Die Herrin und ihr Knecht 4
Auch heute drängte es die Selbstsichere, ihre Sorgen gewissermaßen
durchrechnen zu lassen, denn sie fühlte sich entlastet, sobald ihr eigenes
Urteil die Unterstützung des Vielerfahrenen fand. Nicht leicht schien
ihr im Augenblick die Einleitung zu fallen, ja, der Konsul merkte, wie das
große, kräftige Mädchen -- die Heroine, wie er sie manchmal heimlich
nannte -- ihre Blicke befangen vor den seinigen zu dem braunen Teppich
heruntersenkte. Endlich jedoch schlug die Sitzende mit einer raschen
Bewegung ihren Schleier in die Höhe, und wieder entzückte den
Großkaufmann jene merkwürdige Blässe, die er schon so häufig angestaunt
hatte. Ganz eigenartig hoben sich die tiefdunklen blauen Augen von dem
matten weißen Grunde ab.
»Hören Sie, Herr Konsul,« sprach Johanna endlich, indem sie mit aller
Kraft die Gedanken auf ihr Ziel zu sammeln versuchte, und dabei schlug
sie die dunklen Augen so fest und ehrlich gegen ihn auf, daß der Mann
plötzlich ein eigenes Schwanken spürte. Es blieb immer dasselbe. Diese
große königliche Erscheinung, die sich über die Schwächen und Wünsche
ihres Geschlechtes sicherlich weit erhoben hatte, sie machte es ihm
manchmal wirklich nicht leicht, die gleichgültige Ruhe des kühlen
Geschäftsfreundes zu wahren. Schweigend lehnte er dicht neben ihr gegen
die Platte des Schreibtisches und sah sie aufmerksam an. »Hören Sie,
lieber Konsul,« begann Johanna von neuem, »ich muß Sie schon wieder
einmal mit einer Angelegenheit behelligen, die mir lebhafte Besorgnis
einflößt. Sie wollten es damals nicht glauben, aber ich habe doch recht
behalten.«
»Sie behalten immer recht, lieber Hans,« sagte der Konsul verbindlich.
»Nein, nein, scherzen Sie nicht. Diesmal wird es wirklich Ernst. Und da
ich ja keine Mutter und leider auch im eigentlichen Sinne keinen Vater
besitze,« fügte sie mit kurzem Atem an, »so wende ich mich eben an Sie.
Ich habe Vertrauen zu Ihnen.«
Der Konsul wollte etwas erwidern, aber von ihrem merkwürdig dunklen
Blick getroffen, brachte er es nur dazu, ihr warm und zustimmend die Hand
entgegenzustrecken. Dann forschte er schnell:
»Also um was handelt es sich, liebster Hans? Spannen Sie mich nicht
länger.«
Merkwürdig, die Älteste von Maritzken schien keineswegs zu spüren, wie
die Hand des Mannes noch immer auf der ihren ruhte. Sie fuhr unbekümmert
fort:
»Gestern abend saß ich auf der Wiesenbank vor den drei Statuen der
römischen Kaiser --«
»Aha,« unterbrach der Zuhörende, »die Stelle muß man sich merken, das
ist offenbar Ihr Lieblingsplatz.«
»Ja, ich sitze gern dort. Aber gestern wurde mir der Ort auf lange Zeit
verleidet. Denken Sie sich, Konsul Bark, -- es fällt mir sehr schwer,
Ihnen dies alles zu gestehen -- als ich meine Blicke ganz absichtslos
über die weite grüne Wiese richtete, auf der gerade ein junger Hase
seine komischen Männchen machte, da sah ich ganz hinten am Waldsaum meine
Schwester Marianne mit einem Fremden schreiten.«
»Weiter,« forderte der Konsul interessiert.
»Die Gestalten waren nur zwerghaft klein, aber ich erkannte den
Eindringling trotz alledem, obwohl er nicht Uniform angelegt hatte.«
Jetzt richtete sich der Kaufmann schnell auf, zog ein wenig an seinem
braunen Jakett und bewegte dann abschätzend die flache Hand hin und her.
