2015년 11월 26일 목요일

Friedrich Nietzsche in seinen Werken 23

Friedrich Nietzsche in seinen Werken 23



Die Menschen des Geistes erscheinen nunmehr als
die Kranken und Entnervten, als die _Niedergangstypen_ eines jeden
Zeitalters. Der von Nietzsche so geliebte und verherrlichte Philosoph,
der bei den Griechen die Lehre von der Herrschaft der Vernunft über
die Naturinstinkte vertrat, Sokrates, wandelt sich ihm damit wieder
zu der gefährlichen und geschmähten Versucher-Gestalt, die er für
Nietzsche zur Zeit der Schopenhauerischen Periode war. Sokrates, der
Hässliche, Missgestaltete unter den vornehmen, wohlgebildeten Griechen,
trat unter ihnen auf als der erste grosse Decadent, er corrumpirte
und verschnitt den ursprünglichen hellenischen Lebensinstinkt, indem
er ihn der Vernunftlehre unterwarf (Vergleiche Götzen-Dämmerung II
»Das Problem des Sokrates«). Darin ist er das Urbild aller Denker,
die das Leben durch das Denken meistern wollen, aber wie sie Alle
beweist er damit Nichts gegen das Leben, sondern nur Etwas gegen das
Denken. Denn wenn auch bisher alle Philosophen zur Missachtung des
Daseins, zur Erschlaffung der lebenerhaltenden Instinkte beigetragen
haben, so spricht sich darin nicht eine Wahrheit hinsichtlich des also
geringgeschätzten Lebens aus, sondern nur der Widerspruch, in den sie
mit sich selber gerathen sind, als das charakteristische Symptom eines
Krankheitszustandes. Es lehrt nur, dass die Menschen des überwiegenden
Intellekts sich von der Lebensquelle, die auch ihrem Intellekt erst
Nahrung zuführt, abgekehrt haben, dass sie Abgelebte, Müde, Spätlinge
niedergehender Culturen sind, dass sie in sich nicht mehr die
sieghafte, heilende, umformende Kraft besitzen, welche über die Schäden
und Lücken des Daseins triumphirt und dasselbe zu höherer Entwicklung
weiterführt. Ihnen allen gilt daher die argwöhnische Frage: »Waren sie
vielleicht allesammt auf den Beinen nicht mehr fest? spät? wackelig?
ddcadents? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden als Rabe, den
ein kleiner Geruch von Aas begeistert?...« (Götzen-Dämmerung II 1.)
 
Aber nicht nur ihnen gilt diese Frage, denn sie repräsentiren nur die
äusserste Spitze dessen, worin die ganze Entwicklung der Menschheit
gipfelt. Der stumpfen und dumpfen Einheitlichkeit seines ursprünglichen
Thierbewusstseins entrissen, ist der Mensch durch die Weiterbildung
seiner Geistesfähigkeiten in Zwiespalt mit dem Naturgrund gerathen,
in dem seine Kraft wurzelt. Er ist damit zu einer Halbheit, zu
einem Zwitterding geworden, das ersichtlich seine Erklärung und
Daseinsberechtigung nicht aus sich selber schöpfen kann,--? er ist
der verkörperte Uebergang zu Etwas, das noch nicht entdeckt, noch
nicht geschaffen ist, und als ein solcher Uebergang ist der Mensch das
krankhafteste,--»das noch nicht _festgestellte_ Thier.« (Jenseits von
Gut und Böse 62). So haftet der Decadenz-Charakter dem Menschenthum als
solchem an und nicht nur einer einzelnen Form, einem einzelnen Gebiet
desselben.
 
Wir finden demnach die ersten Anfänge der Decadenz, des Niederganges
ungebrochenen Lebens, schon im Entstehen aller Cultur,--da wo sich die
wilde Bestie Mensch, das »menschliche Raubthier«, durch den ersten
socialen Zwang in seiner ungezügelten Freiheit beengt fühlt. »Jene
furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen
die alten Instinkte der Freiheit schützte-- -- --brachten zu Wege,
dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich
rückwärts, sich _gegen den Menschen selbst_ wandten.« »Alle Instinkte,
welche sich nicht nach Aussen entladen, _wenden sich nach Innen_--
ist das, was ich die _Verinnerlichung_ des Menschen nenne: damit
wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine »Seele«
nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei
Häute eingespannt, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung
des Menschen _nach Aussen_ gehemmt worden ist.« »Der Mensch, der
sich, aus Mangel an äusseren Feinden und Widerständen, eingezwängt in
eine drückende Enge und Regelmässigkeit der Sitte, ungeduldig selbst
zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den
Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier,-- -- --. Mit
ihm aber war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von
welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des
Menschen--_an sich_: als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von
der thierischen Vergangenheit, einer Kriegserklärung gegen die alten
Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit
beruhte.« (Zur Genealogie der Moral II 16.)
 
