
 
»Gewiß nicht,« beruhigte ihn Rudolf Bark mit einem kaum merklichen
Lächeln.
 
Dann schritten sie gemeinsam die Steinstufen herunter und befanden sich
bald in einer der nüchternen Gassen der Vorstadt. Aber wie hatte sich das
Gepräge dieses sonst so regen Handelsplatzes verändert! Es versetzte
dem Kaufmann, in dem doch selbst die Sorge vor der Zukunft brütete, einen
Stich ins Herz, als er die auffallende Verwandlung feststellte. Obwohl
noch lange nicht die Stunde des allgemeinen Ladenschlusses angebrochen
war, hatten die kleinen Gewerbetreibenden überall Jalousien und
Lattenverschläge vor ihre Auslagen gezogen, und die Straßen selbst
schienen von den Eingeborenen wie ausgestorben. Kein bekanntes Gesicht
wollte sich zeigen. Dafür wimmelte jedoch die fremde Soldateska gleich
einem schwarzen Ameisenhaufen durcheinander, immer neue Truppen zogen
singend von den Landstraßen aus herein, und man sah es den befriedigten
Gesichtern an, daß ihnen die Besetzung dieser ehemaligen Festung, die
längst ihre Bedeutung verloren hatte, als ein nicht zu unterschätzender
Erfolg galt. Lange Züge von Infanterie wechselten mit Munitions- und
Artilleriekolonnen, und von dem Klirren der schweren Geschütze auf dem
schlechten Pflaster bebten die kleinen leichtgebauten Häuschen. Aber auch
andere Fuhrwerke kamen ihnen aus der Stadt entgegen, deren Ladung, obwohl
die Wagen von Soldaten gelenkt wurden, durchaus nicht dem kriegerischen
Bedürfnis entsprach und deshalb die regste Verblüffung von Rudolf Bark
hervorrief. Ohne um Erlaubnis zu bitten, hielt der Kaufmann plötzlich in
seinem Weg inne und wies mit der Hand auf einen mächtigen Leiterwagen,
auf dem die tollsten Dinge widerspruchsvoll übereinander gepackt waren.
Seidene Möbel, eiserne Geldschränke, ein umfangreicher Benzinmotor,
ungeheure Berge bescheiden angefertigter Konfektionsanzüge, Mehlsäcke,
ja sogar ein Klavier hatte man zwischen die Leiterbäume gepreßt, und die
drei kutschierenden Soldaten beschäftigten sich eben damit, vorn auf dem
Bock die Keule eines rohen Schinkens gemeinschaftlich mit ihren starken
Zähnen zu benagen und zu zerreißen.
 
»Was ist das?« stieß der Prinzipal des »Goldenen Bechers« beinahe der
Sprache beraubt, hervor.
 
Doch der junge Russe antwortete nicht. Flammend rot waren seine blassen
Wangen übergossen, und in seiner Scham und Bestürzung vermochte er nur
fast bittend hervorzubringen:
 
»Mir sind die Gewohnheiten der Intendantur unbekannt, ich weiß nicht, was
das bedeutet. Aber bitte, mein Herr, wollen Sie mir rasch folgen, denn ich
habe Sie bis um sieben Uhr auf dem Rathause abzuliefern.«
 
Eiligst schritt der gedemütigte Knabe voran, und so wild entfernte er
sich durch ein Seitengäßchen von der großen Fahrstraße, daß dem Konsul
bereits der Gedanke an Flucht durch den Kopf schoß. Freilich, ein Blick
auf das viele Militär, das da und dort unbeschäftigt vor den Häusern
herumlungerte, ließ ihn einen solchen Plan als gänzlich aussichtslos
sofort wieder verwerfen. So gelangten sie vor das Gebäude des Magistrats,
das mit seinen mittelalterlichen, im Artus-Stil gehaltenen Lauben und
Bogengängen fast gänzlich die eine Schmalseite des Platzes einnahm. Vor
dem Haupteingang schilderten zwei russische Infanteristen. Sie hatten
ihre Uniformen der noch immer herrschenden Hitze wegen über der Brust
aufgerissen und unterhielten sich laut und ungeniert miteinander. Aber das
war es nicht, was dem Konsul das ungeheure Erlebnis, das seit gestern über
die Stadt dahingebraust war, so schmerzhaft zur Erkenntnis brachte. Es
war etwas anderes. Unwillkürlich zuckte er zurück und griff sich an die
Stirn. Nein, er träumte nicht; -- oben von der Krönung des Torbogens war
das Wappenschild des preußischen Adlers herabgerissen und lag jetzt auf
dem Fahrdamm in der Gosse, wo das schwarzgelbe Spülwasser schwammig über
das Symbol der Staatshoheit hinweggurgelte. Hunderte von Malen war Rudolf
Bark achtlos an dem schwarzen Wappentier vorübergeeilt. Ja, wenn man ihn
genau befragt hätte, so hätte er nicht mit absoluter Sicherheit angeben
können, ob dort oben über den gotisch gerillten Bogen überhaupt
eine derartige Verkörperung des Staates gethront habe. Jetzt aber, wo
absichtliche Geringschätzung, wo eine gemeine Freude an der Erniedrigung
anderer das alte Ideal in den Kot geschleudert, da krampfte es sich in
seiner Brust zusammen, und etwas von jenem ihm bisher ganz fremden Haß
wuchs atemraubend empor, von jenem wilden, unerbittlichen Völkerhaß, der
fortan über den Gemeinschaften der Erde wie ein riesenhafter, alles Licht
überschattender, Geier schweben sollte. Mit geschlossenen Augen schritt
er unter der grün-weißen Fahne hindurch, die jetzt die Stelle des alten
Wappens einnahm, und während er mit seinem jungen Führer die breiten,
ausgetretenen Steinstufen heraufstieg, da errechnete sich sein zählender
Verstand, daß er jetzt selbst an der Pforte der Vernichtung angelangt
sei. Was war da noch lange zu überlegen? Wozu nach Auswegen suchen? In der
ersten Stunde dieses niederträchtigen Überfalls hatte er auf einen bei
ihm einquartierten Offizier der Besatzungstruppen gefeuert. Möglicherweise
war der Verwundete sogar schon seinen Verletzungen erlegen. Da wurde er
eben vor ein Kriegsgericht geschleppt, und wie das in dem Machtbereich
des weißen Zaren seines Amtes zu walten pflegte, darüber gab sich der
Kaufmann keinem Zweifel hin. Vielleicht erwartete ihn schon hier der
fertige Spruch. Nun gut, da nahm er wenigstens die Genugtuung in das
Unbetretene mit hinüber, auch ohne eine militärische Charge seiner
Mannespflicht gegen ein schutzloses deutsches Mädchen genügt zu haben.
Ein wärmendes Gefühl der Befriedigung überkam ihn, als er jetzt vor der
bunten Glastür des Beratungssaales an Isa dachte. Wahrhaftig, er hatte
recht wie ein Vater gehandelt. Wie ein zurückhaltender reifer Mann
einem kleinen zierlichen Mädchen gegenüber. Und er genoß ein seltsam
prickelndes Wohlbehagen, als er sich vorstellte, wie der Rotkopf mit den
leuchtenden Goldaugen später, viel später, wenn er längst unter einem
Galgen vermodert war, Kindern und Kindeskindern dankerfüllt von ihrem Retter erzählen würde.

댓글 없음: