Die Herrin und ihr Knecht 31
Sie hörte seine Sporen noch auf den Stufen klirren, als sie bereits zu ebener
Erde vor einer breiten Tür stehen blieb, um dann durch einen Schlüssel
des mitgebrachten Bundes das Schloß zu öffnen. Allein noch war das
Räuspern und Winden des Schlüssels nicht ganz verklungen, als hinter
der Abgewandten eine hohle Stimme sich bemerkbar machte, die mit größter
Anstrengung Mark und Tiefe in ihr Organ zu zwingen suchte.
»Ah =bon soir=, schönstes Fräulein,« röchelte es in gebrochenen
Lauten.
Johanna kehrte sich betroffen um, und bei dem trüben Lampenlicht, das vor
der einströmenden Luft zuckte und flimmerte, fing sie mit Schauder auf,
wie neben dem Eingang ein bärtiger Mann zusammengesunken auf einem alten
zerfetzten Bauernstuhl hockte, den die Russen scheinbar von weit her
mitgeschleppt hatten. Über dem grauen Mantel hatte sich ein verkrustetes
Blutrinnsal gebildet, und aus dem breiten Gesicht, das einen fahlen
Widerschein von sich gab, leuchteten ein paar funkelnde, bösartige Augen.
»Diese Schweine,« fuhr die hohle Stimme mit zitternden Schwankungen fort,
»Sie haben mich festgebunden, sonst würde ich aufstehen. Ganz gewiß. Leo
Konstantinowitsch Sassin weiß, was er schönen Damen schuldet.« Und dann
versickerten die schwächlichen Laute, und Johanna fühlte beschämt,
wie die brennenden Augen des Verwundeten spürend an ihrem weißen Gewand
herumtasteten. »Aus dem Bett geholt?«, keuchte der Blutende und richtete
einen seltsamen Blick auf den Fürsten Fergussow. »Dieser verfluchte
Krieg, wir wünschen ihn nicht.« Aber gleich darauf warf sich der
Rittmeister so gut er konnte, zu den ihn umstehenden Soldaten herum und
schrie wütend, so daß es jetzt wirklich durch das Haus gellte: »Schert
euch endlich zu einem Arzt, ihr Müßiggänger. Wollt ihr mich hier noch
länger anstarren? Und Sie, Durchlaucht, verschaffen mir vielleicht durch
Ihre vorzüglichen Verbindungen ein Sofa oder eine Chaiselongue. Ich
brauche nur ein paar Stunden Schlaf. Sie sollen sehen, nichts weiter. Oh,
dieser verwünschte deutsche Heuchler, wenn ihm doch heimgezahlt würde!«
Wie ein Traum, rasch, schemenhaft, wesenlos, glitt von nun an alles an
der Gutsherrin vorüber. Sie sah, wie der Kranke auf seinem Stuhl von zwei
Soldaten in das geöffnete Zimmer getragen wurde und spürte die schwere
stickige Luft, die aus dem Raum herausschlug, weil es eines jener
Staatsgemächer war, die mit verhängten Fenstern fast das ganze Jahr
unbenutzt in dunklem Schlafe lagen. Ihr war es so, als ob der Verwundete
auf das veilchenblaue Samtsofa gebettet würde, und vorüberfliehend
preßte die Erwägung ihr hausmütterliches Herz zusammen, wie sehr das
kostbare alte Ebenholzmöbel unter der beschmutzten Kleidung des Mannes
sowie vom herabrinnenden Blute leiden müßte. Ihr schien es, als ob die
junge Frau des Verwalters Baumgartner, die ihr halbwüchsiges Töchterlein
an der Hand führte, von ein paar rohen Männerfäusten zur Bedienung des
Kranken über die Schwelle gestoßen wäre, und für einen hinzuckenden
Moment erkannte sie die bleichen Züge der beiden halb Bekleideten, in
denen ein starres Entsetzen lauerte. Dann fand sie sich selbst vor dem
mächtigen Bauernschrank auf dem Flur, aus dem sie Leinenstoffe und
allerlei Verbandzeug herausgab.