Wenn dementsprechend die Krankhaftigkeit des Menschen gewissermaassen
sein Normalzustand, seine specifisch menschliche Natur selbst ist,
und die Begriffe Erkrankung und Entwicklung als nahezu identisch
gefasst werden, so müssen wir natürlich auch am _Ausgang_ einer
langen culturellen Entwicklung wieder der nämlichen Decadenz als
Resultat begegnen. Sie hat nur das Aussehen verändert. Es sind die
Zeiten langer friedlicher Gewöhnung, in denen sie in ihrer neuen Form
auftritt, Zeiten, in denen das strenge Zusammenhalten, die harte Zucht
und Unterordnung der Einzelnen nicht mehr als nothwendig erscheinen,
sondern die Mittel zu einer sorgloseren und volleren Selbstauslebung
reichlich vorhanden sind. Die starre Gleichförmigkeit, zu der durch
eine Jahrhunderte währende Schulung Alle herangezüchtet worden sind,
beginnt sich aufzulösen und dem Spiel des Individuellen Platz zu
machen. »Die Variation, sei es als Abartung (in's Höhere, Feinere,
Seltnere), sei es als Entartung und Monstrosität, ist plötzlich in der
grössten Fülle und Pracht auf dem Schauplatz, der Einzelne wagt einzeln
zu sein und sich abzuheben.« »Lauter neue Wozu's, lauter neue Womit's,
keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und Missachtung mit
einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die höchsten Begierden
schauerlich verknotet, das Genie der Rasse aus allen Füllhörnern des
Guten und Schlimmen überquellend, ein verhängnissvolles Zugleich von
Frühling und Herbst.« (Jenseits von Gut und Böse 262.)
 
Wenn in der zuerst geschilderten ursprünglichen Decadenzform die
Leidenschaften des Menschen sich gegen ihn selbst wenden, ihn bedrohen
und zerfleischen, weil er sich nicht nach Aussen hin entladen, nicht
wehren kann,--so gerathen sie jetzt aus dem entgegengesetzten Grunde
in einen gleichen Innenkrieg miteinander, weil keine Verhältnisse
mehr vorhanden sind, gegen die der Mensch sich zu wehren hätte,
nichts, was seine Kriegskraft nach Aussen hin abzuziehen vermöchte.
Im zahmen Frieden des geordneten Lebens hat der inzwischen so stark
verinnerlichte Mensch nur noch sich selbst zum Kampfplatz seiner
ungeberdigen Triebe. Sobald diese sich zu regen anfangen, beginnt er
wiederum, an sich zu leiden, »Dank den wild gegeneinander gewendeten,
gleichsam explodirenden Egoismen«, die sein überaus complicirt
gewordenes Wesen in sich begreift, und durch die es allmälig alle
Geschlossenheit der Persönlichkeit wieder einbüsst. In diesem Stadium
bildet der Mensch das Endglied einer einzigen ungeheuer langen
Entwicklungskette, deren einzelne Ringe ihm alle einverleibt sind,
als die Summe der gesammten allmälig angezüchteten intellektuellen,
moralischen und socialen »Menschlichkeit« nebst sämmtlichen nur allzu
lebendigen Instinkterinnerungen an die zurückliegende Thierheit.
 
Aber wenn diese beiden Formen der Decadenz mit Nothwendigkeit der
menschlichen Natur entspringen und unumgängliche Durchgangsphasen für
deren Weiterbildung zu etwas Höherem sind, so gibt es daneben noch eine
dritte Art der Decadenz, welche die geschilderten Krankheitszustände
unheilbar zu machen und die Möglichkeit einer Wiedergenesung zu
verhindern droht. Das ist die falsche Weltdeutung, die unrichtige
Lebensauffassung, die durch jenes Leiden und jene Krankheit gezeitigt
wird. Es ist die Aufforderung zur Askese in gleichviel welcher Form,
zur Abkehr vom Leben und seinen Schmerzen, zur Hingebung an die
Müdigkeit, die als Folge des immerwährenden »Krieges der man ist«
auftritt. Ein solches asketisches Ideal predigen nicht nur alle
Religionen und Moralen, sondern auch jeder Intellektualismus, der das
Denken auf Kosten des Lebens unterstützt und das Ideal der »Wahrheit«
dem Ideal einer möglichsten Lebenssteigerung entgegensetzt. Das wahre
Heilmittel für diese um sich greifende Corruption bestände gerade in
der vollen Hinwendung zum Leben, damit aus dem chaotischen Reichthum
durcheinander ringender Gegensätze eine neue höhere Gesundheit geboren
werde.
 