»Es war natürlich Fritz Harder,« äußerte er bestimmt.
Das stolze Weib in dem Sessel nickte. Dann aber schlug sie verstört die
Augen nieder, und ihre ganze Gestalt beugte sich zusammen, als ob sie von
einer körperlichen Last zu Boden gedrückt würde.
»Lächeln Sie nicht, Herr Konsul,« sagte sie matt, »ich bin über das
Alter hinaus, als daß ich gegen eine ehrbare Annäherung etwas einzuwenden
hätte.« Und als der Konsul eine Bewegung machte, wie wenn er sie nicht
verstände, stieß sie plötzlich anmutig hervor, und ihre Stimme tönte
laut und grollend: »Das war es aber nicht. Gegen diese stürmischen
Liebkosungen in der dunklen Stille eines Haselnußhaines muß ich
Einsprache erheben. Das kann und will ich nicht dulden. Denn nach dem,
was schon einmal bei uns geschehen, muß ich mehr wie jede andere darauf
achten, daß unserem Hause der landläufige Respekt entgegengebracht
wird.«
Die zusammengekauerte Gestalt ließ ihre Arme zwischen die Knie herabsinken
und riß sich alles Weitere matt und dumpf von der Seele los, wie wenn sie
mit sich selbst zürne, daß sie so Verschwiegenes offenbare.
»Glauben Sie mir, lieber Freund, meine Rolle fällt mir nicht immer
leicht. Ich weiß, die Mädels hassen mich, weil ich ihnen so vieles
versagen, und häufig wie ein Polizist vor ihnen auftauchen muß. Aber
Sie, Konsul Bark, Sie kennen meine Beweggründe. Ich habe es nun einmal
übernommen, aus dem großen Zusammenbruch zu retten, was irgend möglich
war, und bin darüber alt geworden.«
»Na, na, Hans,« schob hier der Konsul lächelnd ein.
Er dachte daran, daß diese Achtundzwanzigjährige in ihrer kalten,
abweisenden Schönheit ein Weib sei, das alle Ansprüche aufgegeben habe
zu reizen, zu gefallen und zu bestricken, ein Geschöpf, das in klarer
Erkenntnis seiner harten Fron allmählich sich selbst vergessen hatte. Und
doch -- der schlanke Mann in dem eleganten Promenadenanzug warf unbemerkt
einen spähenden Blick auf seine Besucherin -- ob wirklich alle Wünsche
in diesem stolzen Leib erstorben und verlöscht waren? Und in der
vorüberhastenden Minute, während seine Augen, die Frauenschönheit so
sehr aufzuspüren verstanden, über den gebeugten Mädchennacken glitten,
da gestand sich der reife Mann, daß gerade die starke Neugierde, jenes
tief verschlossene Geheimnis zu lösen, ihn so dauernd an das frostige,
marmorharte Geschöpf da vor ihm fesselte. Und mit einem gewissen Unwillen
empfand er auch, wie schwer und unbequem es sei, sich selbst immer in
so respektvoller Entfernung zu halten. Ja, es war sehr schwer, denn er
erkannte ganz klar, eine einzige unvorsichtige Andeutung, das Verlassen
der unverfänglichen und korrekten Beziehungen mußte die Ahnungslose
dort sofort empört und enttäuscht von dannen treiben. Und vor diesen
Enthüllungen scheute sich der Frauenkenner. Nein, nein, die großen
scharfen Augen der Heroine von Maritzken wollte er nicht im Zorn auf sich
gerichtet fühlen. Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, hegte er eine
heimliche und ihn doch quälende Abneigung davor, das Unverdorbene, das
Heilig-Jungfräuliche dieses abgeschlossenen Lebens zu stören. So nahm
er auch jetzt nur in verborgener Bewunderung die köstliche Weiße ihres
Nackens wahr, laut aber sprach er sehr ruhig und überlegt zu der in sich
Versunkenen herunter:
»Also, lieber Hans, mir scheint, Sie sehen da wieder etwas zu dunkel. Wenn
Sie auf mein Urteil irgendein Gewicht legen, so meine ich, was sich da in
der lauschigen Dämmerung des Haselnußhaines abspielte, das waren eben
die landläufigen Vorboten einer regelrechten Verlobung. Oder glauben Sie
berechtigt zu sein, es anders aufzufassen?«
Auf diese Frage richtete sich Johanna unvermittelt auf und strich sich
die spröde Seide über ihrer Brust zurecht. Zum erstenmal lief über ihre
immer so schneeigen Wangen ein leichtes Rot.