Aber plötzlich wurde alles still, der Lichtschein entschwand hinter
der geschlossenen Tür, und nur ein paar nahe, regelmäßige Atemzüge
verrieten ihrem herumtastenden Bewußtsein, daß sie jetzt mit dem Fürsten
Fergussow allein in der Finsternis weile. Empfindlich schauerte sie
zusammen, denn sie glaubte den fremden Atem ganz dicht an ihrem Nacken zu
spüren.
Da lief unvermutet ein neuer Lichtbach die Treppe herunter, und in dem
huschenden Schein sah Johanna, wie der Russe sich zusammenraffte, um
grüßend die Hand an die Mütze zu führen. Über die obere Galerie beugte
sich Marianne herab, und aus ihrem Nachtkleid dämmerten die entblößten
Arme voll und wohlgeformt hervor, so daß selbst die widerstrebende
älteste Schwester innerlich zugeben mußte, selten ein lockenderes Bild
erschaut zu haben. Allein nur eine Sekunde konnte bei der Umsichtigen eine
derartige Erwägung dauern, denn kaum hatte sie festgestellt, mit welch
bewunderndem Glanz sich die Augen des fremden Offiziers erfüllten, da
klang es bereits hart aus ihrem herrischen Munde hervor:
»Marianne!«
»Was willst du?«
»Du siehst, wir haben Einquartierung erhalten. Begib dich auf dein Zimmer
zurück und schließe hinter dir zu.«
Aber der verbindliche Gruß des fremden Offiziers mußte auf das schöne
Geschöpf in dem losen Nachtkleid dort oben durchaus die gewünschte
Wirkung hervorgebracht haben. Um ihren Mund huschte ein wohlgefälliger
Zug, sie schien weit davon entfernt, auch nur die winzigste Vorstellung
von dem Jammer zu besitzen, der nicht allein ihre bisherige Wohnstätte,
sondern doch sicherlich auch die ganze Umgegend betroffen hatte. Mit
einer feinen Biegung verneigte sie sich zum Abschied vor dem fremden
Eindringling, und während sie sich bereits von der Galerie abkehrte, da
warf sie über die Schulter noch einen ihrer samtweichen Blicke zurück.
Es war ganz die Art, wie wenn sich eine Tänzerin nach dem Ball von ihrem
Kavalier zögernd und vielsagend trennt. Gleich darauf klang langsam und
ohne sonderliche Eile die Tür. Es wurde wieder dunkel.
»Ich werde Licht holen,« äußerte die klare, grobe Stimme Johannas.
Fürst Fergussow griff in seine Manteltasche, zog eine kleine elektrische
Laterne hervor und drückte den Knopf. Sogleich strahlte ein runder,
goldiger Kreis auf, in dessen Mitte das starre Haupt der Nemza in einer
steinernen Weiße hervorschimmerte.
Und als der elektrische Blitz sich in den Augen der vom blendenden Licht
Umrahmten spiegelte, da fuhr der Beobachter zurück vor der eisernen
Grausamkeit, die dort unversteckt funkelte und glitzerte.
»Pfui Teufel, zwei beleuchtete Messer,« dachte der Fürst widerwillig.
Und seit dieser Erkenntnis hegte er nur den lebhaften Wunsch, die
unwillkommene Gesellschafterin rasch von sich abzuschütteln. Ohne weitere
Überlegung sagte er deshalb in seinem in Höflichkeit erstarrten Ton:
»Ich würde es mir nie verzeihen, Sie noch länger aufzuhalten. Gute
Nacht.«
Auch Johanna verbeugte sich und wollte aus der halbangelehnten Eingangstür
in die Dunkelheit herausschreiten, der Offizier jedoch vertrat ihr
plötzlich den Weg.
»Gestatten Sie, daß ich noch eine Form erfülle. Mein Wachtmeister hier
wird Sie auf Ihren Gängen zu Ihrem Schutz begleiten.«
»Ich bin also eine Gefangene?« stockte Johanna mit bitterem Lächeln.