»Man ist nur _fruchtbar_ um den Preis, an Gegensätzen reich zu
sein (Götzen-Dämmerung V 3), vorausgesetzt, dass noch genügende
Kraft da ist, sie zu tragen, sie zu _ertragen_. Dann ist scheinbare
Auflösung und Decadenz, dann ist alle sogenannte Corruption »nur
ein Schimpfname für die Herbstzeiten«,--d. h. für die Zeiten der
abfallenden Blätter, aber auch der reifenden Früchte. Insofern kann
Decadenz und Fortschritt ein und dasselbe bedeuten: den Fortschritt dem
nothwendigen Ende zu,--»Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen
_Schritt für Schritt weiter in der décadence_.-- -- --Man kann diese
Entwicklung _hemmen_ und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen,
aufsammeln, vehementer und _plötzlicher_ machen: mehr kann man nicht.«
(Götzen-Dämmerung IX 43.) Ein solches Ende, eine solche tragische
Verknüpfung von vorwärts und niederwärts wird dadurch erklärt, dass der
Mensch nicht in sich selbst seine Erfüllung findet, sondern über sich
selbst hinaus drängt nach etwas Höherem, als er ist. Es ist »mit der
Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten, -- --Thierseele auf Erden
etwas so Neues, Tiefes,-- --Widerspruchsvolles und _Zukunftsvolles_
gegeben«,--dass daraus die Zuversicht auf eine mögliche, neue Über-Art
des Menschlichen geschöpft werden kann. Es ist, als ob sich damit
»Etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel,
sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses
Versprechen sei.« (Zur Genealogie der Moral II 16.) »Der Mensch ist ein
Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch,--ein Seil über einem
Abgrunde.-- --Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke
und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass
er ein _Übergang_ und ein _Untergang_ ist.« (Also sprach Zarathustra
I 12.) Die Decadenzerscheinungen können daher der Menschheit zu
Zeiten des hereinbrechenden Unterganges und der sich ankündigenden
Neugeburt ebenso wenig erspart bleiben als »einem schwangeren Weibe die
Widerlichkeiten und Wunderlichkeiten der Schwangerschaft: »-- -- --als
welche man vergessen muss, um sich des Kindes zu freuen.«
 
Die Einsicht in die durchgängige »Allzumenschlichkeit« der Triebe,
die Nietzsche früher so stark betont hatte, wird hier also nicht
aufgegeben, sondern noch möglichst _verschärft_ und zum Ausgangspunkt
seiner neuen Menschheitstheorie genommen. Aus einer verstandeskalten
Einsicht hat sie sich ihm zu einem _Gemüthsaffekt_ gesteigert, und
als solcher gewinnt sie eine so ungeheure Bedeutung, dass sie alle
seine Seelen- und Gedankenkräfte aufwühlt, bis ihm in Zorn, Gram
und Entsetzen neue »Flügel und quellenahnende Kräfte« (Also sprach
Zarathustra III 77) wachsen, mit denen er sich über sie erhebt.
Aus dem _Accent_, den er auf seine ehemalige Einsicht legt, aus
den äussersten Consequenzen, die er aus ihr zieht, quillt ihm die
übermächtige Sehnsucht nach seiner neuen Theorie, nach dem Gedanken
einer Selbstopferung des Allzumenschlichen für das Uebermenschliche.
 
Wie sich in dem erkenntnisstheoretischen Theile von Nietzsches
neuer Lehre die Abhängigkeit des Logischen vom Seelischen, des
Gedankenlebens vom Gemüthsleben wiederspiegelt, so tritt uns in jenem
Menschheitsbilde einer leidenden Ueberfülle zum Zweck einer Neugeburt
die Erklärung seines eigenen Wesens entgegen: die Selbstopferung
durcheinanderringender Triebe zur Entbindung höchster Schaffenskraft.
Aus dem tiefen, ihm stets gegenwärtigen Gefühl eigener Krankhaftigkeit,
eigenen Leidens ist seine Decadenzlehre hervorgegangen. Auch von ihr
gilt, was von allen Theorien seiner letzten Philosophie gilt: die
schmerzlichen psychischen Vorgänge, die bei ihm bisher die _Ursache_
und _Begleiterscheinung_ der verschiedenen Erkenntnissprocesse waren, werden nunmehr zum _Erkenntniss_-inhalt selbst.

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