»Ich weiß nicht,« versetzte sie ungewiß, mit sich selbst kämpfend,
»ich will es hoffen, obwohl meine Schwester Marianne -- ich spreche zu
Ihnen ganz rückhaltslos, lieber Konsul -- für meinen Geschmack etwas viel
zu Nachgiebiges und Entgegenkommendes besitzt. Aber selbst wenn sich Ihre
Ansicht bewahrheitete,« fuhr sie überlegend fort, »dann halte ich es
für schicklich, daß sich der junge Offizier zuerst an mich gewendet
hätte.«
»Liebe Johanna,« begütigte der Konsul, »Sie klammern sich da an eine
etwas altmodische Auffassung.«
»Nun ja, Sie mögen recht haben, ich bin eben mißtrauisch und wittere
hinter allen Menschen zuvörderst irgendeine verborgene Absicht. Das Leben
hat mich allmählich so geformt. Sie müssen mir das nicht übel deuten,
lieber Freund, Ihnen gegenüber fällt das ja alles fort. Und nun die
Hauptsache: Glauben Sie wirklich, daß Fritz Harder der geeignete Mann
wäre, um eine so dauernd nach Glück und Glanz verlangende Natur wie
Marianne befriedigen zu können?«
Der Konsul zuckte die Achseln.
»Gott, Sie werden nicht leugnen,« versetzte er endlich abschätzend,
»daß er ein hübscher, flotter Bursche ist und, wie ich annehme, auch ein
aussichtsvoller Offizier.«
Die Älteste von Maritzken rückte hastig mit ihrem Stuhl.
»Glauben Sie das wirklich?« entgegnete sie mit wenig überzeugtem Ton.
»Das gerade möchte ich bezweifeln. Mir gefallen Männer nicht, die nicht
vollkommen von ihrem Beruf ausgefüllt werden. Sehen Sie, was hat sich ein
junger Leutnant für schweres Geld einen Flügel zu kaufen, um nun halbe
Nächte lang auf ihm herumzuphantasieren? Er komponiert ja auch.«
»Na, Hans,« beruhigte der Konsul, »die Vergnügungen in einer mittleren
Garnison sind ja nicht allzu abwechslungsreich. Wenn er sich nur mit dieser
Art von Spiel befaßt, so wollen wir ihn deswegen nicht verurteilen.«
Aber die Gutsherrin war nicht so leicht abzuweisen.
»Schön,« gab sie zu, »aber der junge Mensch hat leider überhaupt etwas
Dilettierendes. Wie Sie wissen, versucht er sich auch in der Ölmalerei.
Er bringt zwar ganz nette Porträts hervor, aber wie sich dies alles mit
seinem eigentlichen Beruf vereint, das begreife ich nicht. Und um wahr zu
sein, es erregt mir Mißbehagen.«
Hier wagte es der Konsul, der leidenschaftlich Sprechenden begütigend,
fast väterlich die Wange zu streicheln. Aber diesmal wurde es von der
Besucherin aufgefaßt. Mit einer herben Bewegung schob sie seine Finger
zurück. Dann forderte sie noch einmal:Teilen Sie meine Bedenken?
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