»Wie gesagt, es geschieht nur zu Ihrer Sicherheit. Alles Nähere werden
wir dann morgen erörtern. Bis dahin, gute Nacht, meine Gnädige, und
nochmals verzeihen Sie die Störung Ihrer Ruhe.« Und achselzuckend setzte
er hinzu: »Der Krieg ist leider ein Handwerk, das sehr gegen meinen
Geschmack mit groben Mitteln arbeitet.«
Er verbeugte sich leicht, und Johanna bemerkte noch im Zurückblicken, wie
die schlanke Gestalt in das bereits erleuchtete Zimmer schritt und achtlos
ihren durchnäßten Mantel über einen Schaukelstuhl schleuderte. Dann
entzündete der Fürst sich eine Zigarette und begann flüchtig in den
auf dem Tisch herumliegenden deutschen Journalen zu blättern. Die weißen
Dampfwolken umschwebten ein apollinisch geschnittenes Antlitz.
* * * * *
Die Älteste von Maritzken saß in ihrer leichten Kleidung wieder auf dem
Bettrand, um mit Aufbietung aller Sinne jedem Geräusch nachzuspüren,
das von Hof und Haus zu ihr heraufschlug. Und die Nacht verschärfte und
verzerrte alle Töne, die sonst für die Lauschende keinen Sinn aufgewiesen
hätten und schob ihnen eine schreckhafte Deutung unter. Bald quoll ein
wüstes Ächzen und Fluchen durch die Dielen des Fußbodens empor, und
Johannas aufgeregter Geist malte sich aus, wie der Rittmeister Sassin,
nur durch ein paar dünne Planken von ihr getrennt, jetzt gewiß schon
mit einem tobenden Wundfieber rang. Herrgott, die Frau ihres Verwalters
Baumgartner war ja gezwungen worden, dort unten hilfreiche Hand zu leisten.
Und hatte die notdürftig Bekleidete nicht auch ihr blutjunges Töchterchen
bei sich gehabt? Wenn nun den Beiden von rohen Soldatenfäusten etwas
Beschämendes widerführe!?
Wild begann ihr das Herz bis in den Hals zu schlagen, jedoch ehe sie diese
aufregende Gedankenreihe noch erschöpfen konnte, da wurde sie durch die
Erinnerung an ihren Verwalter schon wieder auf eine neue Bahn gehetzt. Ob
Baumgartner noch immer nicht zurückgekehrt war? Sie beugte sich über die
kleine Uhr auf dem Nachttisch und fuhr zusammen, als sie bemerkte, daß
bereits die zweite Stunde des Morgens angebrochen sei. Durch die Vorhänge
stahl sich schon ein mattes Grauen und Dämmern herein. Der Frühwind
sauste in den Eichenkronen, und hier und da erhob sich das vorzeitige
Zirpen eines träumenden Vogels. Aber durch all diese Anzeichen des
Erwachens drang etwas anderes hindurch, etwas so Fernes, Verschwommenes,
daß sich die Einsame aufs äußerste anstrengen mußte, um überhaupt
das in der Weite vollkommen versickernde und verschwimmende Geknister
unterscheiden zu können. Abermals griff sie in die Kissen, jedoch mehr um
sich festzuhalten, und starrte unverwandt auf die geschlossene Gardine, als
ob das leise sich bewegende Leinen kein Hindernis für sie böte. Wenn sie
ihr Gehör bis zur Schmerzhaftigkeit spannte, dann schlug von draußen ein
gedämpftes Rasseln bis an ihr Lager, rasch aufeinanderfolgende Laute, die
sich wie das Klappern über Treppenstufen herabrollender Erbsen anhörten.
Großer Gott, das kämpfende Weib begriff plötzlich, was das gleich
bleibende Geknatter zu bedeuten habe. Nun, da sie das weiße Kissen in
ihren arbeitsgewohnten Fäusten zerkrampfte, jetzt, wo sie lauschte und
lauschte, atemlos, jeder Bewegung beraubt, gleich einem Sünder, dem man
die letzte Stunde verkündet, da stürzte es plötzlich zerschmetternd auf
sie herab. Die ganze unnennbare Erkenntnis von Zerfleischen, Untergang,
Mord, Umpflügen und der entsetzlichen Wertlosigkeit des bisher so
ängstlich behüteten Einzeldaseins. Vor Wut und Grauen hätte sie laut
aufheulen mögen. Ihr gestraffter Körper warf und spannte sich, als
müßte sie ihn zur Verteidigung von etwas Letztem, Kostbarstem, einem anstürmenden Bedränger entgegenschleudern.